Einleitung:
Der Handlungsrahmen
Zur Tradition einer auf Jeanne d’Arc konzentrierten Nationalerzählung gehört es, vom «Abgrund» zu sprechen, vor dem «Frankreich» stand, bevor die Jungfrau erschien. Ein Abgrund, den sie – mit Gottes Hilfe – überwunden habe. Durch ihre Heldentaten und ihr Opfer sei Frankreich erst wirklich zu einer Nation geeint worden.
Die wissenschaftliche Historiographie hat diesen Topos der französischen Nationalerzählung selbstverständlich längst revidiert und aufgezeigt, wie stark bereits vor dem Auftreten der Jungfrau das Nationalbewusstsein ausgebildet war. So haben etwa die Studien von Colette Beaune und Philippe Contamine zu den zeitgenössischen Mentalitäten nachgewiesen, dass Jeannes Gläubigkeit und Selbstvertrauen durchaus in ihre Zeit passen. Die Entwicklung der Volksfrömmigkeit, die neue Betonung des individuellen Glaubens, die Erwartung schließlich, dass Gott ein Wunder tun werde, um das französische Königtum zu retten: All dies war so stark verbreitet, dass Jeannes Anspruch, Gott habe sie zur Rettung Frankreichs erwählt, ihren Zeitgenossen als glaubwürdig erscheinen konnte. Solche Bemerkung will keineswegs das Außergewöhnliche der Erscheinung der Jungfrau von Orleans mindern. Es soll nur angedeutet werden, dass Jeanne durchaus ein Mensch ihrer Zeit war und dass ihr außerordentliches Wirken nicht aus dem Rahmen des damals Möglichen fällt. Ähnlich hat im Übrigen schon vor mehr als 150 Jahren der große französische Nationalhistoriker Jules Michelet geurteilt, dem es darum ging zu zeigen, «wie natürlich Jeanne d’Arc gewesen ist».
Wie aber war das politische und kulturelle Umfeld der Jungfrau beschaffen; welches sind die Rahmenbedingungen ihres Handelns; wo muss die Schilderung einsetzen, um ihre Taten und ihr Schicksal hinreichend zu erklären? Es mag für unsere Zwecke genügen, sich auf die drei wesentlichen Problemkreise zu konzentrieren, die tatsächlich den «Rahmen» der Ereignisse der Jahre von 1429 bis 1431 bildeten: erstens die Entwicklung des Königtums der Valois-Dynastie; zweitens der Krieg der Monarchie gegen England; drittens die Politik des Fürstentums Burgund als eines Katalysators der Entwicklungen jener Zeit.
Unter der Dynastie der Valois (seit 1328) hatte sich das französische Königtum seit Mitte des 14. Jahrhunderts zu einer Erbmonarchie entwickelt, welche durch die Auseinandersetzung mit England – dem Hundertjährigen Krieg seit 1339 – zeitweilig stark geschwächt, nicht aber delegitimiert worden war. Zur Zeit des immens populären Herrschers Charles VI (1368–1422) war das Verhältnis der Monarchie zu den großen Territorialherren, den Fürstentümern Burgund, Bretagne usw., bestimmt von klarer symbolischer Ordnung und politischer Unterordnung. Das Königtum ruhte nicht allein auf den Pfeilern seiner territorialen Macht und seinem geistlichen Anspruch des gottgewählten, weil gesalbten Königs; unter Charles VI hatte es sich auch eine starke Zentralgewalt von treuen Staatsbeamten geschaffen. Zu jener Zeit wurde auch die Eigenständigkeit eines französischen Staatskirchentums gallikanischer Ausrichtung verankert, welches sich aus der Herausforderung des Gegenpapsttums mit Sitz in Avignon (dem Großen Schisma seit 1378) herauskristallisiert hatte.
Aber die Macht dieser Monarchie blieb nicht unangetastet. Das Fürstentum Burgund entwickelte sich im 14. Jahrhundert zu einer mächtigen Gebietsherrschaft eigener Tradition und Legitimität. Die Konkurrenz zum Haus Orleans war umso grundsätzlicher, als durch die verzwickte (hier glücklicherweise nicht weiter erklärungsbedürftige) Heirats- und Zueignungspolitik (Apanagen) die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Zweigen der Valois und den anderen Fürsten äußerst eng waren. Besonders brisant war die Tatsache, dass auch die Herrscher des expansiven Herzogtums Burgund «königlichen Bluts» waren. So wurde König Charles VI zwar von seinem burgundischen Vetter Philipp der Kühne (Le Hardi) als König von Frankreich anerkannt, aber stark bedrängt, wenn es um konkrete Interessen und Machtverhältnisse ging.
