Wie es aber zu gehen pflegt, nahmen auf das gerichtliche Einschreiten (tractatus) hin bald die Anschuldigungen zu und kamen weitere Fälle zur Anzeige. (5) Eine anonyme Anklageschrift wurde vorgelegt, die zahlreiche Namen enthielt. Die leugneten, Christen zu sein oder es je gewesen zu sein, habe ich entlassen zu können geglaubt, sobald sie, nach meinem Vorgang, die Götter anriefen und deinem Bild, das ich mit den Götterstatuen zu diesem Zweck hatte herbeischaffen lassen, mit Weihrauch und Wein opferten, außerdem noch Christus lästerten - alles Dinge, zu denen sich, wie es heißt, überzeugte Christen niemals zwingen lassen. (6) Andere von dem Denunzianten Genannte gaben erst zu, Christen zu sein, widerriefen aber gleich darauf: sie seien es wohl [einmal] gewesen, hätten es aber [längst] wieder aufgegeben, [und zwar] manche vor drei, manche vor [noch] mehr Jahren, ein paar sogar schon vor 20 Jahren. Sie alle haben ebenfalls deinem Bild sowie den Götterstatuen gehuldigt und Christus gelästert. (7) Sie beteuerten jedoch, ihre ganze Schuld oder auch ihre Verirrung habe darin bestanden, daß sie gewöhnlich an einem fest gesetzten Tag vor Sonnenaufgang sich versammelt, Christus als ihrem Gott im Wechsel Lob gesungen (quod essent soliti stato die ante lucem convenire carmenque Christo quasi deo dicere secum invicem) und sich mit einem Eid (sacramentum) verpflichtet hätten – nicht etwa zu irgendeinem Verbrechen, sondern [gerade] zur Unterlassung von Diebstahl, Raub, Ehebruch, Treulosigkeit und Unterschlagung von anvertrautem Gut. Danach sei es bei ihnen Brauch gewesen, auseinanderzugehen und [später] wieder zusammenzukommen, um ein Mahl einzunehmen, allerdings ein ganz gewöhnliches und unschuldiges; selbst das aber hätten sie nach meinem Edikt eingestellt, mit dem ich entsprechend deinen Verfügungen das Bestehen von Hetärien [Vereinen] verboten hatte. (8) Um so mehr hielt ich es für angezeigt, aus zwei Sklavinnen, sog. ‚Dienerinnen‘ (ministrae), die Wahrheit unter der Folter herauszubekommen. Ich fand aber nichts anderes heraus als minderwertigen, maßlosen Aberglauben (superstitio).
C (9) Daher setzte ich das Verfahren aus, um eiligst deinen Rat einzuholen. Mir schien nämlich die Sache einer Konsultation wert, vor allem um der großen Zahl derer willen, die hierbei auf dem Spiele stehen [oder: die angeklagt sind]; sind doch zahlreiche Angehörige jeglichen Alters und Standes, auch beiderlei Geschlechts, von diesen Untersuchungen betroffen und werden es noch sein, da sich nicht allein in Städten, sondern auch über die Dörfer und das flache Land hin die Seuche dieses Aberglaubens ausgebreitet hat.
Dennoch scheint es möglich, sie einzudämmen und auszurotten. (10) Fest steht jedenfalls, daß man die schon fast verödeten Tempel wieder zu besuchen beginnt, daß die regelmäßigen Opfer, die lange unterbrochen waren, wieder aufgenommen werden und das Fleisch der Opfertiere, für das es eben noch kaum mehr einen Käufer gab, überall wieder Absatz findet. Demnach ist es leicht vorzustellen, welch große Zahl von Menschen auf den rechten Weg zu bringen wäre, wenn man nur ihrer [tätigen] Reue stattgäbe.
Trajan an Plinius (epist. 10,97):
(1) Du hast, mein Secundus, als du die Fälle derer untersuchtest, die bei dir als Christen angezeigt wurden, ein völlig korrektes Verfahren eingeschlagen. Denn es läßt sich [in der Tat] nichts allgemein Gültiges verfügen, das sozusagen als feste Norm gelten könnte.
(2) Fahnden soll man nicht nach ihnen (conquirendi non sunt); wenn sie aber angezeigt und überführt werden, muß man sie bestrafen, so jedoch, daß einer, der leugnet, Christ zu sein, und dies durch die Tat, d. h. durch Vollzug eines Opfers für unsere Götter, unter Beweis stellt, aufgrund seiner Reue zu begnadigen ist, wie sehr er auch für die Vergangenheit verdächtig sein mag.
Anonyme Anzeigen dürfen freilich bei keiner Anklage berücksichtigt werden. Denn das wäre ein äußerst schlechtes Beispiel und entspräche nicht dem Geist unserer Zeit (nec nostri saeculi est).
