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E-Book

Begleitheft für den HPK in Herne

AutorGerhard Hallen
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783741231421
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Das Begleitheft enthält die im Herner Seminar erarbeiteten Inhalte aus den Jahren 2014-16. Der Dank des Autors geht an die Seminarleitung, wie auch an Herrn Dr. Bomholt und an die Seminaristen/innen für ihre erhellenden Anregungen, die zu dieser Veröffentlichung führten.

Gerhard Hallen, Jahrgang 1952, war nach der Ausbildung zum Realschullehrer 13 Jahre im Archivdienst und anschließend an einer Waldorfregelschule, wie auch an Waldorf-Förderschulen tätig.

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Leseprobe

Die Arbeit mit dem Vierschritt


Schon 1911, also mehr als zwei Jahrzehnte vor den ersten Ansätzen zur Entwicklung der Motopädie, wies Rudolf Steiner auf die Bedeutung der Bewegung in der frühkindlichen Entwicklung hin. (1) Der Dreischritt „Gehen, Sprechen, Denken“ war aber schon seit 1884 bei seiner Arbeit mit dem hydrozephalen Otto Specht die wesentliche Grundlage eines erfolgreichen therapeutischen und erzieherischen Wirkens. (2)

Für die Kinder mit Entwicklungsverzögerungen bzw. massiven Entwicklungsstörungen und Einschränkungen ergibt sich aus den Angaben für die Erzieherin Sandroes, Frau Langen, eine dezidierte Schrittfolge:

  • Lerninhalte ins Bild setzen
  • Die Bilder in den Bewegungsorganismus (den „unteren Menschen“) integrieren (z.B. Schauspiel, Rechnen in Bewegung, Laufen von Buchstaben und vieles andere mehr)
  • Die Erlebnisse reflektieren lassen – z.B. in Form von mündlichen und/oder schriftlichen Nacherzählungen oder auch von Nachbildungen (s. u. Herstellen von Landkarten usw.)
  • Entwickeln von eigenen Fragen/ Rätseln, die sich aus dem Erlebten ergeben. An diesem Punkt sind wir im Bereich der Kognition bzw. bei der Transferleistung angelangt. (3)

Aus den folgenden Darstellungen wird erkennbar, dass es sich dabei nicht um ein Schema, sondern eine anthroposophisch fundierte Erweiterung des traditionellen Bildungsbegriffs handelt. So wird im Kapitel über die Anfänge des Geschichtsunterrichts deutlich, dass auf der Ebene des Bildhaften Begriffe vermittelt werden, die auf der Verstandesebene erst im Erwachsenenalter ausgebildet werden können.

Es werden also auf der Bild- und Bewegungsebene Begriffe angelegt, die gegebenenfalls erst in späteren Jahren, im heilpädagogischen Zusammenhang auch Jahrzehnten, kognitiv erfasst und erweitert werden. So können die Kinder einer Klasse auf unterschiedlichen Ebenen des Vierschritts zur Begriffsbildung kommen – die einen bildhaft, die anderen bilderzeugend/-darstellend, wieder andere schon kognitiv Ein Beispiel:

Die einen backen Brot, die anderen rechnen die prozentualen Anteile von Wasser, Mehl, Salz und Hefe aus, die nächsten notieren Rezepte, einige zeichnen Bilder von der Brotbackaktion. Jeder beteiligt sich nach dem Maß seiner Entwicklung… In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen ein Versuch, mein Bemühen um eine Realisierung dieses Ansatzes zu dokumentieren.

(1) Steiner, R.: Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, GA 15, Berlin 1911. Das erfolgreiche und nachvollziehbare ‚Konzept‘ Steiners hält auch den Forderungen der ‚modernen‘ Hirnforschung nach einer stringenten kognitiven Schulung der kommenden Kindergenerationen stand – besonders der handlungsorientierte Unterricht, der Logik und Sinnhaftigkeit als feste Bestandteile enthält. Wenn wir dazu noch die künstlerische Komponente und den Umgang mit den Konstitutionsbildern pflegen, sind wir schon ein gutes Stück vorweg.

(2) Ders.: Heilpädagogischer Kurs (fortan HPK), 6. Vortrag, S. 95f. und:

Ders.: Mein Lebensgang, verfasst 1923-25, GA 28, TB636, Dornach 1983, S. 78ff.

(3) Uhlenhoff, W.: Die Kinder des Heilpädagogischen Kurses, 3. Aufl., Stuttgart 2007, S. 39 (Bericht Frau Langens zu einem von Sandroe erfundenen Rätsel).

Die Annäherung ans Bildhafte über die Sinne

Nach einer 13jährigen Abwesenheit vom Schulbetrieb übernahm ich im Sommer 1991 an einer Waldorf-Regelschule die damalige erste Klasse. Die erste Unterrichtsstunde offenbarte, dass sich in dieser Zeit einiges verändert hatte:

Trotz meiner vermeintlich optimalen Vorbereitung machten die Kinder ihr eigenes Programm. Sie rannten im Klassenraum herum, unterhielten und prügelten sich und achteten nicht auf den an der Tafel zeichnenden Lehrer.

Zwar ließen sich einige Kinder dazu herab, die Krumme und die Gerade nachzuzeichnen, das Tun bündelte aber nicht die gemeinsame Aufmerksamkeit. Allein die Geschichte, für die Kinder von mir verfasst, faszinierte sie kurzzeitig. Ein Schüler bemerkte sogar:

„Die Geschichte kenne ich!“ – Hatte er sie vorab geträumt?

