1 Der Flaschenzug
Schon in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte war die Überwindung der Begrenztheit menschlicher Kraft eine der großen Herausforderungen. Vor über 2000 Jahren entdeckten die Menschen eine technische Lösung, um selbst tonnenschwere Gegenstände, wie z. B. große Steinblöcke, mit Menschenkraft anzuheben.
Abb. 1–1 Kuppel des Doms von Florenz, Zeichnung von Filippo Brunelleschi (um 1419)
In einer Zeit, in der als Kraftquelle nur die Muskelkraft von Mensch und Tier zur Verfügung stand, war die Entdeckung einer Mechanik, mit der es gelang, die Kraftwirkung zu vergrößern, von größter Bedeutung. Neben dem Hebelgesetz, das bereits in der Antike von dem griechischen Mathematiker und Physiker Archimedes von Syrakus (287–212 v. Chr.) aufgestellt wurde und die Grundlage der Mechanik bildet, revolutionierte die Erfindung des Flaschenzugs die Bautechnik. Mit Flaschenzügen gelangen in der Antike und Renaissance architektonische Leistungen wie das Colosseum in Rom oder die Kuppel des Florenzer Doms von Filippo Brunelleschi (1377–1446), bis heute beeindruckende Meisterwerke.
Die Funktion eines Flaschenzugs – dessen Bezeichnung übrigens nichts mit Gefäßen für Flüssigkeiten zu tun hat, sondern von den Rollenhalterungen stammt, die dieselbe Bezeichnung trugen – ist schnell erklärt. Die für eine bestimmte Hubarbeit – das Anheben eines bestimmten Gewichts um eine definierte Höhe – erforderliche Kraft lässt sich über die Länge des zu überwindenden Hubwegs steuern, da die Hubarbeit als Produkt aus Kraft und Weg berechnet wird: Mit einem längeren Hubweg benötigt man weniger Kraft für dieselbe Hubarbeit.
Ein Flaschenzug verlängert nun künstlich den Hubweg, genauer: die Länge des für die Leistung der Hubarbeit aufzuwickelnden Zugseils. Damit ist weniger Kraft für die Hubarbeit erforderlich. Der Preis, den man für diese »Kraftverstärkung« zahlt: Man muss länger ziehen oder kurbeln.
Abb. 1–2 Flaschenzug
Faktorenflaschenzug
Wenn wir heute von einem Flaschenzug sprechen, meinen wir in der Regel einen Faktorenflaschenzug, der die Seillänge durch »Schlingen« und Seilrollen künstlich verlängert.
Schon ein einfacher Flaschenzug mit einer Schlinge verdoppelt die Länge des Zugseils und halbiert damit die benötigte Kraft: Ein Mensch, der maximal 50 kg bewegen kann, kann mit einem solchen Flaschenzug bis zu 100 kg Last anheben.
Abb. 1–3 Römischer Trispastos nach Vitruv
In der Antike wurden Flaschenzüge von Griechen und Römern in einfachen Kränen eingesetzt. Der römische Ingenieur Marcus Vitruvius Pollo (ca. 80–15 v. Chr.) beschrieb den zu seiner Zeit verbreiteten Trispastos, einen einfachen Kran mit Drei-Rollen-Flaschenzug, der die Kraft des Bedieners mit einem zusätzlichen Hebel an der Winde insgesamt etwa verzwölffachte (Abb. 1–3).
Solche Flaschenzüge waren wahrscheinlich schon seit etwa 750 v. Chr. bekannt und kamen auf Baustellen und im Theater zum Einsatz. Dabei sorgte der Flaschenzug für eine Verdreifachung der Kraftwirkung; der Hebel an der Winde (Haspel) bewirkte eine zusätzliche Vervielfachung der Kraft des Bedieners.
Abb. 1–4 fischertechnik-Modell eines Trispastos
Die beeindruckende Wirkung eines solchen »Kraftverstärkers« lässt sich durch einen Nachbau des Trispastos in fischertechnik demonstrieren. Abb. 1–4 zeigt ein Modell, das einen Verstärkungsfaktor von etwa 18 besitzt. Problemlos kann man mit dieser einfachen Konstruktion eine mit Gewindestangen gefüllte Kiste (450 g) hochziehen.
Die Krafteinsparung (oder -verstärkung) lässt sich mit weiteren »Schlingen« vergrößern: Die für die Hubarbeit benötigte Kraft FZ sinkt bei n Seilwegen (= Seilrollen) auf ein n-tel der Gewichtskraft der Last FL:
Daher liegt es nahe, die von einem Kran oder einer Seilwinde leistbare Hubarbeit zu vergrößern, indem man den Flaschenzug um weitere Rollen ergänzt.
Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Ansätze: die Anordnung der Rollen nebeneinander (horizontal) und die Anordnung übereinander (vertikal). Mit letzterer lässt sich der Flaschenzug schlanker realisieren; dafür reduziert sich konstruktionsbedingt die maximale Hubhöhe, da ein Teil für die vertikale Anordnung der Rollen benötigt wird.