Dieser ins Jahr 112 datierte Briefwechsel gewährt Aufschluss über den offiziellen Umgang des römischen Staates mit Menschen, die im Verdacht stehen, zu einer Gemeinde zu gehören, deren Gottesverhältnis durch den Gesalbten konstituiert wird, in einem Gebiet, in dem zumindest ein Teil der Leserschaft des 1Petr zu Hause war. Dabei wird vielfach angenommen, dass dieses Schreiben eine Praxis spiegele, die schon in der Regierungszeit Domitians (81-96) in Gebrauch gekommen sei.151
Angelika Reichert hat den Brief des Plinius an den Kaiser einer gründlichen und weiterführenden Analyse unterzogen. Dabei untersucht sie vor allem seinen literarischen Duktus und die daraus zu erschließende Intention. Folgendes ist im Anschluss an ihre Untersuchung festzuhalten:
Das eigentliche Anliegen des Plinius wird im letzten Abschnitt seines Briefes deutlich (C): Er sieht im sich rapide ausbreitenden Christentum eine massive Bedrohung der traditionellen römischen religiösen Sitten und Gebräuche (9). Wenn der Kaiser sich von Plinius überzeugen ließe, einerseits Christen, die bei ihrem Glauben bleiben, hinzurichten, andererseits Menschen, die diesem Glauben abschwören, großzügig zu begnadigen, werde sich dieses Problem, wenn nicht von selbst erledigen, so doch wenigstens eindämmen lassen. Dass es sich so verhalten werde, kann Plinius dem Kaiser aufgrund der Erfolgsmeldungen am Schluss des Briefes versichern (10).152
Im Blick auf die Darstellung des Verfahrens (B), das Plinius seiner eigenen Behauptung nach gleichsam improvisiert hat, lässt sich mit Reichert eine eigentümliche Asymmetrie feststellen: Wo es um die persönlich angezeigten Christen geht, erwähnt Plinius nur solche, die sich beim Verhör auch als zu diesem Glauben zugehörig zu erkennen gegeben haben. Sobald er zu den anonymen Anzeigen übergeht, treten nur noch ehemalige Christen ins Blickfeld. Dadurch „werden die Abgefallenen literarisch zusammengerückt mit denjenigen Personen, die überhaupt keine Beziehung zum Christsein haben.“153 Dieses Stilmittel dient ihrer Entlastung.
Gleiches gilt für die Darstellung der gemeindlichen Praxis (7): „Man traf sich kurz vor Tagesanbruch – also nicht zu irgendwelchen nächtlichen Kultfeiern. Man leistete einen Eid – aber nicht, um sich auf irgendein Verbrechen einzuschwören, sondern im Gegenteil, um sich verbindlich von Verhaltensweisen loszusagen, die ihrerseits auch nach römischem Recht geahndet wurden (Diebstahl, Raub, Ehebruch, Verweigerung von fremdem Gut bei Rückforderung). Man kam später nochmals zum Essen zusammen, aber dieses Mahl war völlig gewöhnlicher Art.“154 All dies stellt Plinius nicht nur als völlig harmlos dar, sondern es entspricht in Teilen sogar römischen Werten. Deshalb besteht seiner Darstellung nach überhaupt kein Grund, Menschen, die sich vom Glauben an den Gesalbten abwenden, für ihre vorherige Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft irgendeiner Bestrafung zuzuführen. Wer hingegen bei seinem Glauben beharre, verdiene schon allein wegen „Hartnäckigkeit (pertinacia) und […] unbeugsame[m] Starrsinn (inflexibilis obstinatio) Bestrafung“ (3).
Plinius verfolgt demnach eine doppelte Strategie gegen das Christentum: Das Aussteigen wird belohnt, das Bleiben hingegen bestraft.155 Für diese Strategie müsste er nun nicht beim Kaiser werben, wenn sie schon vorher gängige Praxis gewesen wäre. Plinius stellt sie aber nicht nur rhetorisch als Neuheit dar (über deren Angemessenheit er sich in Briefteil A nicht sicher zu sein behauptet) – es handelt sich tatsächlich um ein Novum, das er selbst eingeführt hat und für das er den Kaiser mit seinem Brief gewinnen will. Trajans Antwort zeigt, dass ihm das auf ganzer Linie gelungen ist. Daraus lässt sich folgern, dass die von Plinius geschilderten Maßnahmen vor seinem Amtsantritt noch nicht in Gebrauch waren.156
Bei der Auswertung der Spiegelung der Erfahrung, die der Verfasser des 1Petr seine Leserschaft machen sieht, stellte sich heraus, dass die Praxis, die Plinius schildert, keine Spuren hinterlassen hat.157 Für staatlich organisierte Sanktionen gegen die Angehörigen der Gemeinden, an die der 1Petr sich wendet, fanden wir im Brief selbst keine Indizien. Das spricht – wie oben schon gesagt – gegen eine Datierung des Briefs in die Jahre nach der Pliniuskorrespondenz. Damit eröffnen sich die Regierungsjahre Domitians bzw. des frühen Trajan als Abfassungszeitraum, weil es in ihr solche Maßnahmen eben offensichtlich noch nicht gab.
Das Bild Domitians hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt.158 Galt dieser Kaiser zuvor als gradezu besessen von der Idee der Göttlichkeit seiner Person, der von seinen Untertanen kultische Verehrung verlangte und mit harter Hand diejenigen bestrafte, die sie ihm verweigerten, so stellt er sich in letzter Zeit als Herrscher dar, der allenfalls fortsetzte, was seine Vorgänger auf den Weg gebracht hatten. Die ihm zugeschriebenen Verfolgungsmaßnahmen lassen sich allesamt nicht nachweisen. Gleiches gilt für Trajan, der wie gesagt erst von seinem Statthalter auf das Phänomen des sich ausbreitenden Christentums aufmerksam gemacht wurde.