Ausgedehntere Walderkundungen werden heutzutage Expeditionen genannt. Immer mehr Menschen begeben sich auf Expeditionen. Abenteurer, die noch zu Beginn der 1990er-Jahre auszogen, berichten, dass es damals anders war als heute. Schon von der bloßen Idee einer Expedition zu reden konnte dazu führen, dass man auf den Titelseiten der Zeitungen landete. Vom Sofa aus verfolgte das Publikum das Geschehen, und bei ihrer Rückkehr – falls sie zurückkehrten – wurden die Abenteurer wie Halbgötter verehrt. Heutzutage werden sie kaum mehr interviewt, sondern müssen einen Blog über ihre Erlebnisse schreiben, der wiederum mit Hunderten ähnlicher Blogs konkurrieren soll.
Noch immer umweht den Begriff »Expedition« der Hauch des Großen und Wichtigen. Er weckt Assoziationen zu dem Wort »Auftrag«, dem englischen mission. Außerdem haftet ihm etwas Uneigennütziges an, eine Andeutung, die besagt, dass so etwas stellvertretend für andere durchgeführt wird, für eine gute Sache oder zum Wohl der Menschheit.
Darwin begab sich im Namen der Wissenschaft auf Expeditionen. Amundsen wollte Orte sehen, die niemand anderer zuvor gesehen hatte. Sie alle kamen mit mehr oder weniger nützlichen Erkenntnissen zurück. In heutiger Zeit sind dagegen alle Orte längst entdeckt. Unser Planet ist bis auf den letzten Quadratzentimeter genau erforscht, und nur wenige Expeditionen dienen einem anderen Zweck, als bei den Teilnehmern ein Gefühl der persönlichen Befriedigung zu erzeugen.
Expeditionen haben immer ein Ziel. Sie sind davon gekennzeichnet, ja geradezu dadurch definiert, dass sie von Menschen durchgeführt werden, die genau wissen, wohin sie wollen. Sie starten bei A und sollen sich nach B vorarbeiten. Zwischen A und B werden sie auf unzählige Hindernisse stoßen. Hunger und Kälte, gefährliche Tiere, unbeherrschbare Naturkräfte. Am liebsten transportieren sie ihren Proviant ohne die Hilfe anderer, auf einem Schlitten oder im Rucksack. Außerdem ist die Zeit ein wichtiger Faktor. Erreicht eine Expedition nicht das vorab festgelegte Ziel, gilt sie als gescheitert. Erreicht sie das Ziel, hat aber mehr Zeit benötigt als geplant, wird sie in gewisser Weise auch als gescheitert betrachtet.
Die australischen Ureinwohner, die Aborigines, verwenden einen Begriff, der die diametral entgegengesetzte Form einer Expedition beschreibt: den Walkabout. Wobei dieses Wort gar nicht von den Aborigines selbst stammt, sondern eine Übersetzung der Imperialisten ist. Es beschreibt, vereinfacht ausgedrückt, eine Wanderung in den Busch, die kein bestimmtes äußeres Ziel hat, sich über einen undefinierten Zeitraum erstreckt und eine vorher nicht festgelegte Route umfasst. Ins Deutsche ließe sich so etwas am besten mit »im Wald herumstreifen« übersetzen. Ein Walkabout ist die Antithese zur westlichen Expedition, weder zeitlich noch räumlich hat er eine Richtung. Und genau dieses Konzept spricht mich ungeheuer an.
Als ich klein war, wollte ich immer in die Natur hinaus. Soweit ich mich erinnere, war alles, was ich unternahm, von der Natur geprägt. Sie war immer vorhanden, sogar in den kleinsten Dingen. In den Mückenstichen, die mich in hellen Sommernächten nicht schlafen ließen. In dem intensiven Geruch nach Fäulnis und Verfall während der feuchten Herbsttage. In der stummen Verwunderung darüber, dass meine Zunge an eisigen Metallpfosten festklebte, und in dem Schock, als ich begriff, dass ich sie nicht wieder losbekam. Ich war in der Natur, auf eine Weise, wie es vielleicht nur ein Kind sein kann.
Die Jahre vergingen. Ich träumte davon, ein berühmter Forschungsreisender zu werden, ein harter und wortkarger Typ, der Erste, der seinen Fuß auf einen weißen Fleck auf der Landkarte setzte. Ich trieb mich weiterhin in der Natur herum. Ich ging angeln. Ich schlief im Zelt. Ich unternahm Bootsausflüge und kletterte in den Bergen. Das alles machte ich und noch mehr, als ich älter wurde. Ich sah die Wüste und den Regenwald, Vulkane und Lagunen. Ich sah Felsmassive, die so mächtig waren, dass mir der Atem stockte. Dennoch hinterließen diese Naturerlebnisse nicht denselben Eindruck bei mir wie in meiner Kindheit. Sie blieben nicht auf dieselbe Weise in meiner Erinnerung haften. Wie ich herausfand, lag das daran, dass es einen Abstand zwischen mir und dieser Natur gab. Ich stand außerhalb von ihr und betrachtete sie, die eiskalten Berggipfel und die dampfenden Regenwälder. Ich war ein Gast. Wir waren nicht mehr so miteinander verbunden wie in meiner Kindheit.
Als ich klein war, bin ich nie weit gereist. Gleichwohl war jeder Tag eine neue Expedition. Ich befand mich ausschließlich in der Natur, die ich als meine eigene verstand: ein norwegischer Mischwald im Flachland, Fichtenwälder und Forstwege, winzige Vögel in den Laubbäumen, Kiefern auf den Höhenzügen, Sümpfe und Seen, die Schwarzdrossel im Frühjahr, die Mücken an milden Sommerabenden und die Forellen, die ständig an die Wasseroberfläche schnellten. Ich vermisste das Gefühl, in der Natur zu sein, weil ich sie einfach als so bedeutungsvoll erlebt hatte. Dass alle meine eindringlichsten Erinnerungen von der Natur handelten, begriff ich als wichtiges Zeichen.
