Kapitel 1
VORBEREITUNG
Nach dreijähriger Abwesenheit bin ich wieder in den Schweizer Alpen, und es sieht aus, als wäre alles mehr oder weniger so wie vorher. Und ich – die Abenteurerin, Frau, Gefährtin, Tochter, Schwester, Vortragsreisende, Freundin – kehre wieder an meinen Platz zurück. Mein Alltag ist überraschend, ja sogar aufregend. Ich bin ein wenig in der »Wiedereingliederungsphase« in mein früheres Leben, aber die Dinge haben sich verändert. Eigentlich ist gar nichts mehr wie früher. Als Allererstes: Ich habe drei Jahre voll turbulenter Abenteuer überlebt. Und glauben Sie mir, das war nicht immer selbstverständlich.
Heute finde ich in keinen Rhythmus, während ich versuche, die Sätze, die mir durch den Kopf wirbeln, getreu zu Papier zu bringen. Die Erinnerung kommt nur bruchstückweise. Ich habe den Eindruck, mein Wesen sträubt sich dagegen, sich zu erinnern. Ich bin wohl für immer gezeichnet von den feindseligen Regionen, die ich, als Mann verkleidet, allein mit Muskelkraft durchquert habe. In vielen Nächten habe ich mich in meinem Zelt zur Ruhe gelegt, während draußen Gefahren lauerten. Ich wandte mich dann an meinen »Schutzengel« und bat ihn, über mich zu wachen. Ich zwang mich in solchen Momenten, nur an Positives zu denken und negative Gedanken überhaupt nicht zuzulassen. Das war meine einzige Waffe. Noch heute verschmelze ich wie ein wildes Tier mit der Landschaft, so wie ich es in den letzten drei Jahren gemacht habe. In meinen alltäglichen Verrichtungen kommen immer wieder Überlebensinstinkte zum Vorschein. Wie ein großes Tattoo haben sich diese drei Jahre in meinen Körper, in meine Seele, in mein Herz gebrannt. Ich kann es nicht einfach wegwischen oder verbergen … Das bin jetzt ich.
Hier ist alles so bequem. Das Wasser kommt aus der Leitung, der Kühlschrank ist voller Leckereien, und ich habe sogar eine Kaffeemaschine. Schon schaue ich von meinem Text auf und steuere auf sie zu, um sie zum Fauchen zu bringen.
Vor dem Aufbruch …
Ich wollte bei meinem Marsch allein sein, aber nicht nur das. Meine Mission war wesentlich ernsthafter und zugleich einzigartig.
Ein unbeschreibliches Gefühl machte sich in mir breit, als der Moment der Abreise allmählich immer näher rückte. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass mein Vorhaben die einzige Möglichkeit war, diesem Feuer, das in meinem Innersten glühte, treu zu bleiben. Ich spürte, wie es schwächer wurde, wie die Flamme nachließ … Es war an der Zeit, mich auf die Suche nach Brennholz zu machen, mit dem ich das Feuer meines Lebens erneut entfachen konnte.
Und so brach ich wieder auf. Zu Fuß. Das war für mich selbstverständlich … Und natürlich lief ich wieder allein.
Missverstehen Sie mich nicht. Ich bin nicht eines Tages in ein Flugzeug gehüpft und habe gesagt: »Cool, ich werde jetzt mal eben die Welt von Norden nach Süden zu Fuß durchqueren!«
Mit viel Entschlusskraft und Energie musste dafür ein richtiges Unternehmen auf die Beine gestellt werden, und zwar bereits lange vor dem ersten Schritt. Ich brauchte ein Team, auf das ich mich verlassen konnte, und als Erstes musste ich einen Expeditionsleiter finden. Bei meinen vorherigen beiden Expeditionen war mein Bruder Joël an meiner Seite gewesen. Und seine Lebensgefährtin Sabrina hatte sich um die Logistik für meine Expedition durch die Anden gekümmert. All das hatten wir bei einem Kaffee geplant, ohne uns groß die Köpfe zu zerbrechen, unter viel Gelächter und absolut ohne Reibereien, in dem Wissen, dass wir unsere Arbeit dennoch gut und mit Liebe machten. Nach meiner letzten Expedition hat Joël allerdings seine Zelte bei seiner Lebensgefährtin und ihrer gemeinsamen Tochter aufgeschlagen. Er hat sein eigenes Unternehmen1 in den Bergen gegründet und investiert seine ganze Zeit in die neue Firma. Ich wusste also, dass diese Expedition ohne ihn stattfinden würde.
Zwanzig Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet haben mich gelehrt, dass man unbedingt alles vorhersehen sollte, was man gemeinhin »Probleme« nennt. Ich habe mir daher in jedem Land, das ich durchqueren wollte, jemanden gesucht, der die englische Sprache beherrschte und im Notfall eine Rückreise organisieren, mit den lokalen Behörden reden und sich um Visa und Ähnliches kümmern konnte.
Wenn man von Vorbereitungen spricht, muss man die Komplexität des Projekts im Auge behalten. Im Klartext: sechs Länder, durch die meine Reise gehen würde, unterschiedliche Klimazonen und Gegenden, vom Dschungel bis zur Wüste, von kalt bis heiß, von Schnee bis Sand. Und wie gewohnt würde ich nicht ohne meine guten alten topografischen Landkarten aus Papier aufbrechen, die in meinen Augen so wichtig sind. Mein neuer Expeditionsleiter schlug mir allerdings digitale Karten vor, die den Vorteil hätten, dass sie wesentlich leichter wären. Eine Idee, die man im Hinterkopf behalten sollte, vielleicht für einen Plan B.
