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Geschichte des modernen Staates

Von den Anfängen bis zur Gegenwart

AutorWolfgang Reinhard
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
ReiheBeck'sche Reihe 2423
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406692680
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wolfgang Reinhard, der Autor der preisgekrönten «Geschichte der Staatsgewalt», fasst in diesem Band die Geschichte des modernen Staates knapp und präzise zusammen. Er erklärt, warum der moderne Staat nur in Europa unter besonderen geographischen und ökonomischen Rahmenbedingungen durch das Zusammenwirken des Erbes der Antike und der Kultur junger Völker entstehen konnte. Dann behandelt er die verschiedenen Aspekte der Entwicklung von frühmittelalterlichen Monarchien zu den Machtstaaten des 18.Jahrhunderts: Institutionen, Selbstdarstellung und Diskurse der Monarchie, Lokalherrschaft, Stände- und Steuerwesen, Kirche und Staat, Recht und Justiz, Krieg und Gewalt, Diplomatie und Völkerrecht. Von der Französischen Revolution führt der Weg zum Nationalstaat, zur Demokratie und zum Sozialstaat, aber auch zum Triumph des Kolonialismus und zu den Exzessen des totalen Staates. Schließlich behandelt Reinhard auch den Niedergang des modernen Staates und versucht zum Schluss die Frage zu beantworten, ob der moderne Staat noch eine Zukunft hat.

Wolfgang Reinhard ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte in Freiburg. Bei C. H. Beck sind von ihm erschienen «Geschichte der Staatsgewalt» (32002) sowie «Lebensformen Europas» (22006). 2003 erhielt er den Historikerpreis.

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Leseprobe

II Aufstieg des modernen Staates


1. Warum Europa?


Hinreichende Bedingung für den Aufstieg des modernen Staates war, wie gesagt, eine Vielzahl kontingenter Ereignisse in anderthalb Jahrtausenden. Diese setzten aber notwendige Bedingungen voraus, die nur in Europa gegeben waren.

Bereits der Blick auf die Landkarte lässt eine wesentliche Eigenschaft Europas erkennen, die es von anderen Erdteilen unterscheidet: seine räumliche Untergliederung in verschiedene, relativ kleine Landschaften, die sich in seinem politischen Pluralismus wiederholt. Es ist nie gelungen, ganz Europa auf Dauer zu einem Großreich zu integrieren oder auch nur einer ständigen Hegemonie zu unterwerfen. Bezeichnenderweise gilt derselbe Befund verkleinert für die Balkanhalbinsel, auf der sich demgemäß in der Antike ebenfalls die Pluralität griechischer Kleingemeinwesen durchsetzte, deren dynamische Rivalität wesentliche Bausteine des modernen Staates hervorbrachte.

In Mittel- und Westeuropa führte die Völkerwanderung zu politischem Pluralismus. Neue Königtümer entstanden, aber auch adelige Herrschaft aus eigenem Recht oder durch königliche Verleihung, denn im sich formierenden Adel verschmolzen alte Familien mit neuen Königsdienern und Mitgliedern der römischen Provinzialaristokratie. Herrschaft bezog sich stärker auf persönliche Abhängigkeit («Personenverbandsstaat») als auf territorial definierte Zugehörigkeit («Flächenstaat»). Könige waren dabei durch größere Macht und häufig durch sakrale Legitimation ausgezeichnet. Aber sie waren oft weniger Herren ihrer adeligen Untertanen als bloße Erste unter Gleichen, die als «Staatsgründer» höchstens einen Wettbewerbsvorteil gegenüber hunderten von potentiellen Rivalen hatten. Höchst erfolgreiche Reichs- und Staatsgründer Europas wie die Habsburger oder die Hohenzollern waren von Haus aus gewöhnliche Adelsfamilien und keineswegs charismatische Königshäuser.

Das eigentliche Geheimnis des europäischen Erfolgs war aber die überaus komplexe Art und Weise, wie die politische Kultur der jungen Völker (die sich keineswegs auf die so genannten «Germanen» reduzieren lassen) Verbindungen mit dem kulturellen Erbe des Mittelmeerraums einging, in dem sich altorientalische, griechische, römische, jüdische und christliche Komponenten oft kaum trennen lassen. Doch auch für wesentliche Bausteine der europäischen Kultursynthese ist keine eindeutige Herkunftsbestimmung möglich.

