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E-Book

1941

Der Angriff auf die ganze Welt

AutorJoachim Käppner
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644121812
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
1941 beginnt ein Krieg, der anders ist als alle anderen zuvor Als das Jahr 1941 begann, beherrschte das Deutsche Reich halb Europa. Nur Großbritannien, das letzte Bollwerk der Freiheit, widersetzte sich dem Triumph der Nazis. Trotz dieses Kampfes der Systeme und des NS-Terrors in Polen erschien der Konflikt den meisten Zeitgenossen noch als ein «europäischer Krieg», wie so viele zuvor zwischen den Mächten Europas. Bis zum 22. Juni 1941 - ab diesem Tag wird er zu einem Krieg, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hat: Er wird zum Vernichtungskrieg, als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfällt und eine Eroberungs- und Mordmaschinerie in Gang gesetzt wird, vom Holocaust bis zum «Generalplan Ost». Am Ende des Jahres ist der Angriff auf Moskau gescheitert, und Deutschland hat den USA den Krieg erklärt. Der globale Krieg kostet viele Millionen Menschenleben und wird schließlich das Land zerstören, von dem er ausging. Joachim Käppner schildert packend und prägnant die wichtigen Ereignisse dieses zentralen Kriegsjahres. Er erzählt von ihren Ursachen und Folgen, von Wendepunkten und Entscheidungen. Und er stellt die Frage, warum große Teile der deutschen Elite und Gesellschaft Hitlers Politik unbeirrt folgten, obwohl sie 1941 Monat für Monat mörderischer, irrationaler und selbstzerstörerischer wurde.

Joachim Käppner, geboren 1961 in Bonn, ist Redakteur und Autor der «Süddeutschen Zeitung». Für seine Biographie über Berthold Beitz, die zum Bestseller wurde, erhielt der promovierte Historiker 2011 den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis; für seine Reportage über die verkannten deutschen Freiheitsbewegungen («Bis die Freiheit aufersteht») 1999 den Theodor-Wolff-Preis.

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Leseprobe

Vorwort


Als Boris Dorfman geboren wurde, das war im Jahre 1923, gehörte seine Heimatstadt Cahul zu Rumänien. Das Städtchen, heute Teil der Republik Moldawien, liegt in Bessarabien, auf das die Sowjetunion Ansprüche erhob, weil es einst zum russischen Zarenreich gehört hatte. Die jüdische Familie Dorfman zählte zum gebildeten und aufstrebenden Bürgertum, man sprach zu Hause jiddisch. Als Boris Dorfman sechzehn Jahre alt war, teilten die Diktatoren Adolf Hitler und Josef Stalin Osteuropa heimlich unter sich auf. Bessarabien gehörte zur «Interessenssphäre» der Sowjets, die 1940 einrückten und das Land gewaltsam okkupierten. Er war nun sowjetischer Staatsbürger rumänischer Herkunft und jüdischer Identität. Zu den Zehntausenden, welche die neuen Herren als verdächtige Elemente tief nach Russland deportieren ließen, gehörten auch die Dorfmans. Er kämpfte als Rotarmist ab 1941 gegen die Rumänen und die Deutschen, 1944 kam er nach Lemberg in der Ukraine und blieb. Von den einhundertsechzigtausend Juden Lembergs lebte kaum noch jemand, die Deutschen hatten fast alle ermordet. Boris Dorfman erlebte, wie Stalin Zehntausende Polen aus der Stadt nach Westen «umsiedeln» ließ und wie die letzten Spuren jüdischer Kultur von den Kommunisten unterdrückt wurden.

Jetzt ist Boris Dorfman früherer Rumäne, früherer Bürger der Sowjetunion und heutiger Bürger der Ukraine; er fühlt und versteht sich als Jude, der die Geschichte und Traditionen seiner Gemeinde lebendig erhält. Er liebt seine Stadt und sein Land, aber viel lieber wäre ihm, dass nicht schon wieder Krieg herrschen würde, diesmal zwischen der Ukraine und den russischen Separatisten im Donbass. Er sagt heute: «Warum ist keine Seite bereit zu Kompromissen? Wir haben doch 1941 erlebt, welche Schrecken der Krieg bringt.»

Drei Staaten, drei Systeme, drei Kriege: das Leben des Boris Dorfman.

