Kapitel 2
Der fotografische Prozess als bewusstes Gestalten
»When you take a photograph,« she said, »you look in a more objective way,« but there is also a connection between photographer and subject. »It’s recognition, as Diane Arbus said.«
Manche Fotografen fokussieren möglicherweise zu stark auf die Technik, »Schärfe« ist für sie das wichtigste Konzept. Offensichtlich glauben sie, der Realität damit am nächsten zu kommen. Dies kann durchaus auch so sein, sofern die Schärfe nicht dem Selbstzweck, sondern der Gestaltung dient. Aber kommt es in der Portraitfotografie wirklich immer auf die Schärfe an? Wird nicht sogar in der Beauty-Fotografie oft die Haut geglättet und jede Falte entfernt, um das Portrait eben gefälliger zu machen oder dem anzupassen, was wir in der Regel als schön empfinden? So konnte beispielsweise eine Untersuchung an den Universitäten Rostock und Regensburg zeigen, dass das, was wir als »Beauty« wahrnehmen, dem Durchschnittlichen nahe kommt. Das heißt, dass wenige Unterschiede in den einzelnen Vorstellungen darüber existieren, was als schön angesehen wird. Dabei kommt es vor allem auf die Augen (groß, leuchtend, bestimmter Abstand voneinander), die Haut (rein) und gewisse Proportionen (Verhältnis Oberkörper und Unterkörper 0.7 zu 1.0) an (siehe Freeman 2013). Diese »technischen« Werte wurden mittels tausender digital gemorphter Bilder ermittelt. Das wirft die Frage auf: Wollen wir wirklich Einheitsportraits, die diesen eher oberflächlichen Kriterien genügen? Wie können wir uns von dem Wunsch, ein gefälliges Portrait zu erstellen, lösen und stattdessen in die Tiefe gehen, wo die wirkliche Schönheit verborgen liegt?
In dem Buch »50 Portraits« skizziert Gregory Heisler seine Überlegungen und Herangehensweise bei der Anfertigung seiner Portraits, die er meist von bekannten Personen gemacht hat. Dabei beschreibt er den »fotografischen Prozess« mit allen Aspekten, die mir wichtig erscheinen. Hierzu gehören zwar auch die Vorbereitung und Planung (das Was und Wie, also eher der »Kopf«) aber vor allem die Interaktion mit dem Model und der fotografische Prozess an sich. Denn hierbei ergeben sich verschiedene psychologische Prozesse, die diesen Prozess kennzeichnen: (a) das Wahrnehmen der Situation (Was sehe ich überhaupt?); (b) Achtsamkeit (Fähigkeit, Details wertungsfrei zu erkennen); (c) Kommunikation (Coaching, Kontakt zum Model) und (d) das Komponieren und Auslösen (Entscheidung). Alle diese Aspekte sind wichtig, sie erfordern Konzentration auf die Sache und können trainiert werden! Ein Beispiel: Mein Ziel war es, ein authentisches Portrait eines befreundeten Professors zu erstellen, in dem ich nicht seine eher heitere, aber aus meiner Sicht auch weniger authentische Art festhalte, sondern eher seine Tiefe, Intelligenz, Melancholie. Wie kann ich das erreichen? Die Zutaten sind die Komposition (sehr nah, das verleiht Tiefe), ein ernster, konzentrierter Gesichtsausdruck und Empathie (sich Einfühlen in die fotografierte Person). Die Technik an sich (welches Objektiv, Kamera) sind dabei eher zweitrangig, nur das Licht ist entscheidend.
In diesem Buch werden Sie viele Anregungen bekommen, wie Sie ein authentisches und intensives Portrait herstellen können. Dabei sind mein psychologischer Hintergrund (als Psychotherapeut) und meine Erfahrungen als leidenschaftlicher Fotograf ganz entscheidend für meine Sichtweise auf die »Menschenfotografie«, denn die Psychologie kann der Fotografie eine gewisse Tiefe und Reflektiertheit verleihen. Begabte Menschen-Fotografen sind auch meist gute Psychologen. Die Psychologie verhilft uns zudem dazu, das Selbst besser zu verstehen und somit auch Fragen zu klären, warum wir fotografieren und wie wir es schaffen können, unsere Gefühle und Gedanken fotografisch umzusetzen. In meinen Projekten verbinde ich das Fotografieren auch direkt mit der Psychologie. Die Projekte umfassen beispielsweise Aufnahmen von Patienten während einer Psychotherapie (Buch: »Therapie wirkt«2) oder die Auseinandersetzung mit der Borderline-Störung. In den Ausstellungen, die wir dazu durchgeführt haben, sprechen mich immer wieder Menschen an. Einige berichten mir, wie sehr sie die Portraits bewegt haben (das größte Kompliment für mich), andere sind eher irritiert über den Mut der sich dort offen »zeigenden« Patienten und wieder andere wollen vor allem wissen, wie ich was fotografiert habe. Einig waren sich alle darüber, dass die Portraits eine Geschichte erzählen, Emotionen zeigen und erzeugen und dass die kurzen Zitate aus den Gesprächen mit den Patienten hilfreich für das Verständnis des Bildes waren. Das folgende Beispiel dokumentiert, was ich meine:
