Knapp 22 Millionen Menschen sind bei uns über 60 Jahre alt. Sie nennen sich Best Ager, gründen engagiert Geschäfte und umreisen neugierig die Welt. Die Werbung plant die immense Kaufkraft dieser Altersgruppe begeistert in ihre Etats ein und das Netz hat die Silver-Surfer mit großer Freude für sich entdeckt. Modemagazine küren Senior-Models und auf den Fernsehbildschirmen sind neuerdings Moderatoren zu sehen, die man bis vor wenigen Jahren noch sang- und klanglos in den Ruhestand geschickt hätte. Große Unternehmen holen ihre bereits ausrangierten Rentner vom Abstellgleis zurück, weil sie das Fachwissen der Senior-Experten schätzen.
Statt sich zur Ruhe zu setzen, wollen sie mit Vollgas in die zweite Lebenshälfte starten und damit immer schneller, weiter, höher hinaus. Früher sang Curd Jürgens „60 Jahre und kein bisschen weise.“ Heute könnte man das „weise“ durch „leise“ ersetzen. Der runde Geburtstag wird zur Startrampe. Die Gesellschaft zieht mit. Nur bei einem Thema herrscht das große Schweigen. „Sex“ und „60“ passen nicht so richtig zusammen. Irgendwie mag man damit nichts anfangen. „Muss das noch sein?“, denken die Jüngeren, und hinter vorgehaltener Hand fragen sie, „Können die überhaupt noch?“
Dabei ist die Frage überflüssig. Denn nichts spricht dagegen, dass Sex mit 60, 70 und 80 Jahren genau so viel Spaß macht wie mit 20, 30 und 40 Jahren. Nur will das keiner so richtig wissen. Bis auf die, die über 60 sind. Die interessiert das brennend. Sie wissen aus Erfahrung, was Sex ihnen alles gibt: Liebe und Bindung, Genuss und Wohlbefinden, Lebensfreude und Gesundheit. Und sie sehen überhaupt nicht ein, warum ausgerechnet sie von „der schönsten Sache der Welt“ lassen sollten, nur weil sie nicht mehr jung und knackig sind. Sie wollen nicht von der Lust ausgegrenzt werden, ausgerechnet jetzt, wo Sex allgegenwärtig ist. Und so melden sie sich auch hier zu Wort. Vor einigen Jahren noch vorsichtig und verschämt, mittlerweile immer eindringlicher. Seht her, wir sind zwar nicht mehr so frisch wie ihr, aber wir bekommen auch mit, was alles möglich ist.
„Durch die Leidenschaft lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß.“
Nicolas Chamfort
Denn noch nie war Sex so sichtbar und leicht verfügbar wie heute. Man spricht offen darüber, selbst nur locker Bekannte tauschen leger ihre Vorlieben aus. In den Medien ist Sex auf allen Kanälen präsent. Die Werbung hat den Spruch „Sex sells“ verinnerlicht und noch nie so viel aufreizend nackte Haut präsentiert wie heute. Eindeutige Begriffe surren jedem um die Ohren und wenn man abends durch die Sender zappt, muss man bei manchen Kanälen besonders schnell auf die „Weiter“-Taste drücken, damit man nicht rot anläuft. Ein mächtiger Stromkonzern macht zur Familienfernsehzeit mit einem Spot Furore, in dem die halbwüchsige Tochter ihre Eltern beim Sex überrascht und die „in- flagranti“-Ertappten nur locker lächelnd „Guten Abend“ murmeln.
„Alter ist irrelevant, es sei denn, du bist eine Flasche Wein.“
Joan Collins
Auf jedem PC kann man Hardcore-Pornos herunterladen, und 14-jährige Enkelkinder unterhalten sich auf dem Schulweg über Cunnilingus und Fellatio wie früher über Legosteine und Kuscheltiere. Woher sie schon in diesem Alter ihr Fachwissen haben, ist klar. Das Internet macht’s möglich. Jeder kann sich alles via Netz auf den Bildschirm holen. Häufig nicht mal freiwillig. Kennen Sie das auch? Sie tippen arglos zweideutige Begriffe ein und plötzlich blitzen eindeutige Bilder auf, die Sie eigentlich gar nicht sehen wollen. Muss das alles so sein?
