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Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien

AutorMartin Becker
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492972956
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Es gibt sie, die Museumsstadt. Die Postkartenidylle mit den 180 Brücken. Aber Martin Becker weiß, wo ihr Geist lebendig wird: in unspektakulären Spelunken und nieselnassen Nächten, in ehemaligen Arbeitervierteln, die zum Szenetreff mutiert sind, und in Fahrradwerkstätten, die gleichzeitig als Café fungieren. Und er weiß auch: Da ist ein Tschechien jenseits der Hauptstadt. Er nimmt uns mit nach Brünn, nach Ostrava und ins Altvatergebirge. Macht uns vertraut mit der bittersüßen Schwermut der tschechischen Seele, aber auch mit dem »?eský humor«. Und er zeigt uns, wo heutzutage noch tschechische Wunder geschehen.

Martin Becker, 1982 geboren, ist in Plettenberg aufgewachsen. Er ist freier Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Literaturkritiker beim Deutschlandfunk und bei Deutschlandradio Kultur und berichtet in Features und Reportagen unter anderem aus Tschechien, Frankreich, Kanada und Brasilien. 2007 erschien sein mehrfach ausgezeichneter Erzählband »Ein schönes Leben«, außerdem realisierte er eine Reihe von Hörspielen und Lesungen gemeinsam mit dem tschechischen Schriftsteller Jaroslav Rudi?. Martin Becker lebt mit seinem moldawischen Straßenhund in Leipzig; seine Bücher erscheinen bei Luchterhand, zuletzt der Roman »Der Rest der Nacht«.

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Leseprobe

Die unerträgliche Leichtigkeit der Stadt: Eine ganz üble Liebe


Irgendwann zu Schulzeiten las ich aus freien Stücken Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von Milan Kundera. Diese obsessive Abhängigkeitsgeschichte zwischen Tomáš und Teresa, dem Prager Klinikarzt und der Serviererin vom Land. Vergeblichkeit und Erfüllung allen Liebens in Reinform, der ganze Trotz der zwischenmenschlichen Zuneigungen. Die Handlung spielt größtenteils in Prag, noch dazu um das Jahr 1968. Heißt also, Niederschlagung des Prager Frühlings, heißt also, kollektive Demütigung des ganzen Volks durch die sowjetischen Besatzer. Milan Kundera selbst verließ übrigens Mitte der Siebziger, vom Regime zur persona non grata erklärt, die Tschechoslowakei Richtung Frankreich, verlor seine tschechische Staatsbürgerschaft und pflegt seitdem ein ausgesprochen schwieriges Verhältnis zu seinem Heimatland.

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, veröffentlicht 1984, erzählt von diesen furchtbaren Widrigkeiten eines totalitären Regimes ebenso wie von den furchtbaren Widersprüchlichkeiten einer totalen Liebe. Nie bin ich seither wieder so angesprungen worden von der zarten wie ungeheuren Melancholie eines Buchs. Pathetisch gesagt, ich wurde damals erfasst von einer federleichten Schwermut tschechischer Art, die seitdem auch in meinem Leben Wurzeln geschlagen hat. Und obwohl Prag als Stadt in den Beschreibungen Kunderas immer nur marginal vorkommt, obwohl fast keine Straße und kein Ort konkret benannt werden, vermittelt sich doch eine Atmosphäre, die bleibt. Eigentlich war es nach Kundera also nur eine Frage der Zeit, bis ich irgendwann dieses Prag sehen musste.

Vor mehr als einem Jahrzehnt schenkte ich also meiner damaligen Freundin zu unserem Jahrestag eine romantische Reise nach Tschechien. Und so bewegten wir uns zum ersten Mal im Eurocity von Dresden aus über die Grenze, wir Unwissenden, und so hörte ich zum ersten Mal den Klang dieser verzaubernden Sprache, denn kurz hinter Bad Schandau kippte das streng gebellte Zugdeutsch in für meine Ohren zärtlich gesäuseltes Bahntschechisch um.

