2. Von der Hüttensiedlung zum städtischen Zentrum: das frühe Rom
Die antike Überlieferung zur römischen Frühzeit kleidet diese in ein mythisches Gewand. Griechen aus Arkadien und Troianer unter Führung des Aeneas seien nach Latium eingewandert, und um die Mitte des 8. Jahrhunderts habe Romulus die Stadt gegründet. In seiner kanonischen Darstellung der römischen Geschichte betont der in augusteischer Zeit schreibende Historiker Livius zwar, daß er erst für die Zeit nach der Eroberung Roms durch die Kelten (387/386 v. Chr.) eine einigermaßen zuverlässige Überlieferung zur Verfügung habe. Dennoch bietet er seinen Lesern fünf Bücher über die Königszeit und die frühe Republik – mit eindeutig falschen Angaben über Bevölkerungs- und Heereszahlen, Eroberungen und Gründungen von Städten usw. Die moderne Forschung hat seit dem 19. Jahrhundert den mythischen Charakter dieser erst seit etwa 200 v. Chr. schriftlich fixierten Überlieferungen freigelegt und gezeigt, daß sowohl das kanonische Gründungsdatum Roms (753 v. Chr.) als auch die sieben Könige und die sieben Hügel fiktiv sind.
Die Topographie Roms bietet wesentlich mehr als sieben Hügel, und diese haben ebenso wie die tief eingeschnittenen, oft vom Tiber überschwemmten Senken und Ebenen das Siedlungsbild nicht unerheblich geprägt. Sie bestimmten das unregelmäßige Wegenetz, die in der frühen Zeit relativ dichte Bewaldung und die Sakrallandschaft der Siedlung. Die aufgrund der Bodenfunde faßbare materielle Hinterlassenschaft zeigt Rom eingebettet in eine latinische Kultur, die in der mittleren und jüngeren Bronzezeit (15.–10. Jahrhundert) in Gestalt von Keramikscherben, Herdstellen und Gräbern faßbar ist (s. Karte in vorderem Einband). In der frühen Eisenzeit (10./9. Jahrhundert) sind Spuren von Hütten erkennbar, die in Rom auf dem Palatin, dem Kapitol und im Gebiet des Quirinals gefunden wurden. Die einzelnen Siedlungen umfaßten nur wenige Dutzend Bewohner. Ackerbau und Viehzucht sowie fehlende handwerkliche Spezialisierung kennzeichnen die Wirtschaft. Im 8. Jahrhundert scheint es Fortschritte in der Siedlungsorganisation und der handwerklichen Spezialisierung zu geben. Die Grabfunde zeigen ferner Anzeichen für eine soziale Differenzierung. Neben die handgeformte tritt auf der Töpferscheibe gedrehte Keramik, die Einflüsse aus dem griechischen Unteritalien bzw. Etrurien aufweist. Im Metallhandwerk wird Eisen das vorherrschende Material. Die Entstehung einer etruskischen Hochkultur nördlich von Latium und die Gründung griechischer Kolonien in Unteritalien seit dem 8. Jahrhundert waren entscheidend für die zivilisatorische Entwicklung Mittelitaliens, und südetruskische Orte, wie Veii, Caere und Tarquinia, sollten für Rom maßgebliche Bedeutung gewinnen.
Bis zum Ende des 7. Jahrhunderts stellt sich die Besiedlung des Areals der späteren Stadt Rom als ein Ensemble voneinander getrennter Hüttensiedlungen dar, das spätere Forum Romanum wird anscheinend als Nekropole genutzt. Indizien für einen befestigten Siedlungskern und eine Stadtgründung durch einen Romulus gibt es nicht; eine Urbanisierung Roms läßt sich erst seit dem 6. Jahrhundert erkennen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die im gesamten Mittelitalien zu beobachtende Entstehung einer aristokratischen Elite, die ab der Mitte des 7. Jahrhunderts ihren Reichtum nicht mehr in Grabbeigaben, sondern in oberirdische Bauten, und zwar sowohl private als auch öffentliche, investierte. Privathäuser und kleine Tempel, die mit Steinfundamenten und Fachwerkaufbau sowie gebrannten Dachziegeln errichtet wurden, tauchen an verschiedenen Orten Latiums auf. Gefäßtypen weisen auf die Übernahme der griechischen und etruskischen Sitte des aristokratischen Symposions hin. Die Beeinflussung der latinischen Kultur durch die etruskische betraf nicht nur Keramik und Architektur, sondern auch Wandmalerei und Luxusobjekte wie Thronsessel und Bronzeschilde, Szepter und Doppeläxte sowie Prunkwagen, welche Status- und Machtsymbole der Aristokratie waren. Die Etrusker vermittelten wohl auch die Schrift in Form des griechisch-euböischen Alphabets nach Latium und Rom.
