Morgenläuten
Am Mittag hatten sie angerufen, dass ihr Vater im Sterben liegt. Viel zu jung. Viel zu früh. Aber das denkt man immer. Ich erlebe ganz selten, dass jemand sagt, der Tod sei gerecht gewesen und auch zur rechten Zeit gekommen. Jetzt war es bei ihm so weit. Seine Familie hatte mich gebeten, ob ich zu ihnen rauskommen würde, dem Vater die Letzte Ölung zu geben. Eine gute Familie. Eine gute Ehe. Drei erwachsene Kinder. Du kannst nichts mitnehmen. Ihr Haus – das Ergebnis eines fleißigen, arbeitsreichen Lebens – lag weit draußen vor den Toren Münchens in einem der schönsten Landstriche Oberbayerns. Weit jenseits meiner Gemeindegrenze. Eine fremde Pfarrgemeinde. Nicht meine Zuständigkeit. Aber sollte ich diese Familie enttäuschen, mit der mich einiges an Erinnerungen verband? Wie oft waren sie zu mir in den Gottesdienst nach München gekommen, alle zusammen, weil sie sich von dem, was ich predige, berührt und verstanden fühlten? Mehr als in ihrem Heimatort, wo sie sich von ihrer Gemeinde entfremdet und zurückgezogen hatten? Ich kenne viele solcher Geschichten der Entfremdung und der Abwendung von meiner Kirche. Die meisten der Gläubigen in meinen Gottesdiensten kommen aus dem ganzen Münchner Stadtgebiet und darüber hinaus. Sie wollen eine andere Form der Verkündigung des Evangeliums und sind unzufrieden mit der Art, wie es in ihrer Heimatgemeinde geschieht. Dass sie wie Fremde einem seltsamen Ritus beiwohnen, der sie nicht länger berührt. Ich weiß genau, was sie meinen. Sakramente musst du spüren. Du musst es wieder in dir fühlen. Deinen Glauben. Aus dieser Sehnsucht kommen sie zu mir. Sie wollen, dass ich sie verheirate und ihre Kinder taufe, dann Kommunion und Firmung und schließlich ihre Angehörigen beerdige. Ich frage mich oft, was passiert da zu Hause in euren Gemeinden, warum nehmt ihr den weiten Weg auf euch und kommt ausgerechnet zu mir, Rainer Maria Schießler, dem Pfarrer von Sankt Maximilian und Heilig Geist. Was läuft da schief?
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An diesem Morgen waren die neuesten Hochrechnungen zu den Kirchenaustritten in Deutschland für das Jahr 2014 veröffentlicht worden. Die Nachrichten sprachen von einem dramatischen Anstieg. Die evangelische Kirche verzeichnete nach EKD – Angaben im Jahr 2014 einen Rückgang von 410 000 Mitgliedern. Für meine katholische Kirche schien es nicht besser auszusehen. Nach den von der Deutschen Bischofskonferenz und den 27 Erzdiözesen veröffentlichten »Eckdaten des Kirchlichen Lebens in den Bistümern Deutschlands« ist die Zahl der Kirchenaustritte 2014 damit erneut drastisch angestiegen: von 178 805 in 2013 auf 217 716 in 2014. Das ist deutlich mehr als in den beiden vorangegangenen Jahren. Jedes Jahr eine ganze Stadt von der Größe Augsburgs – oder die drei Städte Bayreuth, Bamberg und Ingolstadt zusammengenommen – wären leer, immer gemessen an ihrer Bevölkerungszahl. Ebenso Lübeck, Halle – oder Wiesbaden oder Bonn. 217 216 Gläubige, die meiner Kirche den Rücken zuwenden. Das sind 290 voll besetzte ICEs mit 750 Plätzen und knapp zwei Drittel der Menschen, die jeden Tag bundesweit im Fernverkehr der Bahn unterwegs sind. Und jeder weiß, wie überfüllt die Züge sind.
Jahrelang haben die Kirchenoberen es als Erfolg verzeichnet, wenn in einem Jahr mal ein paar Menschen weniger austreten. Ein Erfolg aber wäre erst da, würde die Austrittswelle überhaupt mal zu stoppen sein oder wenn die Zahl der Kircheneintritte erstmals wieder größer wäre als die der Austritte. Aber diesen »Turnaround« schaffe selbst ich nicht in meiner höchst lebendigen und munteren Gemeinde mit der höchsten Zahl an Kirchenneueintritten oder Wiedereintritten innerhalb einer Pfarrei deutschlandweit. Unser Rekord in Sankt Max: zwischen 40 bis 60 Menschen treten jährlich neu ein. Unsere Niederlage: 120 treten gleichzeitig aus! Wenn ich das arithmetisch durchrechne, dann haben wir in 75 Jahren das Problem, dass hier in Sankt Max keine Christen mehr sind. Abgereist mit unbekanntem Ziel in einem der 290 ICE – Züge. Der letzte macht das Licht aus. Ich werde zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben sein. Was geht mich das an? Wir schaffen das schon … irgendwie … und so. Was aber, wenn es noch schneller geht? Dann ist mein Lebensabend in Gefahr. Denn beim Schnitt von 120 Kirchenaustritten pro Jahr bleibt es nur, wenn nicht wieder ein großer Missbrauchsskandal eingeläutet wird. Oder so ein, wie ich sage, »Tebartz van Elst«-Jahr der angeblichen Verschwendung von Kirchengeldern – egal ob mit Doppelbadewanne oder ohne. Oder ein Jahr wie 2015, als meine Kirche – ohne es den Gläubigen ausreichend zu vermitteln – zum 1. Januar plötzlich den Direkteinzug der Kirchensteuer auf Kapitalerträge durch Banken und Versicherungen vollziehen ließ. Keine neue Steuer zwar, nur eine