Einsichten wie diese werden dem
Sterblichen nur einmal in seinem Leben zuteil
(Sigmund Freud im Vorwort zur dritten engl.
Ausgabe der Traumdeutung)
2. Freuds Traumpsychologie und Traumdeutung
Nicht die Traumdeutung als solche, sondern die psychoanalytische Herangehensweise kann als bleibendes Verdienst von Sigmund Freuds Beschäftigung mit dem Traum betrachtet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Traum ist wesentlich älter. Aber erst Freud gelang unter ständigem Rückgriff auf die Analyse seiner eigenen Träume der Nachweis, daß sich in den scheinbar sinnlosen und rätselhaften Traumproduktionen abgewehrte Sinnzusammenhänge äußern, die in einen sinnhaften Bedeutungshorizont eingegliedert werden können. Dieser Sinn hat unmittelbar mit dem Leben des Träumenden zu tun, mit seinen durch Tagesereignisse ausgelösten Konflikten, Problemen und Hoffnungen, aber vor allem auch mit den durch Erziehung, durch Anstand und Moral zwar abgewehrten, aber letztlich doch unsterblichen Kinderwünschen. Freilich zeigt sich dieser Sinn nicht in einem schnellen Deutungseinfall oder anhand einer einfachen Symbolübersetzung, wie uns dies sogenannte Traumratgeber bis zum heutigen Tag weismachen wollen. Vielmehr gilt es, dieses Sinns erst anhand einer sinnverstehenden Arbeit habhaft zu werden. Einfache Übersetzungen (Träume von einem Eisenbahnzug etwa bedeuten, daß der Zug abgefahren ist; der Blick von einem Hochhaus deutet auf eine suizidale Absicht hin; ein Raubtier verweist auf das Destruktive in uns usf.) müssen eher als Widerstand aufgefaßt werden, sich mit dem Sinn des Traumes tiefgründiger auseinanderzusetzen. Der latente Trauminhalt läßt sich nach Freud nur schrittweise rekonstruieren, ausgehend vom manifesten Traumbericht, den Einfällen des Träumers bestehend aus Tagesresten und Erinnerungen und in der psychoanalytischen Situation noch zusätzlich anhand der Beziehung zwischen Analysand und Analytiker.
Die Traumdeutung ist aber noch aus einem anderen Grund ein epochales Werk für die Psychoanalyse geworden. War nämlich Freud vor dem Erscheinen seiner Traumdeutung ausschließlich mit pathologischen Phänomenen befaßt, so stellt der Traum ein Phänomen des normalen Seelenlebens dar. Die Kenntnis dieses ungemein wichtigen Bereichs menschlicher Geistestätigkeit, und wie wir heute wissen, dieser für das Überleben wichtigen und absolut notwendigen Tätigkeit, befreite die Psychoanalyse erstmals von ihrem subsidiären Status einer Hilfswissenschaft der Psychopathologie und ließ sie als eine Wissenschaft erscheinen, die auch für das Verständnis normalpsychologischer Vorgänge unentbehrlich ist. Damit eröffnete sich ihr „der Weg ins Weite, zum Weltinteresse“, denn „man darf ihre Voraussetzungen und Ergebnisse auf andere Gebiete des seelischen und geistigen Geschehens übertragen“ (Freud 1925d, S. 73).
Schon als Jugendlicher interessierte sich Freud für Träume, aber es waren vor allem seine Patienten, die ihn dazu bewegten, sich intensiver mit dem Traum zu beschäftigen. Freud nannte den 24. Juli 1895, an dem es ihm erstmals gelang, mittels des Verfahrens der freien Assoziation einen eigenen Traum zu deuten. Dieser Traum, der Traum von „Irmas Injektion“, ist als „Muster-“ oder „Initialtraum“ in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen. Der in den folgenden Monaten ausgearbeitete Entwurf einer Psychologie enthielt drei Abschnitte über den Traum; aber erst gegen Ende des Jahres 1897 begann Freud mit der Abfassung der Traumdeutung, die er eindreiviertel Jahre später, im Spätsommer 1899, fertigstellte. Im November lag die Arbeit gedruckt vor, der Verleger aber hatte auf das Titelblatt – heute nur allzu verständlich – das Jahr 1900 setzen lassen.
Für Freud stellte die über 600 Seiten umfassende Arbeit der Traumdeutung, die zusammen mit der ein Jahr später fertiggestellten und wesentlich kürzeren Arbeit Über den Traum Band 2 und 3 seiner gesammelten Werke bildet, auch Jahre später noch seine bedeutendste Schrift dar. Dafür spricht auch, daß Freud Die Traumdeutung über die Jahre hinweg anhand von Fußnoten auf dem neuesten Erkenntnisstand hielt. Aber nicht nur in diesem Werk, auch in einer Anzahl von anderen Aufsätzen kehrte Freud immer wieder zum Thema des Traums und der Traumdeutung zurück.