Kurz vor Děčín leuchtete mir auf einem unbewohnten Abbruchhaus ein gespraytes, lachendes Gesicht entgegen, unter das der Graffitikünstler »GHETTO« notiert hatte. Und je näher der Zug sich an der Elbe entlang und durch die nordböhmische Landschaft in Richtung der Industriestadt Ústí nad Labem schob, desto dominanter wurde der Qualm aus den vielen Fabrikschloten. Nach dem Verlassen von Ústí, und das ist bis heute so, obwohl ich die Strecke sicher schon hundert Mal gefahren bin, erfasste mich eine innere Unruhe. Ich konnte nicht mehr lesen und nicht mehr Musik hören, ab jetzt gab es kein Halten mehr, ab jetzt war es nur noch gut eine Stunde. Příští stanice: Praha. »Nächste Station: Prag«.

Irgendwann nahm der Zug eine Kurve, und auf dem Hügel in der Ferne sah ich zum ersten Mal die Prager Burg. Kurzzeitig offenbarte sich also das Bild der Stadt, die sich in gewisser Art und Weise ja von allen Seiten an die Moldau anschmiegt oder sich ihr aufdrängt, je nach Perspektive. Ich sah die Brücken, die Türme, das ganze Panorama für einen kurzen Moment. Nach der nächsten Kurve war all das wieder verschwunden. Und mir wurde so übel, dass ich mich während der letzten Minuten der Fahrt mit den sanitären Anlagen des Eurocity vertraut machte.

Wäre ich jetzt sentimental, dann würde ich von der Überwältigung reden beim ersten Anblick der Stadt, dieses Zuviel, das mir erst auf die Sprache und dann auf den Magen schlug, aber leider ist nichts dergleichen wahr. Ich hatte am Tag vor der Abreise in Deutschland schlechtes Imbissessen gegessen, wollte diese Reise zum Jahrestag aber partout nicht absagen.

Jetzt also sind wir beim Schicksalsmoment fast schon Kundera’schen Ausmaßes angelangt: Mit grünblassem Gesicht und ziemlich wackligen Beinen fiel ich mehr aus dem Zug, als dass ich stieg, ehrlich gesagt wünschte ich mir nichts sehnlicher herbei als mein deutsches Sofa, aber dafür war es jetzt zu spät. Verfolgt von den zahlreichen Vermietern, die direkt vor dem Zug ihre weichen Betten für harte Kronen anboten, angetrieben von der reinen Idee, jetzt also endlich hier zu sein, ermuntert von den trällernden Melodien aus den schrebbelnden Lautsprechern, gestützt von meiner Freundin, die sich unseren Jahrestag wohl auch anders vorgestellt hatte, erreichten wir die Metro, erreichten wir die Station, erreichten wir die Pension, zum Glück weit genug entfernt vom Trubel der Innenstadt und mit Blick auf eine Regionalzugbrücke. Das Ganze übrigens an einem wirklich eiskalten Tag im Februar, an dem es niemals richtig hell wurde – ganz übel fing diese Liebe also an, was soll ich das beschönigen.

Natürlich hätte diese erste Begegnung mit Prag auch anders verlaufen können, aber das hob sich das Schicksal eben für später auf. Wäre es Sommer gewesen und der Magen in Ordnung, wir hätten uns ans Ufer der Moldau setzen und den scheinbar eigens für uns erdachten Choreografien der unzähligen Vögel auf dem im Sonnenuntergang blitzenden Dach des Nationaltheaters zusehen können, wie sie abheben und landen, abheben und landen. Wir hätten das Treiben auf den Brücken beobachtet und die Nummern der Straßenbahnen gezählt, bis sie sich wiederholt hätten. Heute weiß ich, dass das die Glücksmomente sind, aber so fing es eben nicht an mit mir und der, ach ja, Goldenen Stadt.

