|21|2 Ansätze zur Erklärung von Multitasking
2.1 Multitasking bei der Arbeit: Verbreitung und Abgrenzung von verwandten Phänomenen
Wie in den vorangegangenen Abschnitten herausgearbeitet wurde, steht im Mittelpunkt dieses Buches die Intensivierung und Verdichtung der Arbeit als eine Folge der oben beschriebenen Veränderungen in der Arbeitswelt. Für die Beschäftigten treten diese u. a. darin zutage, dass sie verschiedene Aufgaben gleichzeitig zu betreuen haben. Nach Einschätzung der Erwerbstätigen stellt dieses landläufig als „Multitasking“ bezeichnete Phänomen die am stärksten verbreitete Anforderung der modernen Arbeitswelt dar (vgl. Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin; Lohmann-Haislah, 2012).
Im folgenden Unterkapitel wird Multitasking bei der Arbeit phänomenologisch eingegrenzt. Auf der Grundlage aktueller Repräsentativ- und Feldstudien wird zunächst beschrieben, wie häufig und bei welchen Tätigkeiten Arbeitnehmer Multitasking-Anforderungen ausgesetzt sind (2.1.1). In Abschnitt 2.1.2 grenzen wir Multitasking von verwandten Konstrukten ab. Das Unterkapitel schließt mit der Beschreibung unterschiedlicher Komponenten und einer Arbeitsdefinition von Multitasking (2.1.3), die als Grundlage für die folgenden Kapitel herangezogen werden kann.
2.1.1 Verbreitung von Multitasking bei der Arbeit
Multitasking kann vorläufig als Verhalten definiert werden, mit dem versucht wird, mehrere Aufgaben in einem begrenzten Zeitraum parallel zu bewältigen. Wann und wie häufig kommt es im Arbeitsalltag vor, dass mehrere Aufgaben parallel bearbeitet werden? Angaben zur Verbreitung von Multitasking bei der Arbeit stammen aus unterschiedlichen Quellen: Repräsentativbefragungen, Mitarbeiterbefragungen und Tätigkeitsbeobachtungen in Unternehmen.
2.1.1.1 Ergebnisse aus Repräsentativbefragungen
Eine Repräsentativbefragung Erwerbstätiger, die regelmäßig Auskunft über die Verbreitung bestimmter Arbeitsanforderungen und -belastungen sowie deren Veränderung über die Zeit gibt, ist die zuletzt in ihrer sechsten Welle als „Stressreport“ (Lohmann-Haislah, 2012) veröffentliche Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Im Fokus der Befragung stehen Tätigkeitsschwerpunkte, Arbeitsanforderungen, Arbeitsbedingungen, Arbeitsbelastungen, Beanspruchungen und gesundheitliche Beschwerden. 2011/2012 nahmen über 20 000 Erwerbstätige ab 15 Jahren mit einer bezahlten Tätigkeit von mindestens 10 Stunden pro Woche teil. Auf einer vierstufigen Skala von „nie“ bis „häufig“ war die Häufigkeit von insgesamt 14 Anforderun|22|gen aus dem Arbeitsinhalt und der Arbeitsorganisation anzugeben. Zusätzlich wurde das „Belastetsein“ durch die jeweilige Anforderung (Frage: „Belastet Sie das?“; Antwortmöglichkeiten: „ja“ oder „nein“) erfasst. „Verschiedene Arbeiten gleichzeitig betreuen“ stellte in beiden Befragungen die am häufigsten genannte Anforderung dar: 59 % gaben 2005/2006 und 58 % gaben 2011/2012 an, diese Anforderung trete in ihrem Arbeitsalltag „häufig“ auf (vgl. Abb. 5). Im Branchenvergleich waren Beschäftigte in Erziehung und Unterricht (71 %), Gesundheits- und Sozialwesen (68 %) und freiberuflichen, technischen und wissenschaftlichen Dienstleistungen (66 %) besonders häufig davon betroffen. Allerdings erlebten 2005/2006 27 % und 2011/2012 nur noch 18 % der Befragten diese Anforderung als psychisch belastend, deutlich weniger als jene Belastungen, die durch starken Termin- und Leistungsdruck (34 %) oder durch Arbeitsunterbrechungen (26 %) entstanden.