Die sexuelle Befreiung ist längst auch eine Befreiung von der Schamgrenze, die uns Menschen eigentlich als Hindernis vor uns selbst schützt. Jetzt ist sie in der medialen Aufmerksamkeitsballerei untergegangen und wir müssen ohne sie auskommen. Denn wie und wie oft es unsere Prominenz, egal ob aus Politik, Film oder Sport gern macht, kann man jeden Morgen in diversen Medien gleich nachlesen oder sehen. Sex ist natürlich. Okay. Unsere Verdauung auch, und doch erzählen wir nicht pausenlos darüber. Besonders den heute 60ern stößt das unangenehm auf. Sie haben ja eine ganz andere Geschichte als die heute 40-Jährigen. Nicht vergessen: Die sexuelle Befreiung der Gegenwart ist noch recht frisch. Erinnern Sie sich an den Aufruhr, der die noch junge Bundesrepublik erfasste, weil Hildegard Knef 1951 in dem Film „Die Sünderin“ einen Augenblick lang unbekleidet auf der Kino-Leinwand zu sehen war? In den 50er-Jahren glaubten noch 17-Jährige, dass sie durch einen innigen Kuss schwanger werden könnten. Doch dann kam die Studentenrevolution mit dem lockeren Treiben der Kommune 1 um Rainer Langhans und Uschi Obermeier als Hauptdarsteller. Aus der Zeit stammt auch der Spruch „Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment“, der bis heute überlebt hat. Es gab Oswald Kolle und den „Schulmädchenreport“, und so wusste in den 70er-Jahren der Großteil der Gesellschaft, dass es da noch etwas anderes gibt als Küssen und Petting in den Umkleidekabinen der Schwimmbäder. Sexuelle Aufklärung war gut und wichtig. Man durfte über etwas sprechen, das nicht nur der Erhaltung der Menschheit dient, sondern auch Spaß macht. Frauen nahmen ihre Körperlichkeit wahr, äußerten Wünsche und entdeckten selbstbewusst ihre Sexualität. Und dann rollte die Sexualisierungswelle mit der Wucht eines Tsunamis über uns hinweg. Als 1972 „Der letzte Tango in Paris“ mit Marlon Brando und Maria Schneider erschien, wurden in Frankreich die Kinobesucher mit Infotafeln vor „besonders delikaten“ Bildern gewarnt und in Italien die Hauptdarsteller zu Bewährungsstrafen verurteilt. 1992 erregte Sharon Stone in dem Triller „Basic Instinct“ die Welt, weil sie sich bei einem Verhör ohne Slip präsentierte.
Alles noch harmlos, im Verhältnis zu dem, was wir heute mit „Feuchtgebiete“ und „Fifty Shades of Grey“ erleben können. Oder müssen? Es gibt nichts, was wir nicht gehört, gesehen und gelesen haben. Oder? Alle sexuellen Vorlieben, Besonderheiten und Paraphilien sind schon erzählt und dargestellt worden. Die unfassbar brutalen, aber auch die kuriosen. Wir lesen, dass es Menschen gibt, die es erregt, wenn sie Bäume sehen und dass manche nur Lust bekommen, wenn sie sich im Gedränge an fremden Menschen reiben. Alles ist möglich, Hauptsache, es macht Lust. Komisch nur, dass man die Lustgefühle bei den über 60-Jährigen am liebsten ausknipsen möchte. Normalität und Selbstverständnis von Sex im Alter sind im allgemeinen Jugendwahn unserer Gesellschaft schlichtweg untergegangen. Lange Zeit wollte man sich nicht vorstellen, dass Senioren Sex haben. Man wollte nicht wissen, ob sie es genauso leidenschaftlich wie Teenager miteinander treiben. Ob sich Oldies überhaupt vergnügen und wenn ja, was sie in den Betten treiben, darüber wurde nicht einmal spekuliert. Es wurde ganz einfach totgeschwiegen. Kinder mögen nicht darüber nachdenken, was ihren Eltern Lust bereitet und bei der Großelterngeneration spricht man schnell von „krank“ und „absurd“.
Sex Ü60 ist tabu, zumindest für die, die unter 60 sind.
Am liebsten haben wir Senioren, wenn sie die Enkelkinder hüten und möglichst wenig Aufsehen erregen. Gut, sie können auch arbeiten bis zum Umfallen. Wenn es sein muss, auch verreisen und ihre Renten verjubeln. Aber ihre Körperlichkeit sollen sie bitte mit dem runden Geburtstag ab 60 vergessen. Gerade wenn Frauen nicht dem gängigen Schönheits- und Jugendideal entsprechen, billigt man ihnen ein aktives Sexleben nicht zu. Nur die Jungen und Schönen dürfen sich atemlos auf den Laken rekeln. Über 60 ist man angezogen und fern der Lust. Sex bekommt einen Mitleidbonus und spielt sich höchstens in Urlaubszentren ab, in denen sich Frauen Liebhaber kaufen. Oder man tuschelt hinter vorgehaltener Hand, wenn sich grauhaarige Männer mit blutjungen Mädchen zeigen. „Klar, der ist reich!“, weiß dann jeder. Was auch sonst. Ohne Geld „tut“ es doch mit alten Menschen niemand mehr. Denn Sex und Falten, Orgasmen und Lebenserfahrung passen für die Jüngeren nicht zusammen.
Wie auch? Sie haben ja keine Bilder dazu im Kopf. In den Medien fallen die Hüllen in der Regel nur, wenn die Protagonisten jung und knackig sind. Wenn sich „die Alten“ lieben, hauchen sie sich vor der Kamera höchstens mal vorsichtig einen Kuss auf die Lippen. Licht aus! Schnitt. Gestöhnt wird nur bis Mitte dreißig. Leidenschaft bleibt den Jungen und Attraktiven vorbehalten. Dann muss sich ihr Umfeld darüber wenigstens keine Gedanken mehr machen. Alte, faltige Körper, die sich lustvoll umschlingen: „Igitt“ oder höflicher: „Nein danke!“ Aber auf jeden Fall will sich das keiner mehr vorstellen.
Aber mittlerweile melden sich die Alten...