2. OTTO VON BISMARCKS POLITISCHES DENKEN
Das politische Denken Bismarcks, aus dem er ab 1862 als preußischer Ministerpräsident und ab 1871 als deutscher Reichskanzler seine Entscheidungen ableitete und das ihn auch noch nach seinem 1890 erfolgten Abschied aus beiden Ämtern bis zu seinem Tod 1898 bestimmte, hat seine wesentlichen Prägungen in den 1830/40er Jahren erfahren.
Für seinen Weg in die Politik wegweisend waren die Jahre 1847–49 und damit der »Aufruhr gegen die Ordnung der Dinge«.1 Denn zwischen der 1815/16 geschaffenen politischen Ordnung und der seitherigen sozialökonomischen Entwicklung war eine gefährliche Asymmetrie entstanden. Bismarcks Weg in die Politik hat hier ihre entscheidenden Wurzeln.
Das Verändern stand dabei aber nur an zweiter Stelle. Entscheidender war das Bewahren. Das zeigen v.a. seine Handlungsmuster im und nach den militärischen europäischen Konflikten von 1866 und 1870/71 sowie in den innenpolitischen Spannungsfeldern und den internationalen Beziehungen des Deutschen Kaiserreiches in den 1870/80er Jahren.
2.1. POLITISCHE PRÄGUNGEN
Wenn es zutrifft, was Bismarck in einem Brief vom Mai 1860 schrieb, »daß niemand den Stempel wieder verliert, den ihm die Zeit der Jugendeindrücke aufprägt«, dann war die Prägung seiner Sichtweise »mit den Augen meiner Standesgenossen, der Ritterschaft« erfolgt.2 Die Folge daraus hat Bismarck im gleichen Brief auf einen klaren Nenner gebracht: »Mit meinem eigenen Lehnsherrn stehe ich und falle ich, auch wenn er sich meines Erachtens thöricht zu Grunde richtete.«3
Zeittafel I (1815–1849)
1. April 1815: Geburt Otto von Bismarcks in Schönhausen bei Stendal
8. Juni 1815: Gründung des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongress
1832: Abitur Bismarcks im Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin
Mai 1832: Hambacher Fest (»Nationalfest der Deutschen«)
1832: Immatrikulation Bismarcks an der Universität Göttingen. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften
1833: Wechsel zur Universität Berlin
1835: Erstes juristisches Staatsexamen; anschließend Referendariat in Berlin, Aachen und Potsdam
1838: Abbruch des Referendariats; Verwaltung der pommerschen Familiengüter
1846: Übernahme des Gutes Schönhausen; Deichhauptmann von Jerichow für das rechte Elbufer
1847: Abgeordneter im Vereinigten Preußischen Landtag; Vermählung mit Johanna von Puttkamer
1848/49: Deutsche Revolution
28. April 1849: Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch den preußischen König
Die monarchisch-ritterschaftliche Prägung seines Elternhauses hat Bismarck nicht nur in seinen Studienjahren, sondern darüber hinaus sein Leben lang bewahrt. Eine wichtige Facette kam in seiner Referendarszeit dazu. So schrieb er in einem Brief im September 1836 an den Vater: »Die Wirksamkeit des einzelnen Beamten bei uns ist wenig selbstständig, auch die des höchsten, und bei den andern beschränkt sie sich schon wesentlich darauf, die administrative Maschinerie in dem einmal vorgezeichneten Gleise fortzuschieben. Der preußische Beamte gleicht dem Einzelnen in einem Orchester; mag er die erste Violine oder den Triangel spielen: ohne Übersicht und Einfluß auf das Ganze, muß er sein Bruchstück abspielen, wie es ihm gesetzt ist, er mag es für gut oder schlecht halten. Ich aber will Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine.«4
Sein Ausscheiden aus dem juristisch-administrativen Staatsdienst war für Bismarck deshalb nur folgerichtig. Dadurch widmete er sich für insgesamt ein Jahrzehnt der Verwaltung der Familiengüter, heiratete Johanna von Puttkamer (1847), betätigte sich aber auch – in allerdings sehr engem Rahmen – im öffentlichen Leben: als Deputierter in der Selbstverwaltung des Naugarder Kreises (60 km nordöstlich von Stettin) und »vertrat in dieser Funktion gelegentlich seinen Bruder Bernhard in landrätlichen Geschäften.«5 Zudem berichtet er in einem Brief vom Jahresanfang 1847 aus Schloss Schönhausen, dem Familiensitz bei Stendal im heutigen Sachsen-Anhalt, von der ihm in diesem Winter wegen des erhöhten Eisgangs und Wasserstandes der Elbe sehr zeitaufwändigen Tätigkeit als Deichhauptmann.6
Bismarcks politische Betätigung war bis zum Winter 1846/47 deshalb beschränkt auf das Kommunale. Dann wurde Bismarck jedoch als Nachrücker für einen erkrankten Abgeordneten des Sächsischen Provinziallandtages in den Vereinigten Landtag in Berlin berufen. Mit diesem preußischen Gesamtlandtag versuchte König Friedrich Wilhelm IV. die lauter werdenden Forderungen nach einer grundlegenden Staatsreform zu unterlaufen. Das gelang jedoch nicht, denn »die Eigendynamik der Verhandlungen führte rasch zur Formierung einer provinz- und ständeübergreifenden liberalen Fraktion und drängte damit auch die Gegenseite stärker zur konservativen Partei- und Fraktionsbildung als es vom König gewollt war.«7 Einen plastischen Eindruck von der damit entstandenen Konfliktlinie gibt ein Brief Bismarcks vom 18. Mai 1847. Tags zuvor hatte er seine erste Landtagsrede gehalten und sich mit ihr klar für die »Regierung« positioniert. Aber – so Bismarck – die »befindet sich, bei vollständigem Recht, stets in der Minderheit.«8 Das monarchisch-ritterschaftliche Ideal war damit in Gefahr.
