Die soziale Lage der Arbeiterschaft
Der Standortverlust, so sagen wir im vorausgehenden Kapitel, war für die Entfremdung der ersten Arbeitergenerationen von ausschlaggebender Bedeutung. Doch steht der genannte Faktor nicht alleine da. Neben ihn tritt der ebenfalls nicht unbedeutende Faktor der sozialen Lage.
Wir wollen im Rahmen unsers Themas untersuchen, inwieweit das soziale Elend seinen Anteil an der Entfremdung der Arbeiterschaft von der Kirche hatte. Einen kurzen Überblick über diese soziale Lage können wir daher nicht umgehen. Und es gehört zur Tragik dieser Menschenmenge in den Fabriken, dass eine Schilderung ihrer sozialen Lage stets eine Schilderung des sozialen Elends sein wird.231
Zunächst soll an Hand von Quellen ein Mosaik über die Situation des Proletariats entworfen werden. Die Quellen werden dabei vorerst nur stichprobenartig in geschichtlicher Folge vorgelegt werden. Daran wird sich eine kurze Zusammenfassung der bedeutendsten sozialen Missstände schließen. Dann werden wir uns endlich die Frage vorlegen können, welche Beziehung das soziale Elend zur Irreligiosität und Sittenlosigkeit der Arbeiterschaft hatte.
Berichte über die soziale Lage
Es soll noch vorausgeschickt sein, dass man sich hier keine systematische Darstellung der sozialen Lage erwarten darf. Dies ist überdies, abgesehen vom Umfang, den diese Darstellung haben müsste, für die ersten Zeiten der Industriearbeiterschaft auf Grund des sehr dünn gesäten Quellenmaterials gar nicht möglich. Wohl aber können die ausgewählten Texte einen Überblick über die trostlose Situation der Arbeiterschaft verschaffen. Ab der Zeit, in der man sich in christlich-sozialen Kreisen mit der Arbeiterschaft auseinanderzusetzen begann und wissenschaftliche Untersuchungen über die Verhältnisse anstellte, sieht es mit den Quellen auch schon besser aus. Aus den Berichten des Hauptinitiators dieser Untersuchungen, des C. Frh. v. Vogelsang, werden auch manche Ausschnitte zitiert werden.
Die ersten Berichte stammen aus dem 18. Jahrhundert. Das österreichische Staatsarchiv besitzt ein Handbillet des Kaisers Johseph II. aus dem Jahre 1786, in welchem dieser Maßnahmen zur Hebung der Hygiene der in den Fabriken arbeitenden Kinder anordnet, da er bei einem Besuche in den Fabriken von Traiskirchen »unendliche Gebrechen in der Reinlichkeit der Kinder« festgestellt habe.232 Die Lage der Kinder war überhaupt der Ansatz der ersten Kritik an der Fabrikarbeit, auch wenn man grundsätzlich die Kinderarbeit sehr begrüßte, weil sie die Kinder beschäftigte.
Um 1820 berichtet Bischof Augustin Gruber von Laibach, später Erzbischof von Salzburg, an den Kaiser Franz I., dass in den Pfarren der Krainer Bergwerksgebiete fast die gesamte Bevölkerung im Berg oder in der Schmiede arbeite. Selbst die sieben- bis neunjährigen Mädchen stünden den ganzen Tag hinter dem Amboss; damit sie diese Last aushielten, gebe man ihnen ständig größere Mengen alkoholischer Getränke. In einigen Häusern wohnten oft mehrere Familien in einem Zimmer. Krankheit und Trunksucht seien an der Tagesordnung.233
Über ähnliche Missstände schrieb ein anderer Visitator im Jahre 1829. Wirtschaftskrisen, fortschreitende Technisierung, die Koksfeuerung und ähnliche Neueinführungen hätten nämlich in den Steyrer Eisenindustrien einen schweren Niedergang ausgelöst. Infolgedessen seien zahlreiche Arbeiter entlassen worden und viele Familien müssten seitdem betteln gehen.234
1839 wurde auch der Hofstelle die ungünstige Lage der Kinder in den Fabriken wieder Anlass zu einer Verordnung. Sie fordert in ihr am 18. Oktober 1839 alle Landesstellen und die NÖ. Regierung235 auf, gegen die zu frühe Verwendung und die übermäßige Anstrengung der Kinder in den Fabriken Maßnahmen zu ergreifen236.