„Das wird schon“, meinten die Kollegen/innen wohlwollend. Ich war davon nicht überzeugt. Es ging nämlich genauso weiter. Einige Spontaneinfälle – Lieder und Gedichte aus dem Stegreif – brachten zwar für kurze Augenblicke Ruhe. Dann ging es aber munter weiter.

Ich beobachtete an den Kindern Folgendes:

  • Die Dauer der Konzentrationsfähigkeit war von 20 Minuten im Jahr 1977 (in Grundschulen ermittelter Durchschnittswert) auf etwa fünf bis zehn Minuten geschrumpft. Diese Spanne konnte im ersten Schulhalbjahr nicht ausgeweitet werden. (1)
  • Beim Erzählen der Märchen fehlte jedem/ r dritten Schüler/in das Imaginationsvermögen. Ich musste, weil immer wieder Zwischenfragen zum Wortverständnis und zum Ablauf der Geschichte gestellt wurden, Bilderfolgen an die Tafel zeichnen, die das Märchen dokumentierten und dadurch die Konzentration und das auditive Bilderfassen der Schüler/innen unterstützen.
  • Etwa die Hälfte der Kinder hatte grob- und feinmotorische Entwicklungsverzögerungen. Ebenso viele Schüler/innen lebten Reflexe aus, die in der frühen Kindheit nicht überwunden waren. Wenn ich zum Beispiel im rhythmischen Teil mit ihnen eine Schrittfolge übte, bewegten sich bei vielen die Arme mit. Selbst wenn wir bei der nächsten Übung die Arme verschränkten, klappten sie selbsttätig wieder auseinander.
  • Zum gleichen Thema: Mehr als die Hälfte der Kinder konnte grundsätzlich nicht auf seinem Platz sitzen bleiben. Sie rannten einfach los – ohne erkennbaren äußeren Anlass und ohne Eigenwahrnehmung.

Ich führte zahllose Gespräche mit Kollegen/innen, Schularzt und Therapeuten/innen. Ein Eurythmist, der eine eigene Klasse führte, riet mir, ich solle meine Fähigkeiten für die Kinder wahrnehmbar werden lassen. Er hatte gut Reden, denn sein Unterricht war von Eurythmie durchdrungen. Jede Bewegung, selbst die seiner Augen, seiner Finger, war geführt. Ein anderer Klassenlehrer-Kollege meinte, ich solle doch etwas Handwerkliches vorführen. Das werde die Aufmerksamkeit der Kinder schon binden. Er war ein exzellenter Handwerker. Man hörte ihn jeden Tag in seiner Klasse sägen und Raspeln – mal gemeinsam mit den Schülern/innen, mal allein. Meine handwerklichen Fähigkeiten waren aber suboptimal. Zwei Kolleginnen setzten ihre Fremdsprachenkenntnisse ein und brachten die Kinder mit englischen Zungenbrechern und Bewegungsspielen ins Leben zurück. In diesen Klassen herrschte eine angenehme Atmosphäre und gespannte Stille. Für diesen Ansatz hätte ich mich aber ein halbes Jahr in England aufhalten müssen, um annähernd geschmeidig mit der Sprache umgehen zu können.

Mir blieben als Werkzeug lediglich bescheidene Musikkenntnisse und mein halbwegs kreativer Umgang mit der deutschen Sprache. Mein Handicap war aber die mangelhafte Koordinationsfähigkeit in der Bewegung. Die in der Literatur empfohlenen Spiele konnte ich deshalb nicht umsetzen.

  • Also entwickelte ich eigene, auf meine mäßige Geschicklichkeit zugeschnittene Bewegungsübungen/-spiele – alles verbunden mit Reimen und Gesängen. Die Kinder nahmen das aufmerksam wahr. Sie hatten mitbekommen, dass ich mich mit dem Kollegium (Schulgeist) abgestimmt und um eine Lösung aus dem eigenen Kreativitätspool bemüht hatte. Einige Schüler/innen beschwerten sich aber, dass sie meine Sprüche und Spiele noch nie gehört bzw. gesehen hätten. Das entsprach nicht dem in ihrem Ätherleib angelegten Strukturen. „Macht einfach mal mit“, erwiderte ich. Und sie ließen sich darauf ein! (2)
  • Der Einsatz der gebundenen Sprache (ausschließlich in Reimen sprechen s.u.) verfing gleichermaßen. Sie beobachteten höchst interessiert meine Bemühungen, aus dem Stegreif etwas Sinnhaftes zu produzieren und sprachen leise oder auch lautlos mit. Einige Kinder bemühten sich, das Reimen in eigenen Formulierungen nachzuahmen und kamen zu beachtlichen Ergebnissen. Viele meinten nun, dass es ihnen in der Schule gefalle. Den Kindern mit erhöhtem Förderbedarf fiel es aber weiterhin schwer, dem Unterricht zu folgen, eigene, ungesteuerte Impulse zurückzuhalten bzw. umzuwandeln. (3)
  • Veränderungen in der Sitzordnung oder das Sitzen auf dem Boden (Ansätze zum „bewegten Klassenzimmer“) führten zu heftigen Auseinandersetzungen der Kinder untereinander. Sie kamen sich zu nahe. Also gingen wir wieder zur alten Sitzordnung über und bewegten uns in regelmäßigen Abständen nach Spielen, Reigen und Tänzen. (4)
  • Beim Versuch, auf dem Schulhof einen Reigen einzuführen, bemerkte ich, wie sensibel die Kinder insbesondere auf...
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