Aller Anfang ist Zarathustra
Friedrich Nietzsche begegnete Zarathustra erstmals in Sils-Maria. So beschreibt er es jedenfalls in einem seiner Lieder des Prinzen Vogelfrei (1887):
Hier sass ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da plötzlich, Freundin! wurde eins zu Zwei –
Und Zarathustra gieng an mir vorbei …
Nietzsches Also sprach Zarathustra beginnt mit einer biographischen Notiz: «Als Zarathustra dreissig Jahre alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge.» Stimmt das? Wo lag Zarathustras Heimat, wann lebte er, und was hat es mit dem dreißigsten Jahr auf sich?
Diese Fragen führen uns weit weg von Sils-Maria, aus Europa, aus der Neuzeit. Leider aber ist es nicht so, dass wir Nietzsches literarisch-philosophische Inszenierung und die eigenartig gespaltene Faszination, die Zarathustra in Europa seit jeher umrankt, einfach vergessen können, um uns ohne weiteres der «historischen Wahrheit», dem «eigentlichen» Zarathustra zuzuwenden. Denn schon die ältesten Berichte über Zarathustra geben uns Rätsel auf. Bei jedem Versuch, diese Rätsel zu lösen, kommt die historische Einbildungskraft ins Spiel. Und diese wird oft von Stereotypen geleitet, die sich der europäischen Faszinationsgeschichte verdanken.
Griechische und iranische Angaben zu Zarathustras Lebenszeit
Schauen wir uns doch kurz die Quellen an. In der griechischen Literatur soll Zarathustra alias Zoroastres (Zoroaster) erstmals im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung [v. Chr.] erwähnt worden sein. Zugleich aber dürfen wir annehmen, dass er wesentlich älter war, denn unser Gewährmann, Xanthos der Lydier, weiß zu berichten, dass Zoroaster, der Perser, 6000 Jahre vor dem Jahre 480 gelebt habe, als der persische Großkönig Xerxes den Hellespont überquerte. Auch diese frühe Nachricht steht offenbar bereits im Zeichen verklärender Sinnstiftung: Schon die griechische Namensform Zoroaster, die etwas mit «rein» und einem «Stern» zu tun hat, weckt astrologische Assoziationen. Selbst wenn man 600 statt 6000 Jahre liest, weist das genannte Datum einerseits über den Zeitraum historisch verlässlicher Information hinaus und klingt andererseits sehr nach Weltalterkonstrukten (sechs ist die Hälfte von zwölf, einer Jahreseinheit). Diese – und andere – Berichte, die in der griechischen und lateinischen Literatur über Zarathustra kursierten, sind daher zwar religionsgeschichtlich aufschlussreich. Sie geben aber keine zuverlässigen Antworten auf unsere Fragen nach Zarathustras Lebenszeit und -ort.
Gibt es denn gar keine iranischen oder gar zarathustrischen Quellen, mag man fragen, die uns hier weiterhelfen? Doch, solche gibt es, aber diese Texte sind sehr viel jünger, und auch hier erscheinen die «Tatsachen» bereits im Lichte geschichtlicher Sinnstiftung, die zum Teil wiederum mit astrologischen Mustern operiert. Eine mittelpersische Quelle etwa berichtet, Zarathustra habe die von ihm empfangene Religion in der Welt verbreitet, und dann seien 300 Jahre vergangen, bis der Übelriechende Geist den verfluchten Alexander auf Iran gehetzt habe [AWN 1,1-5]. Ein anderer Text zeichnet folgendes Szenario: Zarathustra trat in Erscheinung, als «die Herrschaft des Millenniums» (nach 9000 Jahren) in das Zeichen des Steinbocks überging. Der damals herrschende König regierte noch 90 Jahre, nachdem Zarathustra seine Religion in Empfang genommen hatte. Weiterhin gab es noch vier Herrscher bis Alexander, die insgesamt 168 Jahre regierten [Bd. 36,7–9]. Daraus lässt sich schließen, dass Zarathustra 258 Jahre vor Alexander «die Religion empfing». Diese «Informationen» werden auch bei einigen späteren muslimischen Autoren weitergegeben. Zusammen mit anderen Hinweisen aus griechischen, jüdischen und manichäischen Überlieferungen werden sie bis in die jüngste Forschung als ernsthafte Kandidaten für die Lebenszeit des «historischen» Zarathustra gewertet. Gherardo Gnoli hat daher auf der Grundlage dieser Quellen für Zarathustras Lebenszeit die Jahre 618 bis 541 v. Chr. angesetzt. Diese Rekonstruktion aber hat nicht überall Zustimmung gefunden, denn auch bei den scheinbar «authentischen» und auffällig präzisen Angaben kann es sich durchaus um spätere Geschichtsklitterungen handeln, die ihrerseits im Banne der älteren Zarathustra-Faszinationsgeschichte stehen.