»Früher habe ich mir immer gewünscht, am liebsten würde ich Krebs kriegen und nicht diese Depressionen haben, damit die Leute das sehen, aber im Moment wünsche ich mir nichts mehr, als gesund zu sein«
Dieses Portrait und der Text machen aber auch sichtbar, welche große Bedeutung Vertrauen während des Fotografierens hat! Ein Portraitfotograf, der es nicht schafft, Vertrauen und Sicherheit herzustellen, wird selten gute Portraits aufnehmen, oder ihm wird das Innerste der portraitierten Person verborgen bleiben. Hätte mir diese Patientin in einem normalen Shooting so viel von sich gezeigt? Ich denke nicht. Heisler1 beschreibt das so:
»Does the person sitting for the portrait trust the photographer enough not to get in the way of his version – not to seek to be both the subject and the artist?«
Eine weitere Portraitaufnahme soll das demonstrieren. Bei dem Model handelt es sich um eine Frau mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese psychische Störung zeichnet sich durch eine starke Emotionalität aus, mit intensiven Stimmungsschwankungen, geringem Selbstwertgefühl, Impulsivität, Todessehnsucht und Angst, oft auch selbstverletzendem Verhalten (also u. a. sich zu schneiden). Die Patienten sind aber auch kreativ, lebhaft und liebenswert! Ich habe lange über die Ursachen geforscht und mit diesen Menschen auch therapeutisch gearbeitet. Es war klar, dass ich behutsam vorgehen musste, um einerseits die Zerbrechlichkeit abzubilden, andererseits aber auch nicht zu viele Gefühle auszulösen. Wie man das unter Verwendung von Gesprächs-/Körpertechniken genau macht, beschreibe ich im folgenden Kapitel. Nur so viel an dieser Stelle: Ohne eine enge Vertrauensbeziehung wäre mir dieses Foto nicht gelungen. Mein Model musste sich öffnen, ohne dabei jedoch das Gesicht zu verlieren. Die Zerbrechlichkeit, der Wunsch nach Liebe und das ängstliche sich Verstecken sind Themen dieser Aufnahme. Fotografiert man auf diese Art und Weise entstehen intime, emotionale Momente, der Blickkontakt wird zum beiderseitigen Sehen in die Seele oder besser in das Wesen. Dies ist zutiefst befriedigend und bewirkt eine wirkliche Begegnung mit dem Menschen, der fotografiert wird. Durch die intensive Konzentration auf das Festhalten des Moments wird zudem die Beziehung des Fotografen zum Bildmotiv verstärkt. Viele Fotografen haben danach das Gefühl, das Motiv gehöre zu ihnen.3
Vertrauen und Intimität: die Grundlagen eines guten Portraits
Lassen Sie uns mit dem Wichtigsten beginnen: dem Aufbau von Vertrauen. Welche Techniken sind hilfreich dabei, tiefer in die Persönlichkeit, das Wesen eines Menschen einzutauchen und diesen zu verstehen, und zwar ohne Schubladen zu öffnen oder Bewertungen und Projektionen zu viel Raum zu geben? Wie können wir wahrhafte, ehrliche Portraits erstellen, die einen dominanten Wesenszug der fotografierten Person einfangen? Denn jede zu rasche Bewertung reduziert unsere Wahrnehmung auf das, was wir sehen wollen, und nicht auf das, was wir sehen könnten. Bedenken Sie, wir alle sind nicht frei von unseren Projektionen, damit meine ich, dass wir oft Dinge sehen, die uns selbst näher sind, während wir andere nicht registrieren, weil sie uns fremd sind. Wenn Sie beispielsweise ein eher optimistischer Mensch sind, wird es Ihnen schwerer fallen, Melancholie und Verzweiflung bei anderen zu sehen. Diese Selektionseffekte treten immer dann auf, wenn Sie es nicht schaffen, anderen Personen erst einmal wertungsfrei zu begegnen. Denn diese Wertungsfreiheit ermöglicht den Prozess der wahren Begegnung. Ich möchte Ihnen einige Coaching-/Gesprächstechniken zeigen, die hilfreich dabei sein können, wahrhafte und ehrliche Portraits zu erstellen. Vor der Darstellung dieser Techniken stelle ich jedoch das Interview mit dem Aufsichtsratsvorsitzendem der Leica AG und passionierten Fotografen Dr. Andreas Kaufmann.
Wir unterhielten uns über das »Wesentliche« in der Fotografie und inwieweit sich das Wesen eines Menschen fotografisch abbilden lässt. Natürlich fragte ich ihn auch, welche Bedeutung die Kamera dabei hat.
(Fotograf: Sven Barnow)
SB: | Lieber Herr Dr. Kaufmann, erst einmal herzlichen Dank dafür, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview nehmen. Das Thema ist Psychologie der Fotografie. Was fällt Ihnen hierzu spontan ein? |