2.1.1.2 Ergebnisse aus Mitarbeiterbefragungen
Belastbarere Aussagen zur Verbreitung von Multitasking liegen ebenfalls aus Befragungen vor, die nicht auf einzelnen Fragen, sondern auf ganzen Skalen beruhen. König, Oberacher und Kleinmann (2010) entwickelten eine aus vier Fragen bestehende Skala mit sieben Antwortstufen, die Multitasking-Verhalten bei der Arbeit erfassen soll (vgl. folgender Kasten). In der Studie wurden 192 Marketing- und Vertriebsmitarbeiter eines Schweizer Pharmaunternehmens u. a. mit dieser Skala befragt. Es zeigten sich positive Korrelationen mittlerer Höhe zwischen der Skala zur Erfassung des Multitaskings-Verhaltens und fiktiven vorgegeben Multitasking-Situationen (vgl. König et al., 2010), was als Validierungsbeleg gewertet werden kann.
|23|
* Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Marketing- und Vertriebsmitarbeiter in der Studie von König und Kollegen (2010) stimmten diesen Aussagen, mehrere Dinge bei der Arbeit gleichzeitig zu verrichten, „etwas eher zu“ als „nicht zu“ (M = 4.74; SD = 1.03). In einer eigenen Untersuchung setzten wir die gleiche Skala bei 326 berufstätigen Studierenden einer Fernhochschule, bei 93 Serviererinnen in Gastronomie und Hotels sowie bei 292 Studierenden an der eigenen Hochschule ein (Zimber & Chaudhuri, 2013). Insgesamt traf bei den Berufstätigen Multitasking-Verhalten „eher zu“ als an einer |24|Aufgabe allein zu arbeiten (vgl. Abb. 6). Am häufigsten war dies bei den Serviererinnen der Fall. Studierende betrachteten dieses Verhalten eher als „neutral“, d. h. serielles Bearbeiten erfolgte nach ihrer Meinung mindestens ebenso häufig wie paralleles. Die Unterschiede zwischen Serviererinnen, berufstätigen Studierenden und Vollzeitstudierenden fielen statistisch hochsignifikant ( p < .001) aus, was augenscheinlich als Hinweis auf die Validität dieser Skala gewertet werden kann. Denn Serviererinnen müssen gerade in Stoßzeiten sehr viele Vorgänge gleichzeitig im Blick behalten, während Studierende zumindest mehr Möglichkeiten haben, eine (Lern-)Aufgabe nach der anderen zu bearbeiten.
In einer Tagebuchstudie verwendeten Baethge und Rigotti (2013a) vier Items aus dem „Instrument zur stressbezogenen Tätigkeitsanalyse“ (ISTA; Semmer, Zapf & Dunckel, 1999). Die Fragen wurden auf die letzte halbe Arbeitsstunde bezogen. „In der letzten halben Arbeitsstunde:
… musste ich viele Dinge gleichzeitig im Kopf haben;
… erhielt ich Aufgaben, die ich gleichzeitig bearbeiten musste;
… gab es Momente, die für kurze Zeit höchste Konzentration erforderten;
… kam es vor, dass mehrere Personen gleichzeitig etwas von mir wollten“.
Die möglichen Antworten reichen von „nie“ (1) bis „immer“ (5). Baethge und Rigotti setzten die Fragen bei 133 Gesundheits- und Krankenpflegerinnen in 10 Krankenhäusern zu drei Zeitpunkten während der Frühschicht über fünf Arbeitstage ein. Insgesamt gaben die Befragten an, Multitasking „manchmal“ (M = 3.15) tätigen zu müssen.
2.1.1.3 Ergebnisse aus Tätigkeitsbeobachtungen
Bei subjektiven Aussagen zu Multitasking-Anforderungen und Multitasking-Verhalten kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Befragten ein einheitliches Verständnis von Multitasking mitbringen. In Tiefeninterviews mit 21 Chefsekretärinnen konnte nur bei drei Personen ein Vorverständnis festgestellt werden, das der wissenschaftlichen Definition von Multitasking entspricht (Zimber et al., 2010). Die Mehrheit der Befragten setzte Multitasking damit gleich, viele Dinge unter Zeitdruck erledigen zu müssen, wodurch subjektiv der Eindruck von Gleichzeitigkeit entsteht.
Aufgrund der Unsicherheit, mit der subjektive Angaben belastet sind, versuchten wir in einer eigenen Feldstudie (Zimber, 2010; Zimber et al., 2010) Multitasking-Verhalten möglichst objektiv anhand von Tätigkeitsbeobachtungen zu erfassen. Mithilfe des Instruments wurden bei 10 Verwaltungsangestellten Arbeitstätigkeiten in Zeiteinheiten von 30 Sekunden...