Die autonome Stadtgemeinde Europas, ohne deren Republikanismus, Kapitalismus und soziale Disziplinierung der moderne Staat nicht möglich gewesen wäre, ist keineswegs eine geradlinige Wiederbelebung der antiken Polis. Das hochbedeutsame Erbe der letzteren wurde vermutlich eher literarisch weitergegeben. Parallel zur Entstehung der Städte verläuft in Europa außerdem ein weiterer Prozess der Ausbildung politischer Autonomie, die Entstehung von Landgemeinden, wie sie der Antike unbekannt waren. Dörfer waren keineswegs die ursprüngliche ländliche Siedlungsform, sondern entstanden im Zuge der Bevölkerungszunahme und der Ausbildung der ebenfalls spezifisch europäischen Wirtschaftsform, die Ackerbau und Großviehhaltung wirkungsvoll verknüpfte. Im Rahmen von Adelsherrschaft oder im Gegensatz zu ihr beanspruchten Europas Dörfer ein von Ort zu Ort wechselndes, in manchen Fällen aber beträchtliches Maß an Selbstbestimmung. Dieser so genannte «Kommunalismus» (Peter Blickle) kann durchaus als eine Art von Basisrepublikanismus betrachtet werden. Adelsherrschaft wie städtische und ländliche Kommunalautonomie ermöglichten eine fundamentale Widerspenstigkeit der Europäer gegenüber den Ansprüchen von Reichs- und Staatsgründern, die sich zu gewaltsamem Widerstand steigern konnte und auf diese Weise eine der wichtigsten Wurzeln moderner Demokratie geworden ist.

Ein Grund zum Widerstand war häufig die Verletzung des Eigentumsrechts der Untertanen. Bereits Besteuerung ohne Zustimmung der Betroffenen galt als solche. Denn das Privateigentum mit uneingeschränkter Verfügungsgewalt (Dominium) des Römischen Rechts stieß bei den jungen Völkern auf verwandte Rechtsvorstellungen, so dass es von den meisten Juristen als unanfechtbarer Bestandteil des Naturrechts betrachtet wurde. Der Philosoph John Locke sollte schließlich den Menschen schlechthin als Eigentümer definieren, als Eigentümer seiner Person, als Inhaber seiner Rechte und erst danach als Eigentümer seiner Güter und des durch seine Arbeit dazu Erworbenen. Die Bedeutung dieses weltgeschichtlich einmaligen Eigentumsrechts für Politik und Wirtschaft Europas kann gar nicht überschätzt werden.

Das im 11. Jahrhundert vollständig wieder entdeckte Römische Recht stellte eine der wichtigsten Hinterlassenschaften des Imperium Romanum für Europa dar. Es löste erhebliche Schübe der spezifisch europäischen Rechtskultur aus, die direkt oder indirekt von hoher politischer Bedeutung waren. Direkt bewirkte es dank geschickter Auslegung eine Steigerung der monarchischen Gewalt über die volksrechtliche Gewohnheit hinaus. Das betraf zunächst den Kaiser, der ja ohnehin an das Imperium Romanum anknüpfte (Was dem Kaiser beliebt, hat Gesetzeskraft und Der Kaiser ist nicht an das Gesetz gebunden), dann durch Analogieschluss die übrigen Könige (Der König ist Kaiser seines Reiches), schließlich sogar die Stadtrepubliken (Die Stadt ist sich selbst Kaiser). Hier liegen die Wurzeln der so genannten «absoluten Monarchie» der Neuzeit, der wichtigsten Schrittmacherin des modernen Staates. Aber auch die Beschränkung des Papsttums durch das Konzil und der Monarchien durch das Ständewesen fand ihre Begründung in der Formel: was alle angeht, muss von allen bewilligt werden, die eigentlich aus dem römischen Vormundschaftsrecht stammte.

Weiter hat das Römische Recht den Weg zu der für das moderne politische Leben grundlegenden Rechtsfigur der juristischen Person und damit zur Überwindung eines nur auf persönliche Beziehungen gegründeten Gemeinwesens gebahnt. Es gab zwar einen Unterschied zwischen «öffentlich» und «privat», aber «öffentlich» bezeichnete nur die besondere Rechtssphäre des Königs im Gegensatz zu derjenigen anderer Leute, nicht aber etwas strukturell davon Verschiedenes wie heute. Deshalb konnte es bis weit in die Neuzeit hinein keine Staatsschuld geben, denn es gab keinen Staat als juristische Person, der haften konnte, sondern nur den König persönlich. Nach allerhand Zwischenlösungen, etwa dem Konzept der «Krone» als abstraktes Zwischenglied zwischen König und Reich, wurde schließlich nach römisch-rechtlichen Vorgaben die Vorstellung einer von ihren Mitgliedern unabhängigen, unsterblichen fiktiven Gesamtperson entwickelt.

