Platons große Entdeckung
Platons (428–348 v. Chr.) große Entdeckung war ebenso bahnbrechend wie folgenreich. Mit seiner „Ideenlehre“ prägte er die gesamte abendländische Kultur. Sein Name ist auf der ganzen Welt bekannt. Dabei entdeckte Platon im Grunde etwas ganz Einfaches. Es ging ihm lediglich darum, einen verlässlichen Maßstab für Wahrheit zu finden, einen letzten unhintergehbaren Orientierungspunkt für unser Leben. Immer und immer wieder stellte er die Frage: Was ist richtig und was ist falsch? Wie kann ich Wahrheit von Unwahrheit unterscheiden?
Bereits zu Lebzeiten Platons, also gut vierhundert Jahre vor Christus, stritten Philosophen und Bürger auf den Marktplätzen der griechischen Städte um die Wahrheit. Jeder behauptete etwas anderes und bezichtigte seine Gesprächspartner der Naivität. Die ständigen Meinungsverschiedenheiten erschienen den Streithähnen aber ganz natürlich zu sein. Denn die damals tonangebenden Philosophen, die sogenannten Sophisten, allen voran Protagoras, behaupteten, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Deshalb hätten fünf verschiedene Menschen logischerweise auch fünf verschiedene Vorstellungen von der Wahrheit. Schließlich habe jedes Individuum seinen eigenen Maßstab und ziehe deshalb auch seine eigenen Schlüsse. Eine verbindliche Wahrheit für alle könne es daher prinzipiell nicht geben.
Genau darum aber ging es Platon. Er suchte eine allgemeingültige und absolute Wahrheit. Ohne eine solche Wahrheit, so entgegnete er den Sophisten, komme es zwangsläufig zu einem moralischen Verfall. Jeder würde sich nach eigenem Ermessen verhalten, so wie es ihm gerade passt. Platon wollte einen unhintergehbaren Punkt, von dem aus man jede Theorie, jeden Gedanken und jede Handlung überprüfen kann. Ihn interessierte nur eines: Was ist wirklich wahr und wie kann man ein wahrhaftes Leben führen?
Er stellte damit als erster die Kernfrage der Philosophie. Die griechische Wortkombination „philo“ und „sophia“ bedeutet nämlich nichts anderes als Liebe zur Weisheit oder frei übersetzt: Wahrheitsliebe. Natürlich ist die Suche nach einer letzten Wahrheit eine ungeheure Herausforderung. Es verwundert daher nicht, dass Platon in seiner Jugend zu keinem endgültigen Ergebnis kam. Er beschloss aber, die Frage so lange weiter zu stellen, bis er eine Antwort finden würde. Hierzu entwickelte er eine eigene Methode, das sogenannte Streitgespräch beziehungsweise den Dialog. Er schrieb sechsunddreißig seiner einundvierzig Bücher in diesem neuartigen Frage- und Antwort-Stil. Dabei unterhält sich Platons Lieblingsphilosoph Sokrates mit mehreren Personen über ein philosophisch relevantes Thema.
Anfangs haben alle verschiedene, oft sogar gegensätzliche Meinungen. Jeder Gesprächsteilnehmer muss nun so lange die bohrenden Fragen des Philosophen Sokrates beantworten, bis er seine These entweder begründen kann oder zugeben muss, dass er sich geirrt hat. Platon konnte mit Hilfe dieser brillant geschriebenen Streitgespräche die widersprüchlichen Meinungen seiner Zeitgenossen kritisieren, ohne sich selbst auf eine Wahrheit festlegen zu müssen. Er gibt in den frühen Dialogen sogar ehrlich zu, dass er noch nicht weiß, worin eine solche endgültige Wahrheit bestehen könnte.
So lässt Platon seinen Hauptredner Sokrates den berühmten und viel zitierten Satz sagen: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Wortwörtlich sagt er:
Platons frühe Dialoge haben immer ein offenes Ende. Es genügte ihm aufzuzeigen, dass die anderen Philosophen, insbesondere die Sophisten, sich in Widersprüche verwickeln. So behauptete beispielsweise der sophistische Rhetoriklehrer Gorgias im gleichnamigen Dialog, dass die Rhetorik eine edle und hohe Kunst sei. Doch Sokrates zwingt ihn mit seinen Fragen, nach und nach zuzugeben, dass die Rhetorik als Überredungskunst ebenso gut für eine gerechte Sache wie für eine ungerechte eingesetzt werden kann. Am Ende muss Gorgias zugeben, dass es sich bei der Rhetorik weniger um eine Kunst als um eine Fertigkeit handelt, von der man guten oder schlechten Gebrauch machen kann.
Im Dialog ‚Laches’ geht es um die Tapferkeit. Sokrates genügt es nicht, dass seine Gesprächspartner auf die Frage nach dem Wesen der Tapferkeit immer nur Beispiele von verschieden tapferen Männern vorbringen und deren Fechtkunst, Ausdauer, Furchtlosigkeit und Mut befürworten. So wäre Tapferkeit ja jedes Mal etwas anderes, je nachdem, welcher tapfere Mann gerade betrachtet wird. Am Ende müssen alle Gesprächsteilnehmer Sokrates eingestehen, dass ihnen ein präziser Maßstab fehlt, mit dem sie beurteilen könnten, was Tapferkeit eigentlich ist.
