Kapitel 1
Einführung in die Technik des Faszien-Release
Körperstrukturen
Therapeuten jeglicher Richtung, vor allem aber manuelle Therapeuten, suchen nach einer höheren Ordnung in menschlichen Bewegungsmustern und dringen dabei in den Grenzbereich zwischen Struktur und Funktion vor. Jegliche Veränderung des Verhaltens bedeutet eine Veränderung der Bewegungen. Doch nur wer sein Augenmerk auf das Fasziengewebe und dessen Eigenschaften lenkt, kann im Fundament aller Bewegungsabläufe tatsächliche Veränderungen erzielen.
Jegliche Struktur in der realen Welt stellt einen Kompromiss zwischen dem Bedürfnis nach Stabilität und Mobilität dar. Während beispielsweise Berge mit ihrer Stabilität am einen Ende der Skala liegen, tendieren Lebewesen mit ihren unterschiedlichen Mobilitäten zum anderen Ende der Skala hin. Die zumeist in einem Untergrund verankerten Pflanzen bestehen überwiegend aus Fasern des Kohlenhydrats Zellulose.
Dem Körper großer Landtiere, darunter auch dem des Menschen, geben aus dem elastischen Eiweiß Kollagen aufgebaute Strukturen einerseits stabilen Halt; andererseits sind sie jedoch auch so beweglich, dass sie es dem Körper ermöglichen, mobil zu sein und auf seine Umwelt einzuwirken.
Deshalb stellt die Kenntnis der Eigenschaften des Kollagengewebes, aus dem größtenteils Sehnen, Bänder, Aponeurosen, Muskelscheiden, Organhüllen und Bindegewebsschichten bestehen, die Grundlage der manuellen Therapie und der Bewegungstherapie dar. Es genügt nicht, sich mit Muskeln und Nerven auszukennen, so wichtig das auch sein mag. Der Umgang mit den Faszien erfordert ein besonderes Gespür, eine andere Form von Manipulation und auf dieses Gewebe abgestimmte Techniken.
Der Kompromiss zwischen Stabilität und Mobilität kann an beiden Enden des Spektrums zu »kompromittierenden« Situationen führen. Am »Stabilitätsende« können Teile, die im Verhältnis zu anderen Teilen beweglich bleiben sollten, an Faszien oder Nerven verkleben und- 8 Faszien-Release zur Verbesserung der Körperhaltung die Fähigkeit verlieren, sich voneinander unabhängig zu bewegen. Das kann zu einer Anstauung oder lokalen Verspannungen führen, oder aber auch miteinander verbundene und mitunter relativ weit entfernte Regionen beeinträchtigen (Abb. 1.1).
Andererseits können auch Teile, die eng verbunden bleiben sollten, im Verhältnis zueinander allzu beweglich werden. Diese Hypermobilität kann Reibungen (und als deren Konsequenz Entzündungen) verursachen. Die nicht vorgesehene Beweglichkeit muss zudem durch Muskeln oder Faszien andernorts ausgeglichen werden, sodass sich der Körper weiter bewegen, also z. B. gehen, stehen, sitzen, arbeiten oder Sport treiben kann, ohne in sich zusammenzufallen.
Muskelknoten, langfristige Verspannungen an Trigger Points, Spasmen, nicht ausreichend effiziente Bewegungsmuster, verdickte oder verklebte Faszien, »tote« sensomotorische Zonen und natürlich Schmerzen stellen allesamt Reaktionen des Körpers auf bestehende Stabilitäts-/Mobilitäts-Probleme dar.
Abb. 1.1: Die myofaszialen Meridiane der anatomischen Zuglinien bilden eine Karte, die anzeigt, wie sich Kompensationen von einer Körperregion auf andere, weiter entfernte verlagern können.
Als Therapeuten, die versuchen, bei ihren Patienten strukturelle Integrität und Balance wiederherzustellen, befassen wir uns täglich mit dem komplexen System von Reaktionen des »neuromyofaszialen« Netzes. Deshalb haben wir ein Handbuch entwickelt, das zeigt, wie diese Muster mittels Manipulation der von dichtem Nervengeflecht durchdrungenen Muskeln und Bindegewebe behandelt werden können. Wir konzentrieren uns auf das Faszien-Bindegewebselement dieser musterbildenden Troika: Muskeln und Knochen wurden bereits zahlreiche Forschungen gewidmet. Das zwischen den beiden vermittelnd wirkende Bindegewebe wurde weit weniger gründlich untersucht. Ihm und seinen Eigenschaften wenden wir unsere Aufmerksamkeit zu.
Zuvor sei allerdings bemerkt, dass jegliche lineare Darstellung, wie sie auch in diesem Buch erfolgt, mit individuell benannten »Teilen« arbeitet; andererseits besteht die Arbeit eines Therapeuten darin, aus den einzelnen Techniken einen holistischen Ansatz für die Behandlung eines Patienten und seines individuellen Körperaufbaus zu komponieren. Besonders an chronischen Problemen sind verschiedene, im Körper relativ weit voneinander entfernt positionierte Gewebe beteiligt, sodass eine Besserung nicht durch ausschließliche Behandlung der schmerzenden oder dysfunktionalen Region erfolgen kann.