Diese Tendenz wurde durch ein dramatisches Ereignis verstärkt: Im Jahre 1392 erkrankte der König psychisch und schwankte fortan bis zu seinem Tod im Jahre 1422 zwischen klarem Verstand und geistiger Umnachtung. Seinem Charisma tat diese Erkrankung keinen Abbruch, denn der kranke Herrscher blieb beim Volk äußerst beliebt und sein Leiden galt als imitatio Christi. Aber sein langes Siechtum führte zu mehr Bewegungsfreiheit der großen Fürsten, insbesondere des Burgunders Philipp des Kühnen und Louis d’Orléans, des jüngeren Bruders des Königs. Louis d’Orléans, der informell seinen erkrankten Bruder vertrat, gelang es in jener Zeit, seine Hausmacht durch weitere Apanagen erheblich zu erweitern. Sein unehelicher Sohn, Jean Dunois, wurde zum Stadtkommandanten von Orleans ernannt. Der «Bastard von Orleans» – wie er auch genannt wurde – war später einer der Weggefährten Jeanne d’Arcs. Wichtig war auch, dass Graf Bernard VII von Armagnac sich auf die Seite von Orleans schlug und seine gefürchteten Söldnertruppen, die als «Armagnaken» auch in den folgenden Jahrzehnten für ihre Kampfkraft und Grausamkeit berüchtigt waren, dem König zur Verfügung stellte. Dieser Parteinahme wurde so große Bedeutung beigemessen, dass ab ca. 1410 die «Partei» des Dauphin Charles, des künftigen Königs Charles VII, häufig schlicht als «Armagnacs» bezeichnet wurde.
Als der Burgunder Philipp der Kühne im Jahre 1404 starb, hatte dessen Sohn Johann Ohnefurcht (Jean Sans Peur) einen schweren Stand gegen Louis d’Orléans, den Bruder des umnachteten Königs. Die ständigen Reibereien um Ehre und Besitz gipfelten in der Ermordung von Louis d’Orléans durch Vertraute des Burgunders am 23. November 1407. Das war der Auslöser zu einem offenen Bürgerkrieg, der noch ein Vierteljahrhundert später, zur Zeit der Jungfrau von Orleans, weiter schwelte.
In den auf die Mordtat von 1407 folgenden Jahren verstärkte das Haus Orleans seine Territorialmacht weiterhin durch gezielte Heirats- und Erwerbspolitik. Das Valois-Königtum blieb durch diese Familienpolitik trotz der geistigen Umnachtung des Königs ein zentralisierendes Machtensemble. Um das Haus Orleans herum bildete sich die «Ligue de Gien», eine lose Gemeinschaft bedeutender Territorialherrschaften, der u.a. die Grafschaften Anjou, Armagnac und Bretagne angehörten. In diesem Verbund wurde die bereits während des gesamten 14. Jahrhunderts von Orleans betriebene Politik des starken Zentralstaates weiterentwickelt, wohingegen das Herzogtum Burgund sich zunehmend als «Partei der Freiheit, der Traditionen und der guten Sitten» (Kerhervé) empfahl. Im wesentlichen ging es in diesem Fürsten- und Bürgerkrieg der Jahre nach 1407, der vor allem in Paris wiederholt zu Revolten, Machtübernahmen und blutigen Racheaktionen führte, um die Frage, ob die Monarchie oder die Territorialfürsten in Frankreich die Oberhand behalten würden.
Dieser säkulare Konflikt zwischen den miteinander verwandten aber tief verfeindeten Fürsten von Burgund und Orleans nahm eine neue Dimension an, als sich ab 1413 der englische König Henry V mit Ansprüchen auf die französische Krone in diesen «Bruderkrieg» einmischte. Mit der massiven Androhung einer Invasion versuchte er, beide Parteien zu erpressen und gegeneinander auszuspielen. Und natürlich behaupteten die Armagnacs, dass Burgund dem Engländer helfe. Schließlich landete ein englisches Heer von ca. 12.000 Mann an der Seine-Mündung, und am 25. Oktober 1415 kam es zu einer der heute noch berühmtesten Schlachten der europäischen Geschichte, der Schlacht von Azincourt. Die überlegene Taktik und bessere Bewaffnung der Engländer führte hier zu einer vernichtenden Niederlage des königlichen Heeres; viele höchstrangige Führer des französischen Rittertums kamen entweder um oder gerieten in Gefangenschaft.
In den folgenden Jahren bauten die Engländer ihren militärischen Erfolg aus: Nachdem sie die Normandie zwischen Caen und Rouen besetzt hatten, drangen sie allmählich Richtung Paris vor. Diese Landnahme wurde ihnen auch dadurch erleichtert, dass der Krieg zwischen Armagnacs und Bourguignons weiter anhielt und beide Parteien versuchten, mit den Engländern «ins Geschäft» zu kommen, um den jeweiligen Gegner zu schwächen. «Nationale» Solidarität spielte in diesen internationalen dynastischen Auseinandersetzungen und Kalküls noch keine Rolle – wenngleich es zu jener Zeit durchaus schon ein nationales Empfinden gab, wie gerade die Geschichte der Jungfrau von Orleans wenige Jahre später erweisen sollte.
Eine weitere Steigerung erfuhr der Streit zwischen Orleans und Burgund in den Jahren 1419/20, als sich die Burgunder zunächst der Stadt Paris bemächtigten und die dortige rigoros zentralistische und wenig volksnahe Herrschaft der Armagnacs beendeten. Der Dauphin Charles, Sohn des noch lebenden, aber inzwischen fast vollständig geistig...