Einleitung
Der eingefrorene Mann
Allem Anschein nach war der Patient auf dem Operationstisch tot. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, und in seinem Körper floss kein Blut mehr. Kein Beatmungsgerät sorgte dafür, dass er weiteratmete, und seine Lungen wurden nicht mit Sauerstoff versorgt. Das EKG-Gerät, das normalerweise bei jedem Herzschlag piepte, war still, weil es keinen Herzschlag gab. Alle Organe hatten ihre Funktion eingestellt, und auf dem EEG-Gerät waren keine Gehirnwellen zu sehen.
Tatsächlich war der Patient jedoch nicht tot, nicht wirklich. Er war in einem Scheintodzustand, und zwar wegen eines chirurgischen Eingriffs, der hypothermischer kardiopulmonaler Bypass bei Kreislaufstillstand genannt wird. Das ist ein Verfahren, bei dem man das Blut des Patienten vorübergehend durch eine Kühlflüssigkeit ersetzt, welche die Körpertemperatur auf etwa 10 Grad Celsius absenkt und alle Körperfunktionen zum Stillstand bringt. Wie der Tod, aber nicht ganz.
In diesem Fall ging es bei der Operation darum, einen Riss in der Aorta zu flicken, einer der Arterien, die vom Herzen wegführen. Das ist eine gefährliche Operation, aber wir hatten keine andere Wahl. Ohne den Eingriff wäre die geschwächte Aorta des Patienten irgendwann geplatzt, und das hätte ihn sofort getötet. Wenn ihn die Operation jetzt nicht umbrachte, hatte er eine normale Lebenserwartung. Mit OP konnte er also sterben, ohne sie war er jedoch definitiv zum Tode verurteilt.
Ich nahm als Anästhesist an dieser Operation teil. Als Oberarzt der Abteilung Anästhesie im Bakersfield Heart Hospital war ich eigens für diese schwierigen und gefährlichen Operationen ausgebildet. Es war meine Aufgabe, beim Patienten die Narkose einzuleiten, damit die Chirurgen seinen Brustkorb öffnen und sein Herz freilegen konnten. Später, nach der Operation, als das warme Blut in seinen Körper zurückfloss, bestand meine Rolle darin, ihn sicher in Vollnarkose zu halten, während wir ihn wieder ins Leben zurückholten. In der Zwischenzeit, in der die Kühllösung das Kreislaufsystem des Patienten füllte und seine Vitalfunktionen als gerade Linien auf den Monitoren zu sehen waren, hatte ich wenig mehr zu tun, als die geschickten Hände der Chirurgen zu beobachten, die ihr feines und komplexes Flickwerk an dieser Königin der Arterien verrichteten. Sie hatten nur sechzig Minuten, um ihr Wunderwerk zu vollenden. Danach war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Patient starb oder neurologische Schäden davontrug.
Als wir diesen Patienten in den Operationssaal brachten, war er bereits stark sediert. Ich redete kurz mit ihm, aber er war nicht sonderlich interessiert an einem Gespräch. Die Sedierung und die Erkenntnis, was mit ihm geschehen würde, waren bei ihm angekommen, und er schwieg. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass er sich fragte, ob ich die letzte Person sei, die er zu Gesicht bekam. Ich gab ihm nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Ich injizierte Propofol und andere Anästhetika in den Zugang, den wir ihm in eine Armvene gelegt hatten, und schaute zu, wie er in tiefen Schlaf fiel. Nachdem ich ihm einen Endotrachealtubus in die Luftröhre gelegt hatte, schaute ich genau zu, wie die Brust des Patienten geöffnet und sein Herz für die Operation vorbereitet wurde. Dann nahm ein Spezialist die Perfusion vor, die Einströmung der kalten Flüssigkeit, und ein anderer leitete das Blut des Patienten vorsichtig in einen Oxygenator, wo es mit Sauerstoff angereichert und gerinnselfrei gehalten wurde. Schon nach kurzer Zeit war der Patient in einem Scheintodzustand, und die Operation hatte begonnen.
Im Laufe der Jahre habe ich an einigen solcher Operationen teilgenommen, und ich staune immer wieder aufs Neue. Der Forscher- und Erfindergeist, der sie möglich gemacht hat, die absolute Konzentration der Fachchirurgen – in meinen Augen wurde damit ein neues der Medizin aufgeschlagen.
Von meinem Platz am Kopfende des Tisches aus blickte ich hinunter auf den Patienten. Er sah so tot aus wie jeder andere tote Patient, den ich je gesehen hatte, aber er würde ins Leben zurückkehren und noch viele Jahre unter den Lebenden weilen.
Innerhalb der nächsten Stunde schaute ich zu, wie der leitende Chirurg mit Hochdruck gegen die Uhr arbeitete, um die defekte Arterie zu reparieren. Der Raum war erfüllt von kontrollierter Anspannung und Angst, und das nicht nur, weil diese Operation so heikel war. Einige Patienten überleben diese Operation nicht – und zwar nicht wegen des chirurgischen Eingriffs, der meist erfolgreich ist, sondern weil es der menschliche Körper nicht immer schafft, aus dem Reich der Toten zurückzukehren. »Operation gelungen, Patient tot« ist weniger die Pointe eines Scherzes über solche Operationen. Es ist vielmehr eine Realität, derer wir uns im Operationssaal nur allzu bewusst sind.
