Einführung
Matthias Hoben, Marion Bär und Hans-Werner Wahl
Zwischen Pflege und Gerontologie bestehen wichtige Schnittstellen (Brandenburg, 2003): Auf der inhaltlichen Ebene sind dies Fragen bzgl. der a) bedürfnisgerechten Gestaltung von Pflege- und Versorgungsangeboten für ältere Menschen, b) professionellen Interaktion mit älteren Menschen sowie c) Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen, in die Versorgung alter Menschen involvierten professionellen, ehrenamtlichen und informellen Akteuren. Eine gemeinsame sozialwissenschaftliche Tradition bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen Disziplinen auf der theoretischen Ebene (Brandenburg, 2003). Während jeder der Disziplinen spezifische Fragestellungen, Perspektiven, Theorien und Methoden zu eigen sind, die sie von der jeweils anderen unterscheiden, ist eine Verschränkung der Perspektiven in den Überschneidungsbereichen in Zeiten demografischer, sozialer und gesundheitlicher Wandlungsprozesse von besonderer Bedeutung (Höhmann, 2003). Vor diesem Hintergrund hat auch das vorliegende Buch – mit seinem Fokus der Implementierungswissenschaft – die engen Bezüge zwischen Pflege und Gerontologie im Blick, ohne die Eigenständigkeit beider Bereiche zu vernachlässigen.
Forschung in Pflege und Gerontologie ist zu weiten Teilen kein reiner Selbstzweck. Beide Disziplinen sind bestrebt, mit Hilfe der gewonnenen Erkenntnisse die Situation der Adressaten zu verbessern. Aus Sicht der Gerontologie handelt es sich bei diesen Adressaten um ältere und hochaltrige Menschen, darunter auch, aber nicht nur, alte Menschen, die der Pflege bedürfen. Adressaten der Pflege sind pflegebedürftige Menschen im Allgemeinen, also auch, aber nicht nur, alte Menschen, die der Pflege bedürfen. Auch wenn es in der Gerontologie in starkem Maße um das normale Altern geht, so zielt doch Forschung in beiden Disziplinen in bedeutsamer Weise auf Handlungsfelder, in denen Menschen mit spezifischen Bedürfnissen unterstützt werden – sei es durch professionelle Experten1, ehrenamtliche Helfer, Bezugspersonen aus dem sozialen Umfeld oder durch Befähigung zur Selbsthilfe bzw. Bewusstseinsbildung. Grundsätzlich geht es auch in beiden Felder darum, Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen, auch hoch fragilen, zum Erhalt bzw. zur Verbesserung von Lebensqualität zu befähigen (vgl. dazu auch die »Interventionsorientierung« in der Gerontologie; Wahl et al., 2012). Dies verweist auf eine handlungswissenschaftliche Dimension von Pflege und Gerontologie, die über rein grundlagenwissenschaftliche Erwägungen (etwa Theorien über das Handlungsfeld bzw. das Handeln der Adressaten) hinausweist (Brandenburg & Dorschner, 2008; Behrens, 2010; Birgmeier, 2010). Wissen soll nicht nur generiert, es soll in Praxis überführt, es soll angewendet, es soll zum Wohl der Zielpersonen genutzt werden.
Die Menge des dafür potenziell verfügbaren Wissens ist zwischenzeitlich in Pflege und Gerontologie beträchtlich – und sie steigt kontinuierlich und zunehmend schneller (Pousti et al., 2011; Wahl & Heyl, 2015). Auch die Zahl der Synthesen dieser Wissensbestände in Form systematischer Übersichtsarbeiten, Metaanalysen oder klinischer Leitlinien und Standards nimmt stetig zu. Das Handeln der beruflichen Akteure in den Praxisfeldern der Pflege und Gerontologie, so scheint es, mag damit nicht immer Schritt zu halten: Disziplin-, setting- und länderübergreifend werden immer wieder Diskrepanzen zwischen Best Practice aus Sicht der Wissenschaft und der tatsächlich stattfindenden Praxis bemängelt (Boström et al., 2012; Grimshaw et al., 2012; Gitlin, 2013). Die gewählten Vorgehensweisen sind teilweise nicht die mit der besten Wirksamkeit, bisweilen sind sie sogar unwirksam und schlimmstenfalls schädigend. Dies wiederum hat gravierende wirtschaftliche, aber vor allem gesundheitliche und lebensqualitätsbezogene Folgen (Grimshaw et al., 2012).
