«Verhülle dich mit Masken und mit Schminken …»
Das «Doppelleben» des Dr. med. Benn
Geboren 1886 und aufgewachsen in Dörfern der Provinz Brandenburg. Belangloser Entwicklungsgang, belangloses Dasein als Arzt in Berlin. (SW III, 448) Diese lakonischen Sätze gab Gottfried Benn, 34 Jahre alt, zu Protokoll, als er gebeten wurde, für die später berühmteste aller expressionistischen Lyrikanthologien «Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung» (1920) neben Gedichten einen kurzen Lebenslauf beizusteuern. Und in seiner Autobiographie Doppelleben (abgeschlossen Anfang 1950) finden sich zum Ende hin die Sätze: Herkunft, Lebensablauf – Unsinn! Aus Jüterbog oder Königsberg stammen die meisten, und in irgendeinem Schwarzwald endet man seit je. (IV, 164) Deutlicher kann man die Bedeutung der familiären, sozialen und regionalen Ursprünge, ja der eigenen Lebensumstände und des Biographischen schlechthin, nicht herunterspielen. Dass darin eine bewusste Autorstrategie am Werk ist, lehrt das späte Gedicht Verhülle dich – (1950/51):
Verhülle dich mit Masken und mit Schminken,
auch blinzle wie gestörten Augenlichts,
laß nie erblicken, wie dein Sein, dein Sinken
sich abhebt von dem Rund des Angesichts.
Im letzten Licht, vorbei an trüben Gärten,
der Himmel ein Geröll aus Brand und Nacht –
verhülle dich, die Tränen und die Härten,
das Fleisch darf man nicht sehn, das dies vollbracht.
Die Spaltungen, den Riß, die Übergänge,
den Kern, wo die Zerstörung dir geschieht,
verhülle, tu, als ob die Ferngesänge
aus einer Gondel gehn, die jeder sieht.
Markiert Benns wegwerfend lakonischer Satz von 1920, in dem er den bürgerlichen Lebensgang als vernachlässigenswert abtut, die Künstlerexistenz als vorrangig (wenngleich unausgesprochen), so treibt das Gedicht des Fünfundsechzigjährigen die angedeutete Haltung ins Extrem: Der hier aus dem Kern der Spaltungen, des Risses, der Zerstörung heraus seine Ferngesänge spricht, also aus tief reichenden existenziellen Prägungen, ist ein anderer als der, den jeder sieht, den seine Mitmenschen, öffentlich oder privat, alltäglich wahrnehmen – höflich (immer), bescheiden (zumeist), umgänglich (nicht immer). Sich-Verbergen, Sich-Verhüllen, ja Verstellung als selbst gewählte Haltung.
Spätestens seit Mitte der 1930er Jahre hat Benn diesen schon früh angenommenen Habitus, die Lebensstrategie des Doppellebens, weiter kultiviert und ausgeformt. Seine Autobiographie unter ebendiesem Titel Doppelleben beschreibt und rechtfertigt sie, im Rückgriff auf andere eigene Texte, ausführlich. Die Einheit der Persönlichkeit ist eine fragwürdige Sache, heißt es da, und zuvor schon: wir denken etwas anderes als wir sind (IV, 135f.). Benn konstatiert damit einerseits etwas sehr Banales (und unterstützt eine solche Lesart durch ebensolche Beispiele – etwa, dass man dem Schöpfer der Relativitätstheorie oder dem Sanskritforscher im Alltag nicht anmerke, was ihr Metier sei), zum anderen nimmt er die spätestens seit Nietzsche geläufige radikale Autonomie des Künstlers, jenseits aller bürgerlichen Bindungen, emphatisch für sich in Anspruch und treibt sie auf die Spitze. Hier: Das Leben – dies Speibecken, in das alles spuckte, die Kühe und die Würmer und die Huren –, das Leben, das sie alle fraßen mit Haut und Haar (IV, 139); hier auch: die bürgerliche Pflichterfüllung als Arzt, immer up to date, ob nun als Pathologe, Dermatologe und Venerologe oder Versorgungsmediziner bei der Wehrmacht (IV, 138), jedenfalls immer zuverlässig und klaglos, alles in allem mehr als vierzig Berufsjahre lang. Dort, gänzlich abgetrennt vom normalen «Leben»: der Ausnahmezustand der künstlerischen Produktion, das «Artistenevangelium» (Nietzsche), die Ausdruckswelt (I, 391 und passim), Gesteigertes, provoziertes Leben – Spannungen, Extraits (IV, 141).
Benns so konsequent erscheinende Zweiweltentheorie – hier das Geschäft und [dort] die Halluzinationen (IV, 143) – hat freilich noch einen anderen Grund als nur das auf höchste Höhen getriebene Selbstbewusstsein des Künstlers, der seine Souveränität bis zum Äußersten verteidigt: Es ist sein eigener massiver Verstoß gegen diese Haltung im Epochenjahr der nazistischen Machtübernahme 1933/34. Vom 30. Januar 1933 bis in den Sommer 1934 hat der große Dichter sich den Mächtigen und ihren Medien in prominenter Weise zur Verfügung gestellt, Radioreden und Festansprachen gehalten und geholfen, die ‹Gleichschaltung› der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste zu bewerkstelligen. Seine schon damals ausgearbeitete Lehre vom Doppelleben hat Benn damit eklatant verletzt, ja ad absurdum geführt. Schrittweise zur Besinnung gekommen, hat er dann umso entschiedener auf sie zurückgegriffen und jede Form ‹engagierter›, sich in politische Geschäfte einmischender, gar Partei ergreifender Kunst und Literatur abgelehnt und als verächtlich dargestellt. Sich endgültig zurückziehen und «verhüllen» hieß jetzt die Devise.
