Von der Überwachung zur Achtsamkeit
Sollten Sie je Ihr Smartphone oder sonstige Gerätschaften zum sogenannten Self-Tracking verwendet haben, um Ihren Schlaf, die Kalorienaufnahme, Ihre Schritte oder Ihren Puls zu überwachen beziehungsweise zu zählen, also zu »tracken«, dann gehören Sie, ob es Ihnen bewusst ist oder nicht, zu einer weltumspannenden Bewegung, die sich »Quantified Self« (QS) nennt. Hier sind Leute gemeint, die mit irgendwelchen technischen Mitteln ihr Leben vermessen und die so gewonnenen Informationen dann verarbeiten. Man geht davon aus, dass diese Informationen insofern sinnvoll sind, als sie uns zu besseren Entscheidungen über unser Leben führen können.
Chris Dancy aus Tennessee ist eine der Galionsfiguren der Quantified-Self-Bewegung. Chris ist Extremtracker, die Presse hat ihn schon mal als den angeklemmtesten Bewohner dieser Erde bezeichnet. Er hat Systeme ersonnen, die Zehntausende verschiedene Parameter aus allen Bereichen seines Lebens abgreifen und tracken können, und man darf davon ausgehen, dass er jederzeit mindestens fünfzehnhundert dieser Parameter messen und analysieren lässt. Und Sie klagen über Informationsflut?
Schon bald nach der Aufnahme seines Voll-Trackings verzeichnete Chris die ersten Nutzeffekte seiner umfassenden Selbstüberwachung. Er sah die Verbindungen zwischen seinem Verhalten und dem Grad seines Wohlbefindens und konnte auf diesem Wege nicht nur abnehmen, sondern auch seine Stimmungslage besser steuern. Nach drei Jahren beschlich ihn jedoch das Gefühl, dass das alles ein bisschen zu weit ging: »Deinen Namen zu googeln mag noch irgendwie hingehen. Aber wenn du dein ganzes Leben googeln kannst, hältst du irgendwann nicht mehr mit. Es kann nicht sinnvoll sein, dass man sein eigenes Leben ständig durchblättert und jede Gefühlsregung fixiert und markiert.« Es kam so weit, dass er an seinen Daten schon ablesen konnte, wann die nächste Depression anstand. Nein, so ging es nicht mehr. Er hörte aber nicht auf zu tracken. Er nahm die Achtsamkeit hinzu.
»Diese Stille. Im digitalen Bereich bedeutet Stille meist, dass etwas kaputt ist. Aber wir brauchen Stille, um überhaupt Menschen zu sein. Wir brauchen die Unterbrechungen, die Lücken. Wir haben diese Technologie erschaffen, aber sie fördert uns nicht in unserem Menschsein, sondern birgt die Gefahr, dass wir nur noch ihr dienen.«
Achtsamkeit, mit einiger Stetigkeit geübt, gibt uns die Klarheit, mit der wir Verbindungen erkennen können. Was Chris an Technik einsetzt, versorgt ihn mit Informationen, die er laufend analysieren kann, um daraus langfristig sinnvolle Veränderungen in seinem Leben abzuleiten. Er braucht aber, wie er selbst sagt, die durch seine Meditation aufgebaute Stabilität, um wirklich etwas mit dieser Informationsflut anfangen zu können. Inzwischen ist die Integration der Technik in sein Leben etwas so Natürliches für ihn geworden, dass er sich als »achtsamen Cyborg« bezeichnet.
Das mag alles ein bisschen weitab von der Norm liegen, aber Chris hält für uns alle, die wir ein ausgewogenes digitales Leben anstreben, einen Rat bereit: Meide den digitalen Dualismus. Mit dem von Nathan Jurgenson geprägten Begriff des digitalen Dualismus umschreiben wird das, was wir als den Unterschied oder Gegensatz zwischen online und offline sehen, zwischen der sogenannten virtuellen und der sogenannten realen Welt. Tatsächlich, so Chris Dancy, ist das alles »einfach Leben. Mit dieser dualistischen Betrachtungsweise lassen wir eine Kluft zwischen Mensch und Maschine entstehen, wo es doch eigentlich um immer mehr Ganzheit gehen sollte.«
Das sehe ich auch so. Strenge Grenzziehungen zwischen online und offline oder digital und real sind höchst problematisch. Zunächst einmal ist unser Leben einfach nicht so: Sobald wir unser Smartphone in die Tasche stecken, verschwindet der Unterschied zwischen online und offline. Überhaupt wird die Unterscheidung zunehmend bedeutungslos, da immer mehr alltägliche Gebrauchsgegenstände, vom Auto bis zum Kühlschrank, ans Internet angeschlossen sind.
Ein Beharren auf dem digitalen Dualismus hat aber noch eine andere und gefährlichere Konsequenz: Es schürt Konflikte. Ich habe aus meiner jahrelangen Erfahrung mit Meditation gelernt, dass jede Trennungslinie Konflikte nach sich zieht. Schon wenn wir »virtuell« und »real« gegeneinanderhalten, stellt das ein gewaltiges Werturteil dar. Millionen Menschen überall auf der Welt empfinden den Austausch über digitale Kanäle als sehr sinnvoll. Soll man ihnen sagen, das sei nicht real, nicht echt? Nein, das glaube ich nicht. Aber dieses Problem wird sich zum Glück mit der Zeit von selbst lösen. Vielen ist die digitale Welt heute noch fremd und unheimlich, doch das wird sich ändern.