Abb. 1–5 Flaschenzug von Leonardo da Vinci
Eine kompakte Konstruktion eines sowohl horizontalen als auch vertikalen Flaschenzugs mit 12 Rollen, bei der die Rollen sowohl nebeneinander als auch übereinander angeordnet sind, ist vom Universalgenie der Renaissance, Leonardo Da Vinci (1452–1519), überliefert (Abb. 1–5).
Flaschenzüge aus fischertechnik finden sich schon in der Anleitung zum Grundkasten aus dem Jahr 1966 (S. 20, Abb. 1–6).
In hobby 1, Band 1 [4] wurde dem Flaschenzug 1972 ein eigenes Kapitel gewidmet. Wirken die frühen fischertechnik-Flaschenzüge noch etwas plump und eher wie grobe Funktionsmodelle, gelingt unter Verwendung von Statikkomponenten wie z. B. den S-Laschen (oder den heutigen Laschen 21,2) eine deutlich elegantere Konstruktion (linke Variante in Abb. 1–7) – zu finden z. B. in der Anleitung zum Aufbau-Statikkasten 50S/3 aus dem Jahr 1975. Auch die Kreuzknotenplatten aus den frühen Statikkästen von 1970 erlauben eine ansprechende Konstruktion wie die zweite Variante von rechts in Abb. 1–7, zu finden z. B. in hobby 2 Band 4 [5], (S. 18, 20, 49).
Abb. 1–6 fischertechnik-Flaschenzug von 1966 (aus: Bauanleitung Grundkasten)
Das Rollenlager, 1990 eingeführt mit dem Modellkasten Starlifters, eignet sich ebenfalls zur Konstruktion eines Flaschenzugs (rechte Variante in Abb. 1–7).
Auch mit den Kupplungsstücken aus dem Universal-Baukasten von 1997, verwendet in der zweiten Variante von links in Abb. 1–7, lässt sich ein Flaschenzug konstruieren, siehe die zugehörige Bauanleitung (Abb. 1–8).
Abb. 1–7 Konstruktionsvarianten einfacher fischertechnik-Flaschenzüge
Bei der Montage der Seilrollen muss man darauf achten, dass die Rollen nicht eingeklemmt werden, sondern möglichst widerstandsarm frei rotieren.
Abb. 1–8 Flaschenzug im Baukasten Universal
Bei allen gezeigten Varianten wird das Seilende jeweils mit einer der Klemmbuchsen an der oberen Achse befestigt, über die untere Rolle und von dort über die obere Umlenkrolle zu einer Seilwinde geführt.
Will man mehr als eine Verdoppelung der Kraftwirkung erreichen, benötigt man einen Flaschenzug mit weiteren Seilrollen. Auch mit fischertechnik lassen sich die zusätzlichen Rollen sowohl vertikal als auch horizontal anordnen. Abb. 1–9 zeigt vier Realisierungsalternativen für n-fache Flaschenzüge.
Die drei linken Varianten sind auf jeweils vier Rollen beschränkt; damit lässt sich die Kraftwirkung vervierfachen. In der Anleitung zum Teleskop-Mobilkran von 1983 (S. 45) findet sich eine kompakte vertikale Konstruktion.
Abb. 1–9 Realisierungsalternativen für n-fache Flaschenzüge
Ein Flaschenzug mit horizontal angeordneten Rollen wird im hobby 2, Band 4 [5], (S. 10) vorgestellt. Er verwendet I-Streben, um Haken und Rollenachse miteinander zu verbinden. Die rechte Variante in Abb. 1–9 erreicht eine Verachtfachung der Kraftwirkung; sie kann zudem leicht um weitere Führungsrollen erweitert werden.
Abb. 1–10 7-facher Flaschenzug
Eine ähnliche Konstruktion findet sich im Abenteuer-Bau-Buch [6], (S. 50 ff.) aus dem Jahr 1985 (Abb. 1–10).
Zu weit sollte man es aber nicht treiben, denn auch mit einem fischertechnik-Flaschenzug lassen sich nicht beliebig große Gewichte anheben – die Hubarbeit geht irgendwann nicht mehr spurlos am Material vorüber.
Spätestens wenn am Antrieb (Schnecke, Zahnrad) Abrieb entsteht, sollte man das Gewicht reduzieren.
Potenzflaschenzug
Der Faktorenflaschenzug ist zwar der einfachste, aber keineswegs der einzige Flaschenzugtyp.
Eine andere Konstruktion liegt dem Potenzflaschenzug (Abb. 1–11) zugrunde. Man kann sich ihn als eine Art »Hintereinanderschaltung« mehrerereinfacher Faktorenflaschenzüge vorstellen. Dabei wird mit jeder zusätzlichen Rolle ein weiteres Zugseil eingeführt und damit die erforderliche Kraft halbiert.
Die für die Hubarbeit erforderliche Zugkraftliegt bei n »losen« Rollen also bei einem 2n-tel der Gewichtskraft der Last:
Die Wirkung ist größer als bei einem Faktorenflaschenzug, denn mit nur fünf losen Rollen erreicht man eine Verstärkung von 32. Dennoch findet man diesen Flaschenzugtyp eher...