Im Jahre 1843 war dann die Frage neuerlich Gegenstand von Beratungen, diesmal im Staatsrat, die »Sicherstellung des physischen, intellektuellen und moralischen Wohles der Kinder betreffend«237. Die Verhandlungen dauerten vom 14. Juli 1843 bis zum 3. Dezember 1844. Die Hofkanzlei hatte dazu dem Staatsrat alle seit 1839 diesbezüglich stattgefundenen Verhandlungsprotokolle unterbreitet, die u.a. den Entwurf folgender Bestimmungen ergeben hatten: das vollendete 12. Lebensjahr sei in der Regel als Alter festzusetzen, nach dessen Erreichung die Jugend beiderlei Geschlechts zur regelmäßigen Arbeit in die Fabriken aufgenommen werden dürfe. Das Maximum der Arbeitszeit habe vom 9. bis zum 12. Lebensjahr in täglich 10, vom 12. bis zum 16. Lebensjahr in 12 Stunden zu bestehen. Eine Stunde Ruhe müsse diese Arbeitszeit unterbrechen. Gegen diese Vorschläge hatten aber die Gewerbevereine von Niederösterreich und Böhmen protestiert, da sie den Fabrikbetrieb hemmen könnten (!). Durch die kaiserliche Resolution, welche den Akten beiliegt, wurde eine Sachverständigenkommission mit der Unterstützung der Sache betraut.238
Die Arbeitsverhältnisse der Kinder waren überhaupt sehr schlecht. So besaß in Österreich jede Manufaktur damals besondere Räume für die Kinder, die sog. Kinderhäuser. Darin schliefen oft vier bis fünf Kinder in einem Bett, nachdem sie 13 und mehr Stunden hindurch gearbeitet hatten.239
Um die Jahrhundertmitte war die Frauenarbeit keine seltene Angelegenheit. Zenker bringt darüber in seinem Geschichtswerk über die Revolution des Jahres 1848 einige Zahlen, die ich auszugsweise wiedergeben will. So waren 1845 in den 647 österreichischen Baumwoll- und Papierfabriken von je 1000 Arbeitern 430 Männer, 420 Frauen und 150 Kinder. Dazu waren die Löhne erschreckend niedrig und es herrschte himmelschreiendes Elend: 1847 bekam ein Arbeiter in der Woche 3 Gulden und 57 Kreuzer, was einem Sachwert von 80kg Kartoffeln entsprach.240
Eine Quelle, die nicht speziell den österreichischen Raum meint, aber auch für ihn Geltung hatte, sei noch aus dem Jahre 1844 angeführt. Im ›Magdeburger Wochenblatt‹ verfasste ein Schreiber einen Artikel über die Arbeiterschaft. Dort heißt es: »Ja, diese Löcher voll Schmutz und Ungeziefer, mit faulen Fußböden, papierverklebten Fenstern, mit Öfen ohne Röhren, mit Lagern ohne hinreichenden Schutz gegen Kälte und Nässe, ja sie existieren in Wirklichkeit, in unserer Nähe.«241
Gehen wir zum Jahr 1848 weiter. Hier werden die Quellen schon häufiger, nicht zuletzt durch die Aufhebung der Censur, welche alle realistischen und daher beunruhigenden Berichte unterdrückt hatte. Denn man hatte Angst vor dem Pöbel gehabt, da dieser ja ›nichts zu verlieren hatte als seine Ketten‹ und daher sehr schnell auf die Barrikaden zu steigen bereit war. Durch die Revolutionstage wurde die Notlage der Arbeiterschaft noch härter. Zahlreiche Flugblätter aus diesem Jahr zeugen von dieser Unruhe, die sich des Volkes bemächtigt hatte. »Was 100.000 Proletarier vom Wiener Reichstag verlangen; oder: Wien’s furchtbarer Feind, welcher die Stadt zu verderben droht« – so lautet der Titel einer solchen Flugschrift. Dort heißt es dann weiter: »Einen weit schrecklicheren Feind als Windischgrätz birgt das Innere der Stadt selbst, welcher tagtäglich an Größe und Macht zunimmt und mit schrecklichem Verderben droht. Es ist das Darniederliegen der ganzen Industrie und des Handels, das Stocken aller Geschäfte; die allgemeine Verdienstlosigkeit, mit einem Wort: Das traurige Proletariat, das gefräßige Ungeheuer, welches unzählige Menschen, vielleicht selbst den Staat als Opfer zu verzehren droht.«242 Diese Gefahr verspürten auch die verantwortlichen Stellen. Der Magistrat und der provisorische Bürgerausschuss erließen nämlich »an die mildthätigen Bürger und Bürgerinnen Wiens« einen Aufruf, in welchem es hieß: »Durch die schwierigen Zeitverhältnisse und die theilweise Stockung der Erwerbsquellen sind viele unserer den arbeitenden Klassen angehörigen Mitbürger in augenblickliche unverschuldete Dürftigkeit geraten … Es fehlt daher in den ärmeren Klassen der Hauptstadt nicht nur an den Mittel zur Beschaffung der täglichen Nahrung, sondern auch an der notwendigen Leibskleidung.«243
Sehr lebensnah schrieb auch der ›Gesell‹ Friedrich Sanders, der sich 1848 zum Sprachrohr der Proletarier gemacht hatte und in der Zeitschrift die ›Constitution‹ seine Artikel veröffentlichte, über die Stimmung des Arbeiters: »Und hört einmal, ihr Reichen, die ihr verächtlich auf unseren abgeschabten Rock, auf unsere derben Hände blickt, die ihr nie empfunden habt, was Sorge, was Noth ist, und nur wißt, wie man den sauer verdienten Lohn schmälert. Und ihr, die ihr in den Kaffeehäusern gähnt, und herauszuklauben sucht, ob uns der Russe, der Türke oder gar der Teufel holen wird, euch zankt, ob die deutsche Fahne schwarz, rot oder gold, oder schwarz, gold und rot sein müsse, alle Nachteile tragen wir, wir allein, und mit Unrecht für euch mit. Seht her, indessen ihr schlemmt, leiden viele von uns den bittersten Mangel, mancher Familienvater ist bekümmert, woher er morgen das Brot nehmen soll, da alle Geschäfte daniederliegen. Was soll aus uns werden? … Und wenn wir aus dem Krieg244 glücklich als Sieger heimkehren?, ›Wieder von 4 bis 8 arbeiten!‹ Und den Arm und das Bein zerschossen? (Tod wäre das Wünschenswerteste!).« Und die Redaktion fügte als Anmerkung hinzu: »Die Red. glaubt diesen Aufsatz als einen, der gewisse Stimmungen kräftig bezeichnet, mitteilen zu müssen; denn es geht einmal nicht mehr länger an, die...