2. Der Karäismus
a) Der geschichtliche Kontext
Bevor wir zur Strukturanalyse des Karäismus schreiten, sei ein kurzer Blick auf seine Geschichte geworfen, wie ihn uns der heutige Stand der Forschungen ermöglicht. (Vgl. besonders die ausgezeichnete Darstellung der Geschichte des Karäismus in der Realenzyklopädie für Protestantische Theologie und Kirche, Band X, S. 54°ff.) Der Stifter der Sekte der Karäer (= Söhne der Schrift [Bene Mikrah], von karo = lesen) ist Anan ben David, der 761 zur Zeit des Kalifats von Abu Ga’far al-Mansur mit seinem Bruder um die Würde des Exilarchen in Streit geriet. Als es ihm nicht gelang, das Exilarchat an sich zu reißen, gründete er eine neue Sekte. Beim Kalifen wurde er wegen dieses Aufruhrs angeklagt und vermochte sich nur dadurch zu retten, dass er vorgab, seine Religion sei von der des rabbinischen Judentums ganz verschieden. Vor allem sei seine Berechnung des Neumonds nicht die des rabbinischen Judentums, sondern entspreche der des Islam.
Mag auch die Aussage, die ihm zugesprochen wird, nicht genau in dieser Formulierung und Prägnanz von ihm gesagt worden sein, so drückt sie doch seine antirabbinische Tendenz treffend aus: „Forschet sorgfältig in der Thora!“ Er und seine Anhänger wurden mit dem Bann belegt (vgl. J. Fürst, 1862, S. 59) und aus dem Kreis des Judentums ausgeschlossen. Die Karäer ihrerseits sagten sich von den Rabbaniten los [den Anhängern der rabbinischen Tradition]. Von ihrer langsamen Lostrennung von der jüdischen Gemeinschaft wird später zu sprechen sein.
Anan ben David verfasste das Sefer ha-Mizwot [„Buch der Gebote“], eine Kodifizierung aller von ihm als gültig anerkannten Gesetze; ferner schrieb er einen Kommentar zum Pentateuch und schließlich die Schrift Fadlaka („Summe“), die wohl eine Dogmatik [oder eine Zusammenfassung des Sefer ha-Mizwot] war. Erhalten haben sich von seinen Werken nur größere zusammenhängende Stücke aus dem Sefer ha-Mizwot, Stellen aus verschiedenen Schriften von ihm und Zitate späterer Schriftsteller, die aus seinen Werken zitieren.
Der bedeutendste Nachfolger Anans war Benjamin ben Moses Nahawendi (um 830 bis 860). Er betonte vor allem, dass Gott unsinnlich und nicht menschenähnlich sei, [XI-054] ähnlich wie dies vor ihm schon der Perser Jehuda Judguan entsprechend der mohammedanischen Schule der Mu’tasila getan hatte (vgl. A. Neubauer, 1866). Gott sei zu erhaben, als dass er sich selbst dem Menschen offenbaren würde, so dass vielmehr die Offenbarung durch einen Engel erfolgt sei, der überhaupt alles getan habe, was die Thora Gott tun lässt. Von seinen Schriften hat sich nur das Sefer Dinim (Rechtsvorschriften) erhalten, die übrigen Schriften (Kommentare zu verschiedenen Schriften der Bibel und ein Sefer ha-Mizwot) kennen wir nur auf Grund von Zitaten bei anderen. Er war der erste karäische Autor, der in hebräischer Sprache schrieb. Er bildete die Theologie des Karäismus weiter aus, nahm aber gegenüber dem Rabbinismus keine so feindselige und hasserfüllte Stellung mehr ein wie sein Vorgänger Anan.
Im Zehnten Jahrhundert breitete sich der Karäismus rasch aus. War er schon früher nach Palästina gekommen, so finden wir ihn jetzt auch in Griechenland und Spanien. Gleichzeitig verloren die Karäergemeinden in Persien und Babylonien an Bedeutung. Die Karäer in Jerusalem bildeten eine besondere Gruppe. Sie nannten sich Awele Zions („um Zion Trauernde“) und hatten starke asketische Züge. Einer ihrer bedeutendsten Gelehrten war Nissi ben Noach (um 850 n. Chr.). Er schrieb ein Werk über die religiösen Pflichten.
Den geistigen Höhepunkt erreichte der Karäismus im Zehnten und Elften Jahrhundert, zu einem Zeitpunkt, da ihm in Gaon Saadja (892-942) sein stärkster Gegner aus dem Rabbinismus entgegentrat. In seinen Widerlegungen und in dem Buch der Unterscheidungen behandelte Gaon Saadja die strittigen Punkte zwischen Karäismus und Rabbinismus und griff die Karäer ähnlich heftig an wie in seinem religionsphilosophischen Werk Buch von Glaube und Wissen.
Die Karäer wehrten sich ebenso energisch gegen die Angriffe. Salmon ben Jeroham wies in seinem Buch Milchamoth Adonaj [„Buch der Kriege Gottes“] und in seinen Kommentaren zu einigen Büchern der Bibel Saadjas Argumente zurück. Desgleichen wehrten sich Sahl ben Masliach (um 950 n. Chr.), dessen hebräische Grammatik leider verloren gegangen ist, und Japhet ben Eli (ca. 915-1008 n. Chr.), von dem uns Teile seines Pentateuchkommentars sowie Kommentare zu Jesaja, Jeremias, den kleinen Propheten, zu den Psalmen sowie zu den Sprüchen Hiobs und Daniels erhalten sind.