Heute bin ich erwachsen. Längst habe ich mich an ein Leben gewöhnt, in dem ich viel seltener im Wald bin als in meiner Kindheit. Über lange Zeiträume habe ich nicht ein einziges Mal an den Wald gedacht, weil es immer etwas Wichtigeres gibt. Nicht nur den Job. Menschen und Dinge wollen irgendwohin gebracht oder von irgendwo abgeholt werden, es gibt Geburtstage und Konferenzen, Jubiläumsfeiern und Hilfsaktionen in der Nachbarschaft, Dinge sind instand zu halten und Pläne zu schmieden, Berichte abzugeben und Freunde einzuladen. Meist war ich als freiberuflicher Autor tätig. Die letzten sieben oder acht Jahre habe ich in meinem Büro zu Hause gearbeitet, oder ich war im Vaterschaftsurlaub. Im seligen Durcheinander von Arbeit und häuslichem Leben bin ich wie eine schwergewichtige Fruchtbarkeitsgöttin durch die Küche geschwankt, habe Telefonate geführt, Haferbrei gekocht und meine Kinder auf dem Arm herumgetragen.
Es war ein hervorragendes Leben. Ich habe mich darin wohlgefühlt, es passte zu mir. Aber mir fehlte auch etwas. Und der Wald war zu einem Ort geworden, der der Vergangenheit angehörte.
Unsere Welt besteht im Großen und Ganzen aus zwei verschiedenen Bestandteilen: dem von Menschen geschaffenen Teil und dem, der nicht unseres Ursprungs ist: Kultur und Natur. Auf der einen Seite das, was Technik, Industrie und andere intellektuelle Leistungen hervorgebracht haben. Und auf der anderen: das Organische, das aus sich selbst heraus entstanden ist, sich von allein weiterentwickelt und am Leben erhält, ohne Zutun des Menschen. Befindest du dich in dem einen Element, sehnst du dich nach dem anderen.
Die Vorstellung von der Natur als Quelle der Harmonie und Klarheit ist vermutlich so alt wie die Zivilisation selbst. In vielerlei Hinsicht ist sie banal. Sehnsucht nach der Stille des Waldes zu empfinden setzt voraus, dass wir eine Trennung zwischen der Natur und uns selbst erleben, dass die Natur etwas anderes ist als wir, dass wir heutzutage nicht mehr ein Teil von ihr sind. Sogenannten Naturvölkern wird diese Auffassung wohl eher fremd sein.
Das höchste Ziel der vom Menschen geschaffenen Kultur besteht darin, ihm eine physische und mentale Komfortzone bereitzustellen. Sie soll uns geregelten Zugang zu Nahrung und Wärme gewähren, uns aber auch Sicherheit, Unterhaltung und geistige Anregung bieten.
Kultur sieht so aus: eine Wohnung, ein Sportstudio, ein Kino, eine Bibliothek, eine Kaffeebar, ein Restaurant und eine Kneipe – damit wäre das meiste abgedeckt. Dennoch begeben wir uns oft in die Natur, wenn wir das Bedürfnis danach verspüren, uns abzukoppeln. Warum? Weil der Natur Eigenschaften nachgesagt werden, die im Gegensatz zu dem stehen, was Kultur produziert.
Verursacht Kultur Stress, bietet Natur Ruhe.
Ruft Kultur Engstirnigkeit hervor, verschafft Natur einen Überblick.
Macht Kultur die Menschen einsam, werden sie durch die Natur befreit.
Diese und viele andere Vorstellungen haben sich so in unserem Bewusstsein festgesetzt, dass sie zu einem Teil unseres kollektiven Naturverständnisses geworden sind. Wir leben in einer Zeit, in der ein Ausflug in den Wald als Heilmittel für mehr oder weniger jedes Leiden verabreicht wird. Wir glauben an den lindernden Einfluss der Natur; an ihre Fähigkeit zu heilen, uns auf null zurückzusetzen und uns dem Menschen näherzubringen, der wir ursprünglich waren oder zu sein bestimmt sind.
Ich bin keine Ausnahme. Mein ganzes Leben lang habe ich mich der romantischen Vorstellung von einem einsamen Leben im Wald hingegeben, obgleich nur sehr wenige der tatsächlich gemachten Erfahrungen versprachen, dass dieses Leben so frei und angenehm sein würde, wie ich es gern hätte. Ganz im Gegenteil, erstaunlich oft war es unangenehm, und nicht selten erschien es mir völlig sinnlos. Obwohl die Erfahrung etwas anderes lehrt, existieren diese romantischen Vorstellungen weiterhin. Bei mir und auch bei vielen anderen. Während die Kultur zum Gegenstand präziser Analysen und niemals endender kritischer Debatten gemacht wird, genießt die Natur geradezu einhellige Verehrung. Wir schreiben ihr viele Eigenschaften zu, die sie möglicherweise gar nicht hat. Warum tun wir das? Wozu soll das gut sein? Und was ist eigentlich die Natur der Natur?
Als mir diese Gedanken zum ersten Mal kamen, war es Sommer. Die ganze Familie verbrachte vier Wochen in unserer Ferienhütte, und mit jedem Tag fühlte ich mich besser. Es war ein einfaches und praktisches Dasein, ein Leben, in dem die Natur jederzeit...