Schrittmacher war dabei das Interesse der lateinischen Kirche, die auf diese Weise die Unveräußerlichkeit des Kirchengutes sicherte, bevor das Prinzip auf das Krongut angewendet wurde. Die römische Kirche hat sich aber nicht nur in diesem Punkt als Vermittlerin antiker Kultur an Europa erwiesen. Ursprünglich hatte das Christentum Distanz zur Politik und vor allem zum Krieg gehalten, wusste sich aber als Religion des Römischen Reiches dessen politischer Kultur anzupassen. Aus diesem Grund war die Kirchenorganisation «moderner» als diejenige der jungen politischen Gemeinwesen des europäischen Mittelalters, denn das System der Pfarreien, Bistümer, Erzbistümer mit dem Papst an der Spitze hatte ausgesprochen flächenstaatlichen Charakter und das kirchliche Personal pflegte ein institutionelles Amtsverständnis, das den Priester zum ersten Beamten Europas machte (Otto Hintze).

Außerdem baute das Papsttum seinen Anspruch auf Vollgewalt über die Kirche zum Modell einer unbeschränkten Monarchie mit freier Verfügung über menschliches Recht und Gesetz aus. Ein Kirchenrechtslehrer hat im 13. Jahrhundert als erster den Begriff «absolute Gewalt» in den europäischen politischen Diskurs eingeführt. Demgemäß nahmen sich die Monarchen Europas nachweislich den Papst zum Vorbild des Ausbaus ihrer Machtstellung.

Allerdings konnte der Papst seine kaisergleiche Stellung nur in der Westkirche durchsetzen. Und trotz päpstlicher Weltherrschaftsansprüche des Hochmittelalters blieb es im lateinischen Europa bei dem in der Spätantike formulierten Dualismus geistlicher und weltlicher Gewalt, auch wenn die erstere sich zunächst einen höheren Rang sichern konnte. Personenrechtlich wurden Klerus und Laien unterschieden, sachenrechtlich Spiritualia und Temporalia. Unterscheidung bedeutet aber keine vollständige Trennung. Vielmehr waren beide Sphären im Alltagsleben eng verklammert. Die Monarchen Europas verloren durch diese Trennung keineswegs ihren sakralen Charakter, sondern wussten ein christliches Charisma eigenen Rechts aufrecht zu erhalten, das in der Idee des «Gottesgnadentums» bei deutschen Fürsten bis 1918 weiterleben sollte.

Dieser weltgeschichtlich ebenfalls einzigartige Dualismus von geistlich und weltlich verbunden mit der praktischen Verknüpfung der theoretisch getrennten Sphären bescherte Europa nicht nur den...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über den Autor3
Impressum4
Inhalt5
I Grundlagen und Grundfragen7
1. Was ist ein «Staat»?7
2. Staaten, Reiche, Republiken14
3. Staat und Gesellschaft20
4. Staat und Recht22
5. Theaterstaat und politische Kultur27
II Aufstieg des modernen Staates32
1. Warum Europa?32
2. Von der Monarchie zum Machtstaat36
Monarchie36
Formen und Symbole41
Diskurse43
Machteliten und zentrale Institutionen47
Lokalherrschaft und Ständewesen53
Kirche und Staat60
Recht und Justiz64
Machtmittel70
Krieg und Gewalt76
Diplomatie, Staatensystem, Völkerrecht82
3. Ancien Régime, Revolution, Ideologie86
4. Vom Machtstaat zum totalen Staat89
Nation und Religion89
Verfassung und Demokratie93
Steuerstaat, Kriegsstaat, Sozialstaat97
Totaler Staat103
Mächtesystem und europäische Expansion107
III Niedergang des modernen Staates110
1. Von der Selbstlegitimation zur Delegitimation110
2. Verhandlungsdemokratie und Abbau des Sozialstaates113
3. Von der Dekolonisation zum Staatszerfall116
4. Internationalisierung und Globalisierung119
5. Hat der Staat noch eine Zukunft?122
Weiterführende Literatur125
Personenregister127

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