Meine erste Lektion: Auf dem Schiff bestimmt der Käpt’n (Nicki)
Wie in einem Düsseldorfer Lokal alles anfing
Endlich hatte ich Feierabend. Mein Arbeitstag war wieder ziemlich anstrengend, und ich wollte schon längst in meiner Wohnung sein. Jetzt aber, am späten Nachmittag, fand ich das Wetter zum Nachhausegehen dann doch zu gut. Es war nicht so heiß, wie es hier in Düsseldorf manchmal sein konnte, wenn die Luft über dem Rhein stand und kein Wind von Westen her für Abkühlung sorgte. Stattdessen fühlte es sich draußen einfach nur angenehm an, fast schon mediterran, passend zu den Yucca-Palmen vor den Straßencafés, die hier zu meinem großen Erstaunen – anders als bei mir daheim im Saarland – wegen des milden Klimas prima wachsen konnten. Seit zwei Jahren lebte ich nun schon hier, aber Heimweh nach meiner Familie hatte ich trotzdem sehr häufig. Mein Leben in der vermeintlichen Mode- und Glamour-Metropole bestand fast nur aus Arbeit, weshalb ich auch kaum andere Leute kennenlernte. Ich war kurz davor, wieder in die beschauliche Provinz zurückzugehen, denn im Grunde hielt mich in dieser Stadt nichts.
Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich in der Immobiliensparte eines großen Handelskonzerns als Asset Managerin, wie es neudeutsch hieß. Das bedeutete, dass ich persönlich für den Werterhalt und die Wertsteigerung zahlreicher Objekte zuständig war, die dem Konzern überall in Deutschland gehörten. Dadurch war ich oft kreuz und quer in der ganzen Bundesrepublik unterwegs, um neue Flächen zu besichtigen, Termine mit Mietern wahrzunehmen und Behördengänge zu absolvieren. Eigentlich war der Job sehr interessant und füllte mich aus, was leider aber auch genauso für meinen Terminkalender galt. Außerdem musste ich für meine Kunden permanent erreichbar sein. Und so klingelte an etlichen Tagen mein Handy von früh bis spät und manchmal auch noch mitten in der Nacht.
Ich hätte nun zur Ablenkung ein bisschen bummeln gehen können, vielleicht mal wieder die berühmte »Kö« entlang und schauen, was es in den Boutiquen dort Neues gab, bei Eickhoff oder Prange zum Beispiel, wo man sich dem Geldbeutel zuliebe nur ganz selten etwas leisten sollte, wenn überhaupt. Oder mich ins »Bazzar« setzen, einem schicken Hotspot in der City, um den vielen Chefarztgattinnen und Rechtsanwaltsfrauen dabei zuzusehen, wie sie sich vom Power-Shoppen mit den Kreditkarten ihrer Männer oder ihrer Geliebten oder von beiden erholten. Aber ich entschied mich dafür, ausnahmsweise im »Poccino« vorbeizuschauen, einer Düsseldorfer Institution in den Schadow Arcaden, wo man auf einer riesigen Terrasse hervorragend italienisch essen konnte – oder sich einfach nur an einen Stehtisch stellen, um einen Espresso zu trinken, dessen Zubereitung man hier wirklich sehr ernst nahm. Und genau darauf hatte ich jetzt Lust: auf einen kleinen, starken, schwarzen Kaffee. Vielleicht würde mir der wieder ein wenig Energie verschaffen nach dem ganzen Stress bisher in dieser Woche.
Ich setzte mich also auf einen Barhocker, nippte am Espresso und schaute gedankenverloren ins Leere. Der Laden war leer, was hier zwar selten vorkam, um diese Zeit jedoch wiederum kein Wunder war, denn die meisten Gäste kamen entweder in der Mittagspause oder nach Feierabend und nicht mitten am Nachmittag. Die Ruhe um mich herum war mir allerdings ganz recht. Dadurch war ich wenigstens ungestört. Ich hatte gerade auch so genug um die Ohren. Wenn ich jetzt gerade etwas nicht brauchen konnte, dann war das irgendein Small Talk, den mir jemand jetzt aufs Auge drückte.
»Darf ich mich zu dir stellen?«
Ich hatte den Typen gar nicht kommen sehen, und insofern erschrak ich ein bisschen, denn ich rechnete in diesem Moment nun wirklich nicht damit, dass mich jemand ansprach. Ich war geschafft, hatte meine Büroklamotten an und machte ganz sicher nicht den Eindruck, als wartete ich auf jemanden. Vielleicht verwechselte er mich ja auch einfach nur.
»Darf ich mich zu dir stellen? Die anderen Tische sind mir zu voll.«
Ich schaute mich um. Ganz offensichtlich meinte er tatsächlich mich, was ich etwas frech fand. Erstens kannte ich diesen Mann gar nicht. Und zweitens waren die meisten anderen Tische nicht nur nicht »voll«. Sie waren vielmehr vollkommen frei, und er hätte sich selbstverständlich was weiß ich wohin stellen oder setzen können – es gab jedenfalls ausreichend Platz um mich herum. Das Einzige, was mich davon abhielt, dem Kerl umgehend zu erklären, dass er mich bitte schön in Ruhe lassen soll, war seine Stimme, denn die klang im Prinzip ganz nett. Ich blickte also von meinem Espresso auf und sah einen sehr großen, sehr kräftig gebauten Mann mit breiten Schultern und einer martialisch wirkenden Glatze. Und ich sah: ein Lächeln.