neue, direkte Art des Geldabgriffs mit dem ganz großen Klingelbeutel, doch viele Kirchensteuerzahler empfanden es als Gier und traten in Scharen aus. Das Kirchenvolk wunderte sich angesichts immer knapperer Mittel in den Haushaltskassen der Familien, wenn sie dann im SPIEGEL lesen, das Bistum Paderborn würde seine Vermögenswerte mit ca. 4 Milliarden Euro beziffern – sogar rund 660 Millionen Euro mehr, als der bisherige Rekordhalter, das Erzbistum Köln, mit ca. 4,7 Milliarden Euro Vermögen aufruft – ein Großteil davon Wertpapierbesitz und Immobilien. Ein »Tebartz«-Jahr, das haut rein. 2014 war so ein Jahr. 2013 auch. Nicht zu vergessen 2012 … und 2010, einem der schwärzesten Jahre der Kirchengeschichte überhaupt, als jeden Tag mehr die Umrisse eines gigantischen Missbrauchsskandals aus einem Nebel des Schweigens und Vertuschens auftauchten. In so einem Skandaljahr können es leicht doppelt und dreifach so viele Austritte werden. Damals kam es zu gewaltigen, bisher nie da gewesenen Massenaustritten. Fünf Jahre später hoffte man, Derartiges werde sich nie wiederholen und alles würde langsam in Vergessenheit geraten, wie schon so oft vorher. Ich habe da eine andere Einstellung: Wir haben den Missbrauchsskandal erst dann überwunden, wenn das letzte lebende Opfer sagen kann, ich habe dieser Kirche verziehen. Das zu bestimmen ist aber Sache der Opfer – und nicht der Kirche. Solange da auch nur einer übrig bleibt, den ich nicht in Liebe für mich gewinnen kann, ist und bleibt der Missbrauchsskandal nicht aufgearbeitet. Und genau deshalb ist der Missbrauch bei den Gläubigen nicht vergessen und wirkt in vielen anderen Bereichen nach bei jedem neuen Vorfall, der kommt. Die vielen Skandale haben das Vertrauen der Menschen und das Ansehen der Kirche nachhaltig erschüttert. Für viele war das der Startschuss für den endgültigen Bruch mit der Kirche – nach einer längst vollzogenen inneren Abkehr. Sie fliehen in Scharen und lassen etwas im Stich, dessen Wert sie nicht mehr erkennen – für sich selbst nicht und für ihre Mitmenschen in den Gemeinden und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir befinden uns mitten in einem »Basejump«, mitten im freien Fall, und tasten ängstlich, wo wir die Reißleine suchen sollen für den Schirm, der den Aufprall verhindert. Natürlich kenne ich auch die Bilder der begeisterten Massen beim Weltkirchentag, bei den Open-Air-Gottesdiensten des Papstes. Natürlich weiß ich, dass die Gesamtzahl der Priester 2014 nur gering geschrumpft ist – um ca. hundert auf 12 219 (2013: 12 336). Natürlich habe ich auch gelesen, dass die Zahl der Pastoralreferenten und – assistenten um 31 auf 3171 (2013: 3140) gestiegen ist, ebenso die Zahl der Gemeindereferenten um sagenhafte 56 auf 4526 (2013: 4470). Auch gab es bei der Sakramentenspendung im Vergleich zum Jahr 2013 leichte Zuwächse bei den Trauungen mit 44 158 (2013: 43 728) und Taufen mit 164 833 (2013: 164 664). Im vergangenen Jahr konnte die katholische Kirche in Deutschland 2809 Eintritte und 6314 Wiederaufnahmen verzeichnen. Bleibt ein statistisches Minus von 208 093 Abgängen. Die Statistik 2014 hält, so die Autoren der Statistik, für die katholische Kirche auch einen kleinen Lichtblick bereit: Ihre Sonntagsgottesdienste würden wieder besser besucht. Der Anteil der Teilnehmer an der sonntäglichen Messe stieg von 10,8 auf 10,9 – also um null Komma eins Prozent. Wow! Aber null Komma eins Prozent wovon? Sicher nicht von den knapp 24 Millionen Katholiken, die in Deutschland immer noch 29,5 Prozent der Bevölkerung stellen.
Wie viele dieser knapp 24 Millionen der katholischen Kirche fiskalisch zugeordneten Menschen sind denn in ihren Gemeinden tatsächlich täglich noch in der Eucharistie aktiv? Beteiligen sich, bringen sich ein, gehen in den Gottesdienst? Und wie viele von ihnen sind nur noch zahlende Karteileichen, von denen jeder Verein gut lebt? Die Wahrheit: Es ist nur ein Bruchteil, ein in Zahlen kaum messbarer Zuwachs. Der Kirche geht es längst ähnlich wie den SPD – Ortsvereinen in Bayern: In der Fläche herrscht gähnende Leere – stellenweise ist das tägliche Gemeindeleben zum Erliegen gekommen. Wenn ich da 0,1 Prozent Zuwachs als »Erfolg« verbuche, dann ist das eine sehr überschaubare Menge.
Mein »Oberhirte« Kardinal Reinhard Marx, fasste die Statistik 2014 in einer Pressemeldung so zusammen: »Die heute veröffentlichte Statistik zeigt, dass Kirche vielgestaltig ist und eine missionarische Kraft hat, auch wenn uns die hohe Zahl von Kirchenaustritten schmerzlich bewusst macht, dass wir Menschen mit unserer Botschaft nicht erreichen. Hinter der Zahl der Kirchenaustritte stehen persönliche Lebensentscheidungen, die wir in jedem einzelnen Fall zutiefst bedauern, aber auch als freie Entscheidung respektieren. Wir werden uns weiter bemühen, unseren Auftrag glaubwürdig so zu...