Soll sich, muss sich der Leser und Interpret von Benns Dichtungen diesem Gebot fügen? Widerspricht ein Sich-Einlassen auf Zeitumstände, Herkunft, Lebensablauf des Autors einem angemessenen Verständnis von Benns literarischen Texten? Keineswegs, das Gegenteil ist der Fall – und man hat auch dabei, zunächst überraschend, den Dichter auf seiner Seite. Ich bin nicht geworfen, heißt es in Der Ptolemäer (abschätzig gegenüber dem nach 1945 modischen Existenzialismus), meine Geburt hat mich bestimmt (II, 256). Gewiss, es sind vor allem die zwischen 1930 und 1933/34 entstandenen Essays, in denen Benn über die Ursachen von Genialität und Schöpfertum räsoniert, sich dabei fatal biologistischen Vorstellungen von Erbmasse (I, 223ff.) und Züchtung (I, 214ff.) annähert und sich am Ende sogar gezwungen sieht, gegenüber Vorwürfen, selbst jüdisch bzw. «verjudet» zu sein, eine regelrechte genealogische Rechtfertigung (IV, 156) zu konstruieren. Jenseits davon bleibt die Überzeugung des Dichters über die Jahrzehnte hinweg, zutiefst von der sozialen und landschaftlichen Konstellation seiner Herkunft geprägt zu sein wie auch von späteren Einflüssen seiner schulischen und schließlich akademischen Sozialisation an einer Militärakademie. Kurze Aufsätze wie Die liebe Fremde (über seine Mutter; SW IV, 91f.) und vor allem Das deutsche Pfarrhaus (SW IV, 113f.), aber auch wiederholte Hinweise auf seine Formung durch die Pépinière, die Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Berlin zwischen 1905 und 1911, belegen das.
So zeigt sich, dass die bedeutendsten literarischen Texte des Dichters sich ohne Kenntnis des Biographischen nie befriedigend erschließen lassen – von den Morgue-Gedichten (1912) und den Rönne-Novellen Gehirne (1916) über Prosatexte der Jahre um 1918 bis hin zu den unter dem Schreibverbot seit 1938 entstandenen Biographischen Gedichten (OB I, 297) sowie den großen Prosatexten Roman des Phänotyp (1944) und Der Ptolemäer (1947), auch den offen autobiographischen Parlando-Gedichten der letzten Jahre, ganz zu schweigen von der Autobiographie Doppelleben. Benns Lebensstrategie des kalkulierten, vieles abspaltenden und verhüllenden Doppellebens muss von seinen Lesern nicht einfach hingenommen und repetiert werden. Weder die Ausformung seiner individuellen Dichtersprache und seiner frühen geistigen Assoziationsräume noch seine spätere weltanschauliche Entwicklung, noch auch sein zutiefst irritierendes Verhalten in den Jahren 1933/34 samt den Konsequenzen daraus lassen sich ohne die Koordinaten seiner ersten Lebensjahre zureichend verstehen. Also werden sie hier dargestellt und entsprechend stark gewichtet.
Freilich sind dem ‹Verstehen› sowohl des Lebenslaufs als auch des Zusammenhangs von Leben und Werk Grenzen gesetzt. Zwar hat die biographisch orientierte Benn-Forschung der siebziger und achtziger Jahre (mit Thilo Kochs «biographischem Essay» von 1957 und F.W. Wodtkes Realienbuch von 1962 als gehaltvollen Vorläufern) Licht ins – vom Autor wie von unkritischen Verehrern oft gewollte – Dunkel bringen können. Dazu haben Psychoanalyse (Schünemann 1977; Sahlberg 1977; Theweleit 1994 – Letzterer mit einer sehr produktiven Version), Sozialisationstheorie, Sozialpsychologie und Wissenssoziologie im Verbund (Schröder 1978) sowie avancierte Versionen von Geistesgeschichte (Schöne 1958/68; von Wallmoden 1988, 2003 u.a.) und Milieutheorie (Rübe 1993) beigetragen, und doch muss man sich vor dem hüten, was Pierre Bourdieu die «biographische Illusion» genannt hat, nämlich der Vorstellung vom einzelnen Menschenleben als einem plausiblen Entwicklungsroman. Wir haben das Verlangen, uns den einzelnen Menschen als eine über den ganzen Lebenslauf hin kohärente, stimmige Persönlichkeit vorzustellen. Widersprüche, Brüche gar irritieren uns. Ist dies schon ein illusionärer Wunsch bezogen auf sogenannte Normalbürger, so erst recht, wenn es um moderne Künstler geht. Und für kaum einen gilt es...