Aus unterschiedlichen Gründen verbreitet sich publiziertes Wissen (Evidenz) nur sehr begrenzt von selbst; aktive und systematische Verbreitungsstrategien (Dissemination) sowie gezielte, breit angelegte Implementierungsaktivitäten sind eher erfolgreich (Fixsen et al., 2005; Greenhalgh et al., 2005; Sudsawad, 2007). Doch auch letztere werden regelmäßig als große Herausforderung beschrieben – selbst scheinbar kleine, einfache Veränderungen erweisen sich schnell als höchst komplex (Greif et al., 2004; Greenhalgh et al., 2005; Kitson, 2009). Ein anschauliches Beispiel ist das der Handhygiene. Obwohl es weder zeitaufwendig noch besonders schwierig ist, sich regelmäßig die Hände zu waschen und/oder zu desinfizieren, tun dies Akteure des Gesundheitswesens (und dies betrifft Ärzte ebenso wie Pflegende, Therapeuten u. a. m.) oft nicht in der vorgesehenen Weise (Erasmus et al., 2010). In der Alternsforschung ist einer der robustesten Befunde jener des Zusammenhangs zwischen körperlicher Aktivität und positiven Endpunkten wie höhere kardio-vaskuläre Fitness, geistige Leistung, Wohlbefinden sowie geringere Depressivität (Erickson et al., 2012). Dennoch scheint es überaus schwierig zu sein, dieses prinzipiell kostenlose und erhebliche Gesundheitskosten einsparende Verhalten bei älteren Menschen nachhaltig zu implementieren. An Versuchen, diese bislang nur bedingt bewältigten Anforderungen mit mehr oder weniger ausgeklügelten Implementierungsstrategien zu ändern, mangelt es nicht – das Thema ist quasi ein »Dauerbrenner« der Implementierungswissenschaft (Grol & Wensing, 2013). Effektiv sind, dies zeigen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen (Gould et al., 2010; Vindigni et al., 2011; Huis et al., 2012), eher komplexe als einfache Strategien – also solche, die auf mehreren Ebenen ansetzen (z. B. Wissen, Bewusstsein, Kontrolle, Unterstützung etc.) und die nicht nur eine, sondern ein Bündel verschiedener Maßnahmen beinhalten und unterschiedliche Akteursgruppen im Sinne einer konzertierten Anstrengung umfassen (sogenannte multi-facetted interventions). Allerdings ist, selbst was komplexe Strategien angeht, die Studienlage heterogen – und nachhaltige Veränderungen wurden bislang in Forschungsdesigns mit langen Beobachtungszeiträumen kaum erzielt. Insbesondere soziale Prozesse scheinen hier eine bedeutsame Rolle zu spielen (Huis et al., 2012). Wenn schon solch greifbare und eher einfache Veränderungen auf Schwierigkeiten stoßen, wie viel größer mögen dann die Herausforderungen sein, die bei der Implementierung komplexer Konzepte oder Interventionsprogramme zu erwarten sind? Vielfältige Einflussfaktoren und insbesondere heterogene, z. T. widersprüchliche Interessenlagen zahlreicher Akteure machen die Implementierung evidenzbasierter Neuerungen zu einem vielschichtigen Prozess, der sehr schwer zu steuern ist (Greif et al., 2004; Greenhalgh et al., 2005; Kitson, 2009). So kommt es, dass Implementierungen scheitern oder unerwünschte Folgen mit sich bringen, wie z. B. Enttäuschung, Überforderung, Unzufriedenheit, Demotivation, Burnout, Teamkonflikte oder Verschlechterung anstatt Verbesserung der Qualität (Fläckman et al., 2009; Jones, 2009; Höhmann et al., 2010).
Trotz dieser Herausforderungen und Risiken sind Institutionen wie auch Einzelakteure in Pflege und Gerontologie auf vielfältige Weise und aus unterschiedlichsten Gründen stetig damit befasst, bisherige Routinen und Vorgehensweisen zu verändern und Neuerungen einzuführen – sei es freiwillig oder weil sie z. B. durch regulatorische Vorgaben dazu verpflichtet sind. Pflege und Gerontologie agieren in einem Umfeld, das sich kontinuierlich wandelt: Demografischer Wandel sowie Veränderung von kohortenbezogenen Lifestyle-Faktoren und Lebenslagen erfordern eine ständige Anpassung der Angebotsstruktur an die Bedürfnisse und Erwartungen der Zielpersonen. Etwas überspitzt könnte man sagen: Kaum ist es ansatzweise gelungen, eine hilfreiche Strategie bei Zielpersonen zu implementieren, treten neue Kohorten mit anderen Erwartungen, Kompetenzen und Werthaltungen auf die Bühne, die wiederum andere Implementierungsdynamiken notwendig machen. Die ökonomische Situation (z. B. Konkurrenz, Wettbewerbsdruck und eigene finanzielle Ausstattung) zwingt zur Effizienz, Qualität und Innovativität, und politische Entscheidungen (wie z. B. neue Gesetze, Kontrollmechanismen oder Anreize bzw. Sanktionen) erfordern vielfältige Adaptationen (Kirby & Kennedy, 1999; Martin, 2003). Der stetig wachsende Fundus pflegerischer und gerontologischer Forschungsbefunde ist eben nur eine von vielen Quellen potenzieller Veränderungen. Für dieses Buch ist dieser Umstand aus drei Gründen zentral:
1. Die skizzierten Rahmenbedingungen sind wesentlich dafür verantwortlich, dass Implementierungsprozesse eine komplexe Herausforderung darstellen. Viele der Widerstände in der Praxis sind bedingt...