Der entscheidende Entwicklungsschub für die Hüttensiedlungen auf dem Boden Roms erfolgte durch ihre Eroberung seitens etruskischer Herrscher bzw. Heerführer. Die Überlieferung, Tarquinius Priscus sei mit Gefolge als friedlicher Einwanderer aus dem etruskischen Tarquinia nach Rom gekommen und dort im Jahr 617 aufgrund seines freundlichen und geschickten Verhaltens zum König gewählt worden, ist eine evidente Fiktion. Sobald wir in historisch hellere Zeit gelangen, zeigen sowohl die römische literarische als auch die etruskische Überlieferung in Gestalt der Wandmalereien der Tomba François in Vulci, daß Rom Objekt des Machtkampfes zwischen etruskischen Aristokraten war. Für das Ende des 6. Jahrhunderts ist die Tatsache einer gewaltsamen Eroberung Roms durch den Etrusker Porsenna aus Clusium nicht zu leugnen. Es ist folglich davon auszugehen, daß Tarquinius sich der Siedlung gewaltsam bemächtigt hat. Er mag jenes fälschlich dem Romulus zugeschriebene Gründungsritual mit der um das Siedlungsgebiet gezogenen Ackerfurche, welche die heilige Grenze des pomerium geschaffen haben soll, praktiziert haben. Jedenfalls behaupteten die Römer selbst, daß alle wesentlichen sakralen Rituale sowie die Insignien römischer Könige und Magistrate etruskischer Provenienz seien.
Die Existenz eines geordneten politischen Gemeinwesens seit etwa 600 bezeugen siedlungsplanerische Aktivitäten, die öffentliche Räume konstituierten. Anscheinend wurde in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts das überschwemmungsträchtige Gebiet des künftigen Forum Romanum (Abb. 1) mit Hilfe umfangreicher Erdbewegungen aufgefüllt, durch einen offenen, zum Tiber hin verlaufenden Kanal, der Jahrhunderte später als Cloaca Maxima eine beeindruckende architektonische Gestaltung erhalten sollte, entwässert und mit Kieselsteinen gepflastert. Eine architektonische Ausgestaltung des Comitium, des späteren Volksversammlungsplatzes in der Nordecke des Forums, erfolgte jedoch – entgegen landläufigen Behauptungen – noch nicht. Die dortigen Grabungen unter dem sogenannten Lapis Niger, einem schwarzen Marmorpflasterstein, welcher einen sakralen Ort markierte, haben zwar ein bis in die Zeit um 600 zurückreichendes Weihdepot zu Tage gefördert; aber die in dem Areal gefundenen architektonischen Reste, wie eine Stufenanlage, ein Altar usw. gehören erst in die Zeit von etwa 500 bis zum Ende des 4. Jahrhunderts. Auch eine Stele mit einer berühmten, leider nur fragmentarisch erhaltenen Inschrift, die ein Kultgesetz enthält und als das älteste lateinische Schriftdokument auf Stein gilt, ist keineswegs ins 6. Jahrhundert datierbar, denn das Material der Stele ist Grotta-Oscura-Tuff, dessen Steinbrüche die Römer erst nach der Eroberung von Veii im Jahr 396 nutzen konnten.
1 Das Forum Romanum im 6./5. Jahrhundert v. Chr.
Bereits am Ende des 7. Jahrhunderts entstand hingegen am Ostrand des Forums ein aus zwei Räumen und einem ummauerten Hof bestehendes Gebäude, die Regia. Hier wurden der Kriegs- und Fruchtbarkeitsgott Mars sowie Ops Consiva, die Göttin der Aussaat und der Ernte, verehrt – mithin Kulte, die mit den beiden wichtigsten Bereichen einer schlichten agrarischen Gemeinschaft zusammenhingen. Anläßlich eines Umbaus in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts wurde die Regia mit Terrakotta-Friesen verziert, die in einem über Etrurien vermittelten ostgriechischen Stil gehalten waren. Die Regia ist zu klein, als daß man sie als Residenz des Königs (rex) im 6. Jahrhundert betrachten könnte. Sie dürfte von Beginn an ein sakrales Amtsgebäude gewesen sein, in welchem der König ihm obliegende kultische Pflichten erfüllte. In der Nachbarschaft, am Nordhang des Palatin, und auf dem ihm nördlich benachbarten kleinen Hügel der Velia scheinen gegen Ende des 6. Jahrhunderts solide gebaute Privathäuser entstanden zu sein, von denen man vermuten darf, daß sie Domizile der römischen Aristokratie waren, die sich nunmehr nahe dem politischen Zentrum, dem Forum Romanum, einrichtete.
Ebenfalls im 6. Jahrhundert wurde eine Kultstätte am Nordrand des Rindermarktes (Forum Boarium) monumentalisiert. Dieses an der Tiberinsel und einer Tiberfurt gelegene Gebiet war der älteste Handelsknotenpunkt Roms und mit dem Forum Romanum durch zwei Straßen verbunden: den am Fuß des Kapitols sich entlangschlängelnden «Ochsenknecht-Weg» (Vicus Iugarius) und den in das Gebiet der Regia führenden Vicus Tuscus, den «Etruskerweg». In Verlängerung des Vicus Iugarius führte über den Quirinalshügel der Weg, auf dem die Hirten des sabinischen Berglandes ihre Viehherden im Winter in die Küstenebene und im Sommer wieder zurück in das Bergland trieben. Der gleiche Weg wurde und wird noch heute Via Salaria, «Salzstraße», genannt. Sie setzte...