In der ersten Hälfte des Zehnten Jahrhunderts gibt es eine karäische Philosophie, die sich im wesentlichen der mohammedanischen Schule des Mutakallimun (Lehrer des Wortes) angeschlossen hatte. Diese wollte die Glaubenssätze mit der Vernunft begründen. Besonders die Mutaziliten, eine mohammedanische Sekte, beeinflussten die Karäer, die an Stelle des Buchstabenglaubens der palästinensischen Orthodoxie bezüglich der Prädestinationslehre, der Lehre von den Attributen Gottes und des Verständnisses von Offenbarung rationale Formulierungen des Dogmas setzten. Von den Mutaziliten geprägt war besonders das Buch der Prüfung und die Rechtfertigung des göttlichen Gerichts von Josef ben Abraham al Basir.
Endlich sei noch ein Vertreter der mehr asketisch-mystischen Richtung des Karäismus genannt: Juda Hadassi (1075-1160). Sein außerordentlich schwerfällig geschriebenes hebräisches Werk Eschkol Ha-Kofer repräsentiert Gesetz und Anschauung dieses Zweiges des Karäismus. [XI-055]
Mit dem Zwölften Jahrhundert beginnt der Karäismus zu zerfallen und zeitigt auch keine bedeutenden Menschen und Werke mehr. Die Sekte der Karäer ist vor allem noch in Litauen, in Polen und auf der Insel Krim vertreten. Hier leben sie friedlich mit den Rabbaniten zusammen, mit ihnen das gemeinsame Leiden und das Unterdrücktsein durch die fremden Herrscher tragend. Als die Nachkommen der Karäer im Neunzehnten Jahrhundert in Russland bürgerlich gleichgestellt werden konnten, waren sie rasch bereit, auf alle Gemeinsamkeiten mit den Juden zu verzichten – und sie erreichten, was sie wollten. Durch ihre rechtliche Gleichstellung besserte sich rasch ihre wirtschaftliche Lage. Sie wurden reiche Tabakfabrikanten, die sich allmählich auch wieder den Luxus eines geistigen Lebens leisten konnten. Zwar brachten sie es nicht mehr zu eigenen schöpferischen Gelehrten, doch konnten sie immerhin eine eigene Druckerei eröffnen, in der sie ihre Literatur druckten. Auch schenkten sie der Wissenschaft einen Mann, A. Tirkowitsch, der durch ausgedehnte Fälschungen von Grabsteinen und Dokumenten der wissenschaftlichen Erforschung des Karäismus Hindernisse in den Weg gelegt hat, an denen eine Anzahl von Autoren auch gestrauchelt ist.
b) Die wirtschaftlichen Ursachen für die Entstehung des Karäismus
1. Die wirtschaftliche, politische und kulturelle Situation zum Zeitpunkt der Entstehung des Karäismus
Die Ursachen für die Entstehung des Karäismus werden uns aus der Betrachtung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Situation des babylonischen Judentums vor und zur Zeit der Entstehung des Karäismus verständlich werden. Erst wenn wir die wirtschaftlichen Grundlagen für die Entstehung der Sekte untersucht haben, werden wir zur Analyse ihrer gesellschaftlich-religiösen Struktur schreiten.
Wie war die Situation des Judentums zur Zeit der Entstehung des Karäismus? Die Juden bewohnten seit Jahrhunderten das Land, und zwar ein ziemlich einheitliches Gebiet. Schon nach der Zerstörung des ersten Tempels [587 v. Chr.] war das Land eine Hochburg der jüdischen Tradition und Kultur. Auch wenn dann bis zur Niederwerfung des letzten jüdischen Aufstandes um die Mitte des dritten Jahrhunderts [n. Chr.] Palästina das Zentrum des Volkes und seiner Kultur war, so bestand in Babylonien doch schon eine alte nationale und kulturelle Tradition.
Zwischen 200 und 500 n. Chr. entstand dort der babylonische Talmud (vgl. H. L. Strack, 1908), der die Mischna (das außerbiblische Gesetz, die erste Kodifizierung der „mündlichen Lehre“) und eine Zusammenfassung der Diskussionen über die Mischna enthält. In den Lehrhäusern von Sura [Rabbi Huna], Pumbadita [Rabbi Joseph ben Chija] und Nahardea lehrten die bedeutendsten Führer der Nation vor Tausenden von Schülern aller sozialen Klassen. Die Schulen in Palästina verloren ihre Bedeutung, die Gelehrten siedelten nach Babylonien über, so dass die babylonische Epoche des [nachbiblischen] Judentums eine kulturelle Blütezeit des jüdischen Volkes war.
Der geschlossenen autonomen nationalen Kultur entsprach auch die rechtliche Lage [XI-056] der Juden in Babylonien. Sie genossen völlige politische Autonomie. Der äußere politische Repräsentant dieser Autonomie war der Exilarch, der zugleich ein hoher Beamter des neupersischen Reiches war. Die Repräsentanten des geistigen Lebens hingegen waren die Oberhäupter der großen Lehrhäuser. Die Gerichtsbarkeit lag völlig in jüdischen Händen. Jeder Jude unterlag dem talmudischen Recht.
Das talmudische Recht aus der babylonischen Zeit kann als Spiegel der damaligen wirtschaftlichen Situation verstanden werden. Diese gilt es zunächst darzustellen. (Vgl. zum Folgenden S. Funk, 1902 und 1908; G. Caro, 1908, Band I; L. Herzfeld, 1879; I. Schipper, 1907.)
Die Juden in Palästina und Babylonien waren beruflich...