All diese Operationen verursachen Kosten, die man bestimmen und kalkulieren muss, um dann zum nächsten Schritt überzugehen: der Suche nach Partnern, die sich an meiner Expedition – die ich inzwischen »ExplorAsia« getauft hatte – beteiligen würden. Parallel dazu musste ich mich körperlich fit machen mit einem entsprechend angepassten und intensiven Training, vor allem zur Steigerung meiner Ausdauerleistung.
Dies ist die Zusammenfassung von zwei Jahren Vorbereitung. Ich habe den Motor für dieses Riesenunternehmen ganz allein angeworfen. Nach und nach sind die ersten konkreten Zusagen eingetroffen und liebe, manchmal auch weniger liebe Menschen dazugestoßen. Ich konnte nun von der Planungsphase zur operativen Phase meiner Expedition übergehen.
Vevey (Schweiz), Juni 2010, eine Woche vor der Abreise
Es ist erst drei Uhr nachmittags, aber ich bin erschöpft, lege mich zu meinem Hund und teile das Lager mit ihm. Ich bin traurig, denn ich muss ihn in der Schweiz zurücklassen. Jedes Mal, wenn mein Blick auf seinem ungezähmten, rot, weiß und eisgrau gefleckten Fell ruht, habe ich den Geruch von Australien in der Nase, er erinnert mich an unsere verrückten Abenteuer, die wir dort erlebt haben. Das Feuer, bei dem er mir das Leben gerettet hat, unsere langen Tage ohne etwas zu essen, unsere Touren durch viel zu heiße Wüsten, unsere Nachtmärsche, als er eigentlich nur noch schlafen wollte …
D’Joe ist, betrachtet man die Hunderasse, mit dem Dingo am nächsten verwandt. Er ist ein Red Heeler, ein australischer Hütehund. Ich habe ihm auf einer Farm das Leben gerettet, als er ungefähr sieben Jahre alt war.
Das war bei meiner Expedition durch Australien von 2002 bis 2003, als ich 14000 Kilometer durch die entlegensten Gebiete dieses Kontinents marschierte, 10000 Kilometer davon in seiner Begleitung. Am Tag unserer Begegnung habe ich ihm eine Art Rucksack gebastelt, und seither ist er Teil meines Lebens. Von da an haben wir alles geteilt. Daher war es selbstverständlich, dass D’Joe im Winter 2003 nach einem außergewöhnlichen Flug Schweizer Boden betreten hat. Da ich keinen Cent mehr hatte, musste ich die Leute, die mich seit Beginn meiner Expedition unterstützt hatten, bitten, die Transport- und Quarantänekosten für meinen treuen Freund zu übernehmen. Ich kann Euch nicht genug für Eure Großzügigkeit danken, Euch allen, die Ihr dazu beigetragen habt, meinen D’Joe in seine neue Heimat zu bringen …
Mein Herz krampft sich zusammen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich D’Joe bei meiner Rückkehr nicht wiedersehen werde. Ich habe mich um alles gekümmert, von Tierarztterminen bis zu osteopathischen Behandlungen seiner schmerzenden Hinterpfoten. Ich werde in meinem Zimmer meinen Geruch mithilfe getragener Kleidung hinterlassen, damit er keinen Stress empfindet und meine Gegenwart zumindest noch ein paar Monate spüren wird. Ich bin traurig.
Acht Tage vor meiner Abreise ist mein acht mal vier Meter großes Wohnzimmer mit Ausrüstung vollgestellt. Es gibt nirgendwo auch nur zehn Zentimeter, die nicht mit Material bedeckt sind, und die Stapel türmen sich. Ich habe für jedes meiner (hypothetischen) Bedürfnisse vorgesorgt. Dabei hat mir der Yosemite-Shop in Lausanne geholfen, unter anderem hat er die Logistik der Bestellungen übernommen. Ganze Vormittage habe ich mit Alain und Sabrina verbracht, die mir bei der Auswahl all dieses Materials eine wertvolle Hilfe waren. Meine größte Sorge galt der Auswahl meiner Schuhe. Da die Firma Raichle nicht mehr die Schuhe herstellt, die ich all die vergangenen Jahre benutzt habe, musste ich die Marke wechseln. Das gute alte Schweizer Traditionshaus war aufgekauft worden, und mein Lieblingsmodell ist aus den Katalogen verschwunden. Hoffen wir mal, dass meine Füße die neuen Schuhe der Marke Sportiva lieben werden, ich habe acht Paar davon gekauft.
Während dieser letzten Woche schlafe ich nur ein paar Stunden. Ich empfinde eine Mischung aus Freude und Niedergeschlagenheit. Schweren Herzens betrachte ich meinen Hund, der sich auf diesem Vorratslager aus Campingkochern und dicken Winterjacken mitten im Wohnzimmer niedergelassen hat. Stumm sagt er mir: »Geh nicht weg … bitte!«, mit Augen, die noch trauriger sind als meine.
Aber dann schnallt sich meine Mutter, die ins Basislager von Vevey gekommen ist, um mitzuhelfen, meinen Rucksack um, der viel zu groß ist für sie, und schiebt meinen Handwagen vor sich her. Unser Gelächter vermischt sich, die Spannung löst sich. Währenddessen überprüft Gregory, der Expeditionsleiter, im Garten, ob die Verbindung des Satellitentelefons mit dem Sonnenpanel gut funktioniert.
Eine Frau...