Die ältesten Texte
Es gibt noch weitere «Fakten», und diese sind erst recht schwer zu beurteilen. Sie bestehen darin, dass der Name «Zarathustra» (eigentlich «Zarathushtra») in alten Texten vorkommt, die noch heutzutage von zarathustrischen Priestern und Laien in Ritualen und Gebeten aufgesagt werden. Diese Texte sind in einer altiranischen Sprache verfasst, die als «Avestisch» bezeichnet wird. Die Sammlung dieser Ritualtexte heißt «das Avesta». Für die Niederschrift dieser Texte entwickelte man vermutlich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert n.Chr. eine spezielle Schrift, nachdem sie die längste Zeit mündlich überliefert worden waren. In ihrer Gesamtheit wurden die avestischen Schriften erst in der Neuzeit (von westlichen Gelehrten) zwischen zwei Buchdeckel gebracht; zuvor waren sie je nach rituellen Erfordernissen zu bestimmten Gruppen zusammengestellt und abgeschrieben worden.
Niemand weiß mit Gewissheit zu sagen, wann und wo diese Texte entstanden sind. Man geht aber davon aus, dass ein Großteil der avestischen Texte spätestens etwa bis zum dritten Jahrhundert v. Chr. vorgelegen haben muß. Einige Teiltexte sind möglicherweise aber viel älter. Dazu gehören einige Formeln, Gesänge und Litaneien, die sprachlich aus dem sie umgebenden Textkorpus herausstechen und auf die in den anderen Texten immer wieder Bezug genommen wird. Dazu zählen einige enigmatische Sakralformeln («Mantras»), die immer wieder in Gebeten und Ritualen aufgesagt werden und von denen es (späteren Texten zufolge) heißt, dass Zarathustra sie als erster vorgetragen habe (Yt. 17,18; 19,81; Y. 9,14). Zarathustra soll diese Formeln auch als Waffen gegen den Bösen Geist und die Dämonen eingesetzt haben (V. 19,1–3.9; Yt. 17,20; Yt. 19,81). Eine dieser Formeln soll Ahura Mazda bereits vor der Erschaffung der kosmischen Elemente verkündet haben (Y. 19,1–4).
In der Anordnung, in der die Texte zu uns gekommen sind, umrahmen die Sakralformeln zwei etwas längere Texte: Eine Verehrungslitanei, die im Zentrum steht, sowie fünf Gesänge (Gatha), die für unsere Fragestellung besonders wichtig sind, weil in ihnen mehrfach und an zentraler Stelle eine Person namens Zarathustra in Erscheinung tritt. Die meisten Forscher gehen sogar davon aus, dass Zarathustra hier selbst das Wort ergreift und dabei, genau wie vedische Dichter das tun, gelegentlich von sich selbst in der dritten Person spricht. Diese Gesänge wären dann die Worte des «Propheten». Sollte man auf der Suche nach dem «ursprünglichen Kern» der Religion Zarathustras und der Persönlichkeit Zarathustras also bei den Gatha fündig geworden sein?
Diese Vorgehensweise hat in der Tat viel für sich, und der Bezug auf die Gatha steht im Zentrum der meisten modernen Darstellungen der Religion Zarathustras – nicht zuletzt solcher, die von Zarathustriern selbst geschrieben wurden. Ein Problem besteht allerdings darin, dass diese Texte sprachlich derart kompliziert sind, dass die sprachliche Analyse, Übersetzung und Deutung der meisten Teile unter den Philologen seit jeher umstritten sind.
Da die Übersetzer und Interpreten vor gravierenden sprachlichen Schwierigkeiten stehen, wird die Frage um so wichtiger, mit welchen Deutungsmustern sowie religionshistorischen Grundannahmen und Vergleichsmaterialien man sich diesen Texten nähern soll, um sie gewissermaßen zum Sprechen zu bringen. Hier gibt es unterschiedliche Ansätze.
Wenn man die Gatha etwa als Ursprungsquelle und Ausgangspunkt einer langen religiösen Tradition betrachtet, dann liegt es nahe, sie im Lichte ihrer späteren Auslegungsgeschichte zu verstehen. Das hat dann oft zur Konsequenz, dass man Motive der späteren Theologiegeschichte in diese Texte hineinliest. Auf diese Weise wird (z.B. von Mary Boyce) eine Kontinuität der Tradition begründet, die sozusagen direkt an den Lippen von Zarathustra, dem großen «Propheten», «Reformator» und «Stifter», hängt. Dabei wird betont, dass Zarathustra der einzige «Prophet» gewesen sei, der zugleich auch ein Priester war.
Eine andere Perspektive auf die Gatha resultiert aus einem systematischen Vergleich dieser Poesie mit ihren sprachlich nächsten Verwandten: den älteren und wesentlich umfangreicheren indischen (vedischen) Ritualkompositionen. Teilweise springen in der Tat frappierende Ähnlichkeiten ins Auge. Abgesehen von der Sprache und einzelnen Formulierungen beziehen sich diese u.a. auf poetische Kompositionsformen und Motivstrukturen. Dazu zählt z.B. die Selbststilisierung des Dichters als Lobpreiser des Gottes (hier: Ahura Mazda) und sein Tadel...