Auf diese Weise lässt Platon seine Hauptfigur Sokrates in den Dialogen das Gespräch jedes Mal in die gewünschte Richtung lenken. Sokrates ist übrigens keine von Platon erfundene literarische Gestalt, sondern hat wirklich gelebt. Lange Zeit war er sogar Platons wichtigster Lehrer. Da Sokrates seine Schüler nur mündlich unterrichtete und kein einziges Buch geschrieben hat, konnte Platon später seinem Lehrer sehr leicht all das in den Mund legen, was er selbst für richtig hielt. Für die Forschung ist es bis heute äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die ursprünglichen Gedanken des Sokrates von denen Platons zu unterscheiden, da fast alles, was wir über Sokrates wissen, aus den platonischen Dialogen stammt.
Zweifellos aber wird die Figur des Sokrates von Platon ganz bewusst eingesetzt, um die zentralen Positionen seiner eigenen Philosophie zu transportieren. Die von Sokrates praktizierte Methode, seine Dialogpartner in Widersprüche zu verwickeln, bis sie zugeben müssen, dass sie sich geirrt haben, wird von Platon auch „Hebammenmethode“ oder „Dialektik“ genannt, da Sokrates die Wahrheit wie eine Hebamme behutsam mit seinen Fragen zur Welt bringt, beziehungsweise seine Fragen so lange wiederholt, bis sich alle Widersprüche auflösen und die Wahrheit von den Gesprächsteilnehmern selbst geboren wird.
In seinem berühmtesten Dialog „Der Staat“, beschreibt Platon seine Gesprächsführung als entlarvendes dialektisches Verfahren. Denn nur die dialektische Methode würde alle barbarischen Vorurteile und falschen Voraussetzungen beseitigen, die Menschen zum eigentlichen Anfang und Grund der Wahrheit führen und das Auge der Seele vom Schlamm der Vorurteile befreien:
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Erst wenn die dialektische Methode die Seele ganz nach oben geführt hat, kann das innere Auge die Wahrheit erblicken. Was ist nun aber die Wahrheit? Wie kann man Wahres von Falschem unterscheiden? In seinem Hauptwerk „Der Staat“ und in den beiden berühmten Dialogen „Phaidon“ und „Symposion“ gibt Platon die entscheidende Antwort: Es ist die Idee des Guten. Anders als in den frühen Dialogen hat er nun als fünfzigjähriger Philosoph einen Weg zur Wahrheit gefunden.
Wir können, so Platon, die Wahrheit erkennen, wenn es uns gelingt, hinter die bloßen Erscheinungen zu blicken. Denn es gibt hinter den uns umgebenden Alltagsgegenständen und der sichtbaren Welt eine zweite unsichtbare Wirklichkeit, eine Art höhere Seinsebene, die uns erst die wahre Welt enthüllt. Diese zweite Wirklichkeit ist das Reich der Ideen. Platon macht eine klare Unterscheidung zwischen der Welt der trügerischen und vergänglichen Gegenstände, die wir mit den Sinnen tagaus, tagein betrachten und der Welt der Ideen, die sich nur dem inneren Auge erschließt.
Allein auf Letztere sollten wir unsere Seele ausrichten, wenn wir vernünftig sein wollen:
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Wahr sind nach Platon also einzig und allein die zeitlosen und unsichtbaren Ideen, die hinter den Erscheinungen stehen. Mit ihrer Hilfe können wir die alltäglichen Meinungen überprüfen. Wahr ist letztlich nur das, was den Ideen entspricht oder ihnen nahe kommt. So gibt es beispielsweise die Idee des Schönen, mit deren Hilfe wir beurteilen können, ob bestimmte Dinge schön oder hässlich sind. Ferner gibt es eine Idee der Gerechtigkeit, mit der wir Recht von Unrecht unterscheiden können, oder die Idee der Größe, mit deren Hilfe wir klein und groß unterscheiden. Die Ideen selbst sind zwar unsichtbar, aber mit unserer Seele können wir, wie Platon sagt, an den Ideen teilhaben.
Es gibt eine ganze Reihe solcher Ideen, mit deren Hilfe wir die Welt verstehen. In erster Linie geht es Platon aber nur um die letzte, größte und oberste Idee – die Idee des Guten. An ihr müssen wir uns orientieren. Im Dialog „Der Staat“ bezeichnet Sokrates die Idee des Guten als die höchste Einsicht, die allen anderen Ideen vorausgeht. In mehreren Gleichnissen erklärt er dies einem seiner Gesprächspartner mit folgenden Worten:
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Die Idee des Guten ist deshalb so wichtig und umfassend, weil erst durch sie jede andere Idee, zum Beispiel die der Gerechtigkeit, einen Sinn bekommt und angewandt werden kann. Wenn es uns also gelingt, die Idee des Guten zu erkennen und dementsprechend zu...