Die Staaten: Rumänien, die Sowjetunion, die Ukraine. Die Systeme: nationalistische Diktatur, Sowjetkommunismus von Stalin bis Gorbatschow, die postsowjetische Ukraine in allen ihren Zuständen von 1991 bis heute. Die Kriege: 1940, 1941 bis 1944, 2012 bis heute.

Für Menschen seiner Generation ist das nicht einmal ein ungewöhnlicher Lebensweg. Der Krieg riss sie fort wie ein Sturm, es gab kein Halten; er schleuderte sie durch einen Wirbel neuer Herren und Ideologien, und der Einzelne konnte fast nichts dagegen tun. 1941, vor fünfundsiebzig Jahren, überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion und entfesselte den Vernichtungskrieg, der alle Schrecken der bisherigen Feldzüge um ein Vielfaches vergrößerte, so schlimm die Bombenangriffe, Massaker und Kämpfe auch gewesen sein mochten. Es ist das Jahr, in dem die Flamme des Krieges von Mitteleuropa übersprang auf den Balkan, nach Griechenland, nach Russland und schließlich in den Pazifik. Er hatte, als es begann, wie ein europäischer Krieg ausgesehen, wenn auch ein besonders brutaler, und viele hofften, er habe seinen Höhepunkt bereits überschritten und werde bald zu Ende gehen. Doch er war ein Weltkrieg, als es endete, die größte militärische Auseinandersetzung der Geschichte, die alle Kontinente erfasste und wenige Staaten der Welt unberührt ließ. Es war das Jahr, in dem der Zivilisationsbruch durch Hitlerdeutschland zwar nicht begann, das war schon 1939 in Polen geschehen, aber zu einer ungeheuren Zahl neuer Opfer führte und als systematischer Genozid organisiert wurde: der Mord an den Juden, den sowjetischen Kriegsgefangenen, der Beginn des «Generalplans Ost» als Basis des deutschen «Lebensraums» im Osten.

Es leben nicht mehr viele Menschen, die dieses entscheidende Jahr noch als Erwachsene miterlebt haben und davon berichten können. Mit der Lebenswirklichkeit der Jüngeren hat es äußerlich so wenig zu tun wie der Mongolensturm von 1241, sieben Jahrhunderte zuvor. Selbst die Großeltern, die meisten von ihnen waren 1941 noch Kinder gewesen wie meine Mutter, deren Vater am 22. Juni im Radio vom Angriff auf die Sowjetunion hörte, das Gerät ausschaltete und sagte: «Der Hitler, dieser Verbrecher.» Für die Generation, die in den sechziger und siebziger Jahren geboren wurde, war die Zeitzeugenschaft der Älteren noch so selbstverständlich, dass man sich oft erst, als wieder einmal eine Beerdigung anstand, Vorwürfe machte, sie nicht noch mehr und noch genauer gefragt zu haben. Viele wären freilich nicht bereit gewesen, die Wahrheit oder überhaupt etwas zu sagen. Und für die anderen, die etwas zu sagen gehabt hätten, kam das Interesse der Nachgeborenen zu spät.

Dieses Buch möchte heutigen Lesern in verständlicher und anschaulicher Weise nahebringen, welche großen und unwiderruflichen Weichenstellungen das Jahr 1941 brachte und welche Motive die Handelnden umtrieben. Es ist kein fachwissenschaftliches Werk, sondern gedacht für ein breites Publikum; aber es beruht auf den Erkenntnissen, welche die Historiker gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten so reichlich gewonnen haben.

Es ist ein Buch über den Krieg. Über den Krieg als Mittel der Politik und über die Politik im Banne eines Krieges, in dem es keinen Ausgleich und keine Kompromisse geben konnte. Diesen Krieg würde Hitlerdeutschland gewinnen, oder seine Feinde, die es angegriffen hatte, würden es tun. Das Buch handelt von den Politikern, die ihn beschlossen und betrieben; von den Soldaten, die ihn führten; von den Menschen, über die er hinwegrollte wie eine Walze aus Feuer; es handelt von Grausamkeit und Verzweiflung, von Mut und Widerstehen.