Nachdem die Operation beendet war, arbeiteten wir mit großer Effizienz, um den Patienten ins Leben zurückzuholen. Als das Blut wieder in seinen Körper transfundiert wurde, gab ich ihm weitere Anästhetika, damit er nicht zu schnell aufwachte. Dann nahmen wir das Eis um seinen Kopf herum weg, damit sich sein Gehirn wieder aufwärmen konnte. Während sich das kalte Blut langsam erwärmte, wurden Blutplättchen hinzugefügt, um die Gerinnung anzuregen, und dann versuchten wir, sein Herz mithilfe eines Defibrillators zu einem Neustart zu bewegen.
An diesem Punkt hielten wir alle den Atem an. Wenn die Stromstöße des Defibrillators den Herzschlag nicht wiederherstellen konnten, würde der Patient sterben.
Beim dritten Versuch begann das Herz des Mannes regelmäßig zu pochen. Nachdem wir den Herzschlag ein paar Minuten lang beobachtet hatten, nähte ein Chirurg seine Brust wieder zu. Dann wurde der wiederbelebte Patient zur Genesung auf die Intensivstation verlegt.
Ich war einer der Ersten, die ihn begrüßten, als er aufwachte. Er war zwar ziemlich angeschlagen, wusste aber, wo er sich befand, und war froh, dort zu sein. Ich glaube, er hatte nicht erwartet, noch am Leben zu sein. Als er mich sah, lächelte er.
»Ich habe Sie und Ihre Kollegen im Operationssaal beobachtet«, sagte er.
Ich verstand nicht genau, was er gesagt hatte, und muss verwirrt ausgesehen haben.
»Ich habe Sie und Ihre Kollegen im Operationssaal beobachtet«, wiederholte er. »Ich war außerhalb meines Körpers und bin unter der Decke herumgeschwebt.«
Wie kann das sein? fragte ich mich. Er war wie eingefroren!
»Ja«, sagte er. »Ich habe Sie am Kopfende des Tisches stehen sehen. Ich habe gesehen, wie der Chirurg den Flicken auf meine Arterie genäht hat. Ich habe diese Krankenschwester gesehen …« Dann fuhr er fort, alle Akteure im Operationssaal – Chirurgen und Krankenschwestern – zu beschreiben: wo sie gestanden hatten, was sie getan hatten und andere Dinge, die deutlich machten, dass er die Ereignisse von irgendwo über uns beobachtet hatte.
Ich konnte kaum glauben, was er sagte. Im Laufe meiner 25-jährigen Karriere habe ich Hunderte von Patienten begleitet. Bei vielen von ihnen schlug das Herz kaum noch, als sie im Operationssaal ankamen. Es hatte Patienten gegeben, die behaupteten, während ihres Herzstillstands verstorbene Freunde, ein Licht am Ende eines Tunnels oder Lichtgestalten gesehen zu haben, aber ich schrieb dies einer gewissen Art von Fantasie zu und verwies sie an den Psychiater. Wie einer meiner Lehrer an der medizinischen Hochschule gesagt hatte: »Wenn Sie nichts ertasten, hören oder auf einem Monitor sehen können, sollten Sie den Patienten zum Psychiater überweisen.«
Aber was mit diesem Mann passiert war, war anders. Er hatte den Operationssaal, in dem ich arbeitete, sehr genau und in aller Klarheit beschrieben. Er war allem Anschein nach nicht nur lebendig gewesen, als sein Herz und sein Gehirn inaktiv waren, sondern auch wach.
»Ihr Herz wurde angehalten«, sagte ich. »Ihr Gehirn hatte keinerlei Aktivität. Sie können eigentlich gar nichts gesehen haben. Ihr Kopf war in Eis gepackt.«
Der »eingefrorene« Mann forderte mich noch weiter heraus, indem er Details des Operationssaals beschrieb, die er vorher nicht erwähnt hatte – Informationen über das chirurgische Besteck und Kommentare zu Dingen, die während der Operation stattgefunden hatten.
Er war durchaus daran interessiert, mir mehr zu erzählen, aber ich unterbrach ihn und ordnete eine Spritze Haldol an, ein stark antipsychotisch wirkendes Medikament. Die Börse hatte gerade geschlossen, und ich wollte sehen, wie sich meine Aktien an diesem Tag entwickelt hatten. Das habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Ich tischte ihm vielmehr eine Art Halbwahrheit auf, nämlich dass ich noch nach anderen Patienten schauen müsse, und versprach, später wiederzukommen und mit ihm über seine Erfahrung zu sprechen. Schnell machte ich meine Runde auf der Intensivstation und eilte dann zu meinem Hummer auf den Parkplatz. In diesem Geländewagen fühlte ich mich wie der König der Straße. Kein anderes Auto wagte mich zu überholen, und wenn doch, fuhr ich so dicht auf, dass ich die Angst des Fahrers in seinen Augen sehen konnte, wenn er mich im Rückspiegel beobachtete. Eine halbe Stunde später bog ich in die Einfahrt unserer Villa im mediterranen Stil ein und rannte in mein Büro zu meinem Computer, um den Aktienmarkt zu checken.
Bald hatte ich den eingefrorenen Mann vergessen und auch alles, was dafür sprach, dass sein Bewusstsein seinen Körper verlassen hatte.
Ich weiß nicht mehr, ob es die Geschichte an diesem Abend in unsere familiäre Unterhaltung am Esstisch geschafft hat. Vermutlich nicht. Ich schämte mich ein bisschen, dass ich nicht geblieben und...