Für Bismarck erwuchs daraus eine Lebensbestimmung: »Die Sache ergreift mich vielmehr als ich dachte.«9 Am Ende der zweimonatigen Sitzungsperiode hatte er »sich einen Namen gemacht als unbedingter Vorkämpfer der Krone, seinen Einfluss unter den hochkonservativen Kreisen der Hofpartei ausgebaut und selbst dem König war er aufgefallen.«10
Im Folgejahr begann dann die Deutsche Revolution. Freiheit und Einheit wurden nun zum politischen Generalthema – zunächst im Parlament. In der von der Deutschen Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche erarbeiteten Verfassung sah Bismarck in seiner Rede am 21. April 1849 in der Preußischen Zweiten Kammer eine »konstituierte Anarchie« und das aus gleich mehreren Gründen: Die »Verfassung bringt uns unter ihren Gedanken zuerst das Prinzip der Volkssouveränität. [… Sie] veranlaßt den [preußischen] König, seine bisher freie Krone als Lehen von der Frankfurter Versammlung anzunehmen, und wenn diese Volksvertreter es dreimal beschließen, so hat der König wie jeder andere Fürst, der Untertan des […] Bundesvolkes geworden ist, aufgehört zu regieren. [… Das nächste] Übel, welches uns die Frankfurter Verfassung bringt, ist die jährliche Bewilligung des Budgets. Durch diesen Paragraphen ist es in die Hände derjenigen Majorität, die aus dem Lottospiel dieser direkten Wahlen hervorgehen wird […], in die Hände dieser Majorität ist es gelegt, die Staatsmaschinerie in jedem Augenblick zum Stillstand zu bringen, indem sie das Budget nicht wieder bewilligt und so als Konvent die ganze königliche und jede andere Macht im Staate neutralisiert und das scheint mir in hohem Maße gefährlich. […] Die Frankfurter Versammlung verlangt ferner von ihrem zukünftigen Kaiser, daß er ihr das ganze Deutschland schaffe. […] Es wird also der König, wenn er Kaiser würde, genötigt sein, nach Österreich usw. Kaiserlich deutsche Kommissare zu schicken, um dort das Zoll- und Münzwesen usw. zu regulieren, die dortigen Armeen in Eid und Pflicht zu nehmen. […] Es wäre [aber] möglich, daß Österreich oder ein Staat wie Bayern sich dem nicht unterwerfen möchte; dann würde der Kaiser genötigt sein, die dortigen Fürsten als Rebellen zu behandeln. […] Die deutsche Einheit will jeder, den man danach fragt, […] mit dieser Verfassung aber will er sie nicht. […] Die Frankfurter Krone mag sehr glänzend sein, aber das Gold, welches dem Glanze Wahrheit verleiht, soll erst durch das Einschmelzen der preußischen Krone gewonnen werden und ich habe kein Vertrauen, daß der Umguß mit der Form dieser Verfassung gelinge.«11 Eine Woche später lehnte der preußische König die Deutsche Kaiserkrone ab.
Die nationale Idee blieb jedoch weiter bestehen: »Wir alle wollen, daß der preußische Adler seine Fittiche von der Memel bis zum Donnersberge schützend und herrschend ausbreite, aber frei wollen wir ihn sehen, nicht gefesselt von einem neuen Regensburger Reichstag und nicht gestutzt an den Flügeln von jener gleichmachenden Heckenschere aus Frankfurt.«12 Ein Deutschland also von Ostpreußen (Memel) bis zum Bayerischen Rheinkreis (Donnersberg in der Pfalz) war die Vision, aber nicht als...