Die Förderung der visuellen und palpatorischen Fähigkeiten, die notwendig sind, um mit unseren Techniken den gesamten Körper berücksichtigende Strategien zu entwickeln, sind das Ziel der von uns angegebenen Workshops und Kurse (siehe Kap. Fortbildung und Links).
Einführung in das Fasziennetz
Faszien sind das fehlende Glied in der Stabilitäts-/Mobilitäts-Gleichung. Das Verständnis ihrer Plastizität und Reaktionsfähigkeit ist ein wichtiger Schritt zu einer dauerhaften und wesentlichen Veränderung des therapeutischen Ansatzes.
Auch wenn in Anatomie- und Handbüchern wie diesem alle Teile des Körpers Namen zugewiesen bekommen, darf man nicht vergessen, dass Menschen, anders als Autos, nicht aus einzelnen Teilen zusammengefügt sind. Kein »Teil« eines Lebewesens kann ohne konstante Verbindung zum Ganzen weiterexistieren.
Ein großes Netz
Das Fasziennetz entsteht als geeintes Ganzes ungefähr in der zweiten Woche nach der Befruchtung der Eizelle und bleibt bis zum Tod ein zusammenhängendes Netz. Im Laufe der komplexen embryonalen Entwicklung dehnt es sich aus und faltet sich nach und nach zum Körper eines Menschen auf. Auch wenn wir den verschiedenen Teilen dieses Netzes Namen gegeben haben, wie Dura mater, Aponeurose lumbalis, Mesenterium, Tractus iliotibialis oder Aponeurosis plantaris, dürfen wir nie vergessen, dass es sich dabei nur um Regionen eines unteilbaren Ganzen handelt.
Abb. 1.2: Eine präparierte Oberflächliche Rückenlinie. Legt man die Muskeln inklusive des sie umgebenden Gewebes frei, erkennt man die Faszienverbindungen, die sie zu einer Längsreihe verbinden – Teile jenes Fasziennetzes, das von den Zehen (unten) bis zur Nase (oben) verläuft.
Auch wenn Anatomiebücher über 600 einzelne Muskeln auflisten, ist es doch korrekter zu sagen, dass es nur einen einzigen Muskel gibt, der in 600 Taschen des Fasziennetzes gegossen wurde. Die »Illusion« einzelner Muskeln entstand durch das Skalpell des Anatomen, das Gewebe voneinander trennte und dadurch die Existenz des verbindenden Netzes in den Hintergrund drängte (Abb. 1.2). Natürlich sind diese Unterscheidungen nützlich, doch dürfen sie uns nicht die Sicht auf das einende Ganze verstellen.
Nach der Geburt ist dieses »Organ« der Schwerkraft ausgesetzt, die es in einem Zusammenspiel mit genetischer Veranlagung und Umwelt formt. Es kann durch Verletzungen oder notwendige chirurgische Eingriffe Risse oder Schnitte bekommen und wird sich nach Möglichkeit selbst wieder reparieren. Es passt sich unseren spezifischen Bewegungs- und Atemmustern an und wird von unseren geistigen Neigungen und den Bewegungen, die diese fördern oder hemmen, mitgestaltet. Mit zunehmendem Alter wird das Fasziennetz immer mehr degenerieren, verkleben, verfransen oder austrocknen – bis wir es schließlich hinter uns lassen.
Unser Leben lang bleibt es ein einziges einendes, die Kommunikation zwischen einzelnen Körperregionen ermöglichendes Netzwerk, das uns eine charakteristische, physiologisch funktionierende Gestalt gibt, das Kontraktionen des Muskelgewebes in Bewegungen des Körpers umsetzt und das in Zusammenarbeit mit den Nerven und den Muskeln auf die mechanischen Kräfte reagiert, die durch unsere Umweltkontakte auf uns einwirken.
Man kann nicht einmal das winzigste Stück Fleisch aus dem Körper entnehmen, ohne dass dabei ein Stück des Fasziennetzes mitkommt. Das Fasziensystem, das aus zähen Fasern und gallertartigen, klebrigen Proteoglykanen (Grundsubstanz) in einem wässrigen Trägermedium besteht, umgibt jede einzelne Körperzelle, sämtliche Gewebe und Organe und hält den gesamten Organismus zusammen und in Form. Aufgrund seiner innigen Verbindung zu sämtlichen Gewebearten spielt es bei der physiologischen Erhaltung und der Immunabwehr eine wichtige Rolle. Diese Aspekte zu erläutern, wollen wir lieber anderen überlassen. Wir konzentrieren uns hier auf ihre mechanischen Funktionen.
Faszienelemente
Um mit den vielfältigen Kräften und Faktoren fertig zu werden, produzieren unsere Bindegewebszellen ein ebenso vielseitiges Sortiment von Baumaterialen, indem sie erstaunlich wenige, einfache Elemente modifizieren. Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder, Herzklappen, das zähe Bindegewebe, das unsere Muskeln umgibt, die zarte Gehirnhaut, die durchsichtige Hornhaut des Auges und das Dentin der Zähne – sie alle, und viele Gewebetypen mehr, bestehen aus...