Tab. 1: Freuds Arbeiten zum Traum
Freuds Publikationen zum Thema Traum und Traumdeutung |
1905 | Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 6. Kapitel Bruchstück einer Hysterieanalyse |
1911 | Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse |
1913 | Ein Traum als Beweismittel Märchenstoffe in Träumen Kindheitsträume mit spezieller Bedeutung |
1916/7 | Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Zweiter Teil: Der Traum Metapsychologische Ergänzungen zur Traumlehre |
1923 | Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung |
1925 | Einige Nachträge zum Ganzen der Traumdeutung |
1933 | Neue Folge der Vorlesungen, 29. Vorlesung: Revision der Traumlehre |
1938 | Abriß der Psychoanalyse, 5. Kapitel: Erläuterung an der Traumdeutung |
Die Traumlehre blieb – folgen wir der Einschätzung des Hamburger Freudforschers Thomas Köhler – der wohl konstanteste Theorieteil des Begründers der Psychoanalyse. In der 29. Vorlesung der Neuen Folge resümierte Freud: „Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben, etwas wozu es kein Gegenstück in unserem sonstigen Wissen gibt, ein Stück Neuland, dem Volksglauben und der Mystik abgewonnen. Die Fremdartigkeit der Behauptungen, die sie aufstellen mußte, hat ihr die Rolle eines Schiboleths verliehen, dessen Anwendung entschied, wer ein Anhänger der Psychoanalyse werden konnte und wem sie endgültig unfaßbar blieb. Mir selbst war sie ein sicherer Anhalt in jenen schweren Zeiten, da die unerkannten Tatbestände der Neurose mein ungeübtes Urteil zu verwirren pflegten. So oft ich auch an der Richtigkeit meiner schwankenden Erkenntnisse zu zweifeln begann, wenn es mir gelungen war, einen sinnlos verworrenen Traum in einen korrekten und begreiflichen seelischen Vorgang beim Träumer umzusetzen, erneuerte sich meine Zuversicht, auf der richtigen Spur zu sein“ (Freud 1933 a, S. 6f.).
Freuds Traumdeutung – Biographische Aspekte
Die Gründlichkeit der Freudschen Argumentation habe es nach Ernest Jones seinen Schülern schwergemacht, wesentliche Revisionen vorzunehmen, so daß die Psychologie des Traums und die daraus abgeleitete Trauminterpretation keinen sehr großen Forschungsanreiz für die nachfolgende Generation darstellen – abgesehen von Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Alphonse Maeder u.a., die eigene Wege beschritten. Das hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Psychoanalyse jedoch deutlich verändert, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden.
Bereits 1896 ist Die Traumdeutung in ihren wesentlichen Argumentationslinien fertig gewesen, aber erst im Alter von 43 Jahren, im Sommer 1899 hat Freud sie niedergeschrieben. In seiner Selbstdarstellung läßt Freud (1925d) uns wissen, daß er sein Projekt vier bis fünf Jahre unterdrückte, ehe er den Mut fand, damit an die Öffentlichkeit zu treten.
Was ist das besondere an der Traumdeutung? Freuds Traumdeutung ist wissenschaftliches Werk und Autobiographie zugleich; was diese Leistung bedeutet, wird an dem folgenden Umstand unmittelbar ersichtlich: Noch einhundert Jahre nach der Veröffentlichung des Irma-Traums, des Initialtraums der Psychoanalyse, beschäftigen sich Interpreten mit den von Freud verschwiegenen und ihm zumindest teilweise selbst unbewußt gebliebenen biographischen Hintergründen. Aber auch seine anderen in der Traumdeutung veröffentlichten Träume waren Anlaß für viele Reinterpretationen zahlreicher Entwicklungslinien und Konflikte des zu diesem Zeitpunkt 43jährigen Freuds. Freuds Biographen, wie Ernest Jones, Max Schur, Didier Anzieu und Peter Gay, haben in der Traumdeutung die Veröffentlichung seiner Selbstanalyse erblickt. Diese vermittelt unter anderem einen tiefen Einblick in Freuds Ehrgeiz, der wesentliche Impulse aus dem Erleben der Zurücksetzung und narzißtischen Kränkung seines Vaters wegen seines Judentums erhielt.
1886 hatte Freud seine Privatpraxis in Wien gegründet; die Anzahl seiner Patienten schwankte zunächst. In den darauffolgenden Jahren bemühte er sich um den Aufbau einer eigenen psychologischen Theorie. In Wien fühlte...