Es war ein nettes, charmantes, gewinnendes Lächeln. Kein aufgesetztes und überhebliches Grinsen, wie man es als junge Frau leider auch und gerade hier in Düsseldorf durchaus des Öfteren beobachten konnte, wenn die zahlreichen sich nach außen gerne sehr wohlhabend und erfolgreich gebenden Herren der Schöpfung Wochenende für Wochenende auf plumpe Eroberungstour gingen und sich Frischfleisch für die Nacht suchten. Bei solchen Gestalten wusste man nie, wie viel Schein und wie viel Sein hinter der Fassade steckte. Ich konnte mir nicht genau erklären warum, aber ich hatte den Eindruck, dass das hier anders war, und lächelte zurück. Das war offenbar das Zeichen für ihn, sich an meinem Tisch häuslich einzurichten.
»Ich bin Alex«, sagte er, während er sich setzte.
»Und ich bin Nicki«, sagte ich leicht irritiert. Ich war gespannt, was er mir zu sagen hatte.
So kamen wir das allererste Mal ins Gespräch. Wobei: Die meiste Zeit redete er, und ich kann mich gar nicht mehr im Detail daran erinnern, worüber wir alles sprachen an diesem sonnigen Spätnachmittag, der immer mehr zum Abend wurde. Aber ich weiß noch sehr genau, dass dieser vorlaute Alex ganz und gar keinen Mist redete. Im Gegenteil: Alles, was er erzählte, hatte Hand und Fuß und machte auf mich irgendwie Eindruck. Und das wollte etwas heißen: Ich hielt mich nämlich grundsätzlich für einen schüchternen, zurückhaltenden Menschen, der Unbekannten für gewöhnlich äußerst skeptisch gegenübertrat. Insofern war mir so etwas erst recht noch nie passiert: dass mich ein Fremder einfach von der Seite ansprach und ich mich trotzdem bereits nach einer halben Stunde fühlte, als würden wir uns schon länger kennen. Dieser forsche, attraktive und sehr selbstbewusste Mann war auf eine erfreuliche und zugleich geheimnisvolle Weise interessant. Ich bemerkte gar nicht, wie schnell die Zeit im »Poccino« verging. Dennoch: Nach ein paar Stunden, die wir uns über Gott und die Welt unterhielten und viel lachten, war für mich vollkommen klar, dass ich nun alleine nach Hause ging. Erstens war ich, wie gesagt, übervorsichtig, was Männer im Allgemeinen betraf. Und zweitens wusste man ja trotzdem nie, ob sich hinter der sympathischen Fassade nicht doch ein Wolf im Schafspelz verbarg.
»Wir sehen uns am Freitag«, sagte Alex zum Abschied, und er hatte mich seltsamerweise gar nicht gefragt, ob ich da überhaupt Zeit und Lust auf ein Wiedersehen hatte. Für ihn schien bereits ausgemacht zu sein, dass wir uns zwei Tage später das nächste Mal treffen würden. Ich wusste nicht, ob ich diese Entschlossenheit als Kompliment oder als Unverschämtheit deuten sollte, aber andererseits fühlte ich mich dadurch tatsächlich ein wenig geschmeichelt. Dieser Mann passte in keines meiner Raster, und er hatte recht klare Ansichten von dem, was er wollte. Das zumindest war schon mal unstrittig. Ich fand diesen Alex einigermaßen aufregend, deshalb sagte ich zu – ohne lange zu überlegen und ohne zu wissen, was mich erwarten würde.
Was mich dann am übernächsten Tag tatsächlich erwartete, sprengte meine bisherigen Vorstellungen von einem Date. Meine neue Bekanntschaft hatte nicht vor, mich womöglich am Abend in die Deutsche Oper oder das Schauspielhaus auszuführen, um seine Weltläufigkeit unter Beweis zu stellen. Er hatte auch keinen Bock darauf, mich zu einem romantischen Dinner in einem teuren Lokal einzuladen und hinterher einen Absacker in einer der zahlreichen Szene-Bars zu trinken, um einen auf dicke Hose zu machen. Erst recht nicht wollte er ins Kino gehen wie ein verliebter Teenager, wo gerade die Musicalverfilmung »Mamma Mia« groß abräumte. Er machte also nicht das, was andere Männer für gewöhnlich anstellten, wenn sie eine unbekannte Frau für sich gewinnen wollten. Nein, Alex nahm mich mit in den Düsseldorfer Jachtclub!
Nicht nur, dass ich keinerlei Ahnung von Booten hatte. Bis dahin wusste ich nicht einmal, dass es in Düsseldorf so etwas wie einen Jachtclub gab – wozu auch? Die Stadt lag am Rhein, klar, aber bei dem Begriff »Jachtclub« hatte ich bis dato an azurblaues Wasser gedacht, an den typischen, leicht salzigen Geruch in der Luft, an eine sanfte Brise, an Sonnenuntergänge am fernen Horizont oder an schneeweiße Segelschiffe, die vor einer malerischen Mittelmeerkulisse vor Anker lagen.
Der Jachtclub Düsseldorf e.V. dagegen befand sich, wie ich an besagtem Freitag feststellte, exakt bei Stromkilometer 747 in Golzheim. Das Clubhaus sah rein äußerlich aus wie eine Fabrikantenvilla aus den frühen siebziger Jahren, mit weißem Rauputz, einem braunen Ziegeldach und einem großen Schornstein an der Seite. Nebenan gab es eine kleine Halle für Reparaturen. Im leicht brackigen Flusswasser befanden sich knapp siebzig Liegeplätze, wovon aber nur die Hälfte für halbwegs größere Boote geeignet waren. Das Hafenbecken selbst wirkte in seiner grünen, hügeligen Umgebung ein wenig, als befände sich die...