Die Gefahren des digitalen Dualismus waren mir beim Schreiben dieses Buchs deutlich bewusst. Deshalb stelle ich die digitale Technik nicht als Sonderthema dar (auch wenn sie dem Charakter des Buchs entsprechend breiten Raum einnimmt), sondern als Bestandteil des modernen Lebens. Der Umgang mit den verschiedenen Aspekten unseres vernetzten Lebens zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. In einem Buch über mobile Achtsamkeit wäre es ein Fehler, unser digitales Leben als Sonderthema abzuhandeln. Dadurch würden wir nur weitere Grenzen ziehen, und die haben wir wahrlich schon genug.
Im Gespräch mit Chris Dancy fand ich es besonders spannend, einmal der Frage nachzugehen, wie wir aus unserem täglichen Umgang mit der Technik verlässlichen Nutzen ziehen können. Für ihn ist klar, dass sich uns jetzt die Chance bietet, Information und Technik so in den Dienst unseres Wohlergehens zu stellen, dass sie uns als Menschen weiterbringen. In seinen Augen ist die Verwandlung der Technik von etwas Fremdem in etwas Förderndes so etwas wie die Ablösung von Big Brother durch Big Mother, und das führt uns zu dritten Regel der mobilen Achtsamkeit.
Dritte Regel: Technik soll zur Lösung beitragen, nicht das Problem verschärfen
Meditationslehrer lehren das, was sie wissen. Wenn Achtsamkeit und Technik vielfach noch als Gegensatz gesehen werden, liegt das auch daran, dass die Generation von Lehrern, der wir die Einführung der Achtsamkeitspraxis im Westen und auch ihre rasante Entwicklung verdanken, nicht digital aufgewachsen ist. Viele der einflussreichen Lehrer dieser Generation sind heute fünfzig, sechzig und älter und haben sich erst spät, falls überhaupt, mit der digitalen Kultur vertraut gemacht, die für die jetzige Jugend selbstverständlicher Mainstream ist. Zudem kommen viele von ihnen aus der Hippie-Bewegung, die zwar nicht direkt technikfeindlich war, aber deutliche Vorbehalte hatte.
Da wir nun aber dieser Generation von Lehrern die Achtsamkeitspraxis verdanken, ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil der digitalen Revolution in den letzten fünfzehn Jahren mit all ihren technischen Neuerungen von manchen zum Feindbild aufgebaut wird, als liefe diese Entwicklung der natürlichen Ordnung der Dinge zuwider. Damit sind natürlich nicht die Steuerungssysteme für den Verkehrsfluss oder für den Warenfluss im Supermarkt gemeint, sondern die Technikkritik bezieht sich in erster Linie auf die Apparaturen zur persönlichen mobilen Vernetzung. Eine durchaus populäre Sicht der Dinge läuft darauf hinaus, dass wir uns der Informationsüberflutung am besten durch Flucht entziehen. Wenn Achtsamkeit angesagt ist, muss das Handy ausgeschaltet werden. Es gibt auch den Gedanken des digitalen Fastens, zu dem wir alle unsere Gerätschaften einen Tag oder eine Woche lang ausschalten. Vielleicht legen wir sogar ein Entschlackungswochenende ein, richtig hip: Zusammen mit anderen im Wald mit Sägen und anderen echten Werkzeugen werkeln. Handys vorher abgeben.
Dagegen ist nichts einzuwenden. Zeiten der Abstinenz können von großem Wert sein. Wir nehmen dadurch einen anderen Blickwinkel ein und beschäftigen uns mit Dingen, zu denen wir sonst vielleicht nicht kämen. Doch das ist natürlich nur eine Seite der Sache.
Die Ausdrücke »digitale Entschlackung« und »digital Detox« mag ich gar nicht, denn sie gehen davon aus, dass unsere digitale Technik giftig ist. Aber diese Technologie trägt unsere Wirtschaft und weite Bereiche des modernen Lebens, und wenn wir sie weiterhin als krankhaft hinstellen, werden wir uns als Einzelne und als Gesellschaft vermutlich sehr schwertun. Das ist eine ziemlich kurzsichtige Lösung.
Historisch hat der Retreat-Gedanke, also die Vorstellung, sich für eine gewisse Zeit zurückzuziehen, einen hohen Stellenwert für die Achtsamkeitspraxis. Daher ist es verständlich, dass angesichts der Herausforderungen des digitalen Lebens zu Verzicht, Flucht und Entschlackung geraten wird. Sicher, Urlaub ist schön, aber wir können nicht immer Urlaub haben. Und ist Ihnen schon aufgefallen, dass ein ausgeschaltetes Handy doch nicht ganz aus ist? Wir wissen, dass neue Nachrichten auflaufen, dass unsere Freunde Messages posten, die wir verpassen. Das setzt viele von uns unter Erwartungsspannung. Wir leben in einer Welt, die keine richtigen Aus-Schalter mehr hat. Stummschaltung ist nicht wirklich stumm.
Mobile Achtsamkeit gibt uns die Chance, dieses Gegensatzdenken hinter uns zu lassen, für das digitale Technik entweder an oder aus, entweder eine Kraft des Guten oder für alle Fehlentwicklungen in der Welt verantwortlich ist. Es ist die Chance, unsere Beziehung zum digitalen Leben von Grund auf zu ändern und die Kräfte der Technik für unser Innenleben zu nutzen. Seit etwa zehn Jahren erfreuen sich technische Hilfsmittel wie Workout-Apps und Activity-Tracker zur Förderung unserer Fitness und Gesundheit zunehmender Beliebtheit. Der nächste Schritt – und das ist das Anliegen dieses Buchs – wird in der Einbindung...