Und es handelt von der Verantwortung des Menschen für sein Handeln. Ein Krieg ist so wenig wie eine Diktatur eine Sturmflut oder eine Lawine, er ist keine Naturkatastrophe, die unverhofft hereinbricht. Sehr viele Menschen haben Handlungsspielräume, und mögen sie noch so klein sein. Sie haben die Wahl, die richtige oder die falsche Entscheidung zu treffen, wenn auch oftmals nur in Details und innerhalb jener winzigen Ausschnitte des Geschehens, innerhalb deren sie sich bewegten. Ein junger Mann aus, sagen wir, dem Spessart hatte 1941 keine Wahl, ob er zu den Soldaten ging oder nicht; er war durch Wehrpflicht und die mordlustige Militärjustiz dazu gezwungen, gleich, ob er sich für den Krieg begeisterte, ihn fürchtete oder ablehnte. Er war aber nicht gezwungen, in Russland Wehrmachtsbordelle aufzusuchen, auf Zivilisten zu schießen, Speisekammern in Dörfern zu plündern oder lachend Fotos von Judenpogromen zu machen. Es gab sehr viele Soldaten, die solche Dinge getan haben; es gab auch viele, die das nicht taten. Es gab Spielräume. Das Erschreckende ist, wie viele sie nicht nutzten und damit zu Trägern des Vernichtungskrieges wurden. Und doch ist Schuld immer eine individuelle Frage.

Aber weil es so viele, sehr viele waren, die schuldig wurden, handelt das vorliegende Buch auch von der Frage, warum die Wehrmacht sich in solchem Ausmaß an einem verbrecherischen Krieg beteiligte. Heute, zwanzig Jahre nach der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung und den Arbeiten vieler Historiker wie Jürgen Förster, Johannes Hürter, Christian Hartmann, Wolfram Wette und anderen, muss man nicht mehr darüber diskutieren, ob die Wehrmacht einen verbrecherischen Krieg führte. Natürlich tat sie es.

Das macht nicht jeden zum Verbrecher, der in ihr diente oder dienen musste, solch kollektive Urteile sind immer falsch. Doch sie hat auch nicht, wie es noch Jahrzehnte nach 1945 behauptet wurde, einen richtigen Krieg im falschen, einen «normalen» oder «fairen» Krieg für ein mörderisches System geführt. Das ist an sich ein Widersinn. Aber das Selbstbild einer in großen Teilen «sauberen Truppe», das die beteiligten Generäle gleich nach dem Krieg zeichneten, blieb lange lebendig.

Es hat die «Traditionspflege» der Bundeswehr, ausgerechnet der Armee des Parlaments und des «Staatsbürgers in Uniform», noch über die Ära Kohl hinaus belastet und mitgeprägt. Es hat dazu geführt, dass die ersten klugen Ansätze einer kritischen Militärgeschichtsschreibung, entworfen von Manfred Messerschmidt, am Militärhistorischen Forschungsamt in den Siebzigern auf wenig Gegenliebe stießen. Die Kämpfe von damals muten heute selbst schon wie ein Stück Geschichte an. Sie spiegeln sich noch wider in den ersten Bänden des Standardwerks «Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg». Im Band über den Überfall auf die Sowjetunion, erschienen 1983, haben einige Verfasser wie Jürgen Förster das Konzept des Vernichtungskrieges, den die Wehrmachtsführung bewusst mittrug, klar erfasst und beschrieben. Andere behaupteten noch, «Barbarossa» sei im Grunde ein deutscher Präventivkrieg gegen einen russischen Überfall gewesen. Was den Historikern misslang, schaffte die Wehrmachtsausstellung 1995. Sie enthielt garstige Fehler und manche Übertreibungen, aber sie war es, die den Bann gebrochen hat. Seitdem ist es leichter, das Jahr 1941 in Gänze zu betrachten, in dem Hitler seine willigen Generäle den Vernichtungskrieg planen und ausführen ließ.

Es markiert den großen Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Als es begann, stand Großbritannien allein gegen das triumphierende Hitlerreich. Als es endete, führte dieses Reich Krieg gegen die Sowjetunion und die USA. Es war ein Krieg geworden, den es nicht gewinnen konnte und glücklicherweise auch nicht gewonnen hat. Es war auch die Entscheidung zwischen drei Systemen und Weltanschauungen. Anfangs triumphierte der Faschismus, und Hitlers Deutschland, ausgerechnet, war im Bunde mit der Sowjetunion. Zur gleichen Zeit folterte und ermordete die SS in den Konzentrationslagern deutsche Kommunisten. Das perverse Bündnis, das die totalitären Diktaturen 1939 geschlossen hatten, nutzte beiden. Stalin...

Blick ins Buch

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