Röcheln statt Romantik, Bananen statt Burgen, Magentropfen statt Moldau – die einzige Unterhaltung in meinen ersten Prager Stunden, das passt aber doch eigentlich ganz gut, bot ein älterer tschechischer Bauarbeiter, der direkt vor unserem Pensionszimmerfenster eine Mauer errichtete. Und immer, wenn er in absoluter Rekordlangsamkeit und permanent mit seinem Kollegen quatschend dem Bauwerk einen neuen Stein hinzufügte, schaute er kurz und verschämt auf den blassgrün schimmernden Touristen auf dem Bett – und lächelte und nickte mir zu. Übrigens besserte sich auch diese Lage im Laufe der nächsten drei Tage nicht wesentlich, mag sein, dass sich die Mauer in unsichtbarer Art und Weise ausdehnte, mag sein, dass immer wieder Steine ausgetauscht und für nicht gut befunden wurden, mag sein, dass das alles nur ein sehr realer Fiebertraum war, aber auch am Tag unserer Abreise hatte das Bauwerk nicht an Umfang gewonnen. Manchmal bin ich mir sicher, dass jenes Mäuerchen, dessen Sinn sich mir übrigens auch nach über einem Jahrzehnt des Nachdenkens noch nicht erschlossen hat, bis heute auf seine Fertigstellung wartet. Und dass der Bauarbeiter gar kein Bauarbeiter war, sondern lediglich dazu abgestellt, schwächelnden Touristen ein verschämtes Lächeln zu schenken. Kafkareien wollen gehegt und gepflegt werden.

Gehen wir nicht auf gastroenteritische Details ein, irgendwann wurde die Entscheidung getroffen, einen Arzt zu konsultieren, irgendwann wurde aus unerfindlichem Grund von der Pensionsbetreiberin gleich der Krankenwagen gerufen, irgendwann lag ich also auf der Trage und fuhr das erste Mal durch Prag, ohne ein Wort Tschechisch, aber mit Blaulicht. Unsere Pension befand sich genau an der Grenze zum Innenstadtbezirk, in Karlín nämlich, Prag 8. Heißt also, das zuständige Krankenhaus war das Bulovka in Libeň, unendlich weit draußen für meine damaligen Begriffe. Überhaupt, der Name Bulovka löste damals noch nichts in mir aus.

Nach diversen Untersuchungen fragte mich der des Englischen mächtige Klinikarzt (er hieß übrigens, ich schwöre es, ich habe es auf seinem Namensschild gesehen, Tomáš mit Vornamen!), warum ich so wahnsinnig gewesen sei, diese Reise überhaupt zu machen. Ich konnte es ihm nicht sagen. Und warum ich mich weigern würde, im Krankenhaus zu bleiben, die Blutwerte seien bedenklich. Auch das konnte ich ihm nicht beantworten. Mit Magentropfen, strengen Anweisungen zur einzuhaltenden Bettruhe und Bananendiät entließ er mich also in meine erste Prager Nacht. Ein über die ganze Geschichte enorm amüsierter Taxifahrer mit enormem Schnauzbart brachte mich zurück zu meiner Pension. Zum Abschied sah er mir ins blassgrüne Gesicht, bestaunte meine Augenringe, reichte mir seine Hand und sagte: To je život. »So ist das Leben.«

Und dann kam tatsächlich ein Moment, den ich nie wieder vergessen werde: Ich stand eine Weile dort allein vor der Unterkunft in der Kälte, hatte den winterlichen Geruch in der Nase, von Kohlenöfen und Essensdünsten, sah eine alte Dame mit dicker Brille im Erdgeschoss des Altbaus gegenüber ein Kreuzworträtsel lösen, beobachtete den vorbeiratternden Zug auf der scheinbar wackelnden Brückenkonstruktion, hörte tschechische Wortfetzen von dick eingepackten Passanten, und auf einmal wusste ich, so schwach und dumm, diese Reise überhaupt gemacht zu haben, was ich dem Arzt hätte antworten sollen: dass ich tatsächlich verliebt war. Ich kann es bis heute nicht erklären, aber von diesem magischen Moment an, als wäre da plötzlich eine Handbreit Luft zwischen mir und dem kaputten Prager Gehsteig gewesen, in diesem Bruchteil einer Sekunde, da war alles klar. Dass ich sobald wie möglich zurückkommen, dass ich mir die Sprache einverleiben würde, und sei es auch noch so kompliziert bei meinem fehlenden Talent, dass hier und genau hier der Ort war, der, Zufälle gibt es nicht, mich auf unbestimmte Art ausgesucht hatte oder ich ihn oder wir uns, wer weiß das schon.

Meine damalige Freundin und ich schleppten uns in den folgenden Tagen tatsächlich noch über die Karlsbrücke und durch die Altstadt, wir gingen über den trotz der Kälte in üblicher Zirkusmanier prosperierenden Wenzelsplatz, wir liefen durch die damals noch recht einsamen...

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