2. Es brodelt: Religiöse Aufbruchsbewegungen des 12. Jahrhunderts
Cluny und die Kreuzzüge
Im Gegensatz zu den großen und kleinen Adelsfamilien besonders in Frankreich, denen viel an dauernden Auseinandersetzungen gelegen war, um so kein festes Übergewicht, keinen Kern von Macht wachsen zu lassen, bestand das Interesse von Cluny, dem Kloster in Burgund, in einem möglichst ruhigen Umfeld. Cluny brachte die lokalen Herren zu Vereinbarungen in der «Gottesfriedensbewegung» zusammen. Freilich war weniger ein dauerhafter Frieden das Ziel, als vor allem der Schutz der Kirchengüter.
Cluny war eine Besonderheit, weil die vielen zugehörigen Klöster keine selbständigen Häuser waren, sondern nur Ableger. Anders als der Papst in Rom verfügte der Abt in Cluny über eine echte Zentrale mit einer dauerhaften Herrschaft. Freilich war das noch weit entfernt von dem Kommunikationsnetz, das dann die Zisterzienser aufbauten. Aber seine Reform und die langen tatkräftigen Abtsperioden des 11. Jahrhunderts garantierten die zentrale Bedeutung Clunys als Ordnungsmacht weit über Frankreich hinaus.
Ein ehemaliger Mönch aus Cluny, nun Papst Urban II., rief 1095 die gewaltbereiten, marodierenden bewaffneten Banden, darunter viele aus der Erbfolge verdrängte jüngere Söhne, auf, Krieger Christi zu werden und wie die Jünger seinem Ruf zu folgen. Die Kreuzfahrer gehörten zu den religiösen Aufbruchsbewegungen, die das 12. Jahrhundert prägten. Das neu erfundene Instrument Kreuzzug wurde zu einem Modell, das auch für andere Gelegenheiten einsetzbar war: Nicht nur für die bewaffnete Pilgerfahrt nach Jerusalem und die kriegerische Befreiung des Heiligen Landes von den Muslimen, sondern auch für den Spanienkreuzzug wurden dieselben geistlichen Belohnungen gewährt. Die nächste Stufe war erreicht, als sich die Kreuzzüge gegen die nicht-christlichen «Heiden» im Osten Europas richteten. So rief besonders Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) in einer Predigt (Epistola 457) zum sog. Wendenkreuzzug (1147) auf. Nicht mehr nur die bewaffnete Pilgerfahrt zum heiligen Ort war heilswirksam, sondern auch der Kampf an sich, wenn er denn als Krieg für die Christenheit unternommen wurde.
Eine entscheidende Wendung nahm der Kreuzzugsgedanke, als er sich dann gegen Christen richtete: Der Vierte Kreuzzug wurde von dem «Reiseunternehmen» Venedig (denn ab dem Zweiten Kreuzzug war der Landweg kaum noch passierbar und man war auf den Seeweg über das Mittelmeer angewiesen) für das eigene Interesse benutzt, den Konkurrenten Konstantinopel zu schwächen. Die Kreuzfahrer belagerten und eroberten 1204 mit Konstantinopel eine christliche Stadt und kehrten – mit geplünderten Reliquienschätzen – nach Hause zurück, ohne je einen Heiden gesehen zu haben. Schließlich richtete sich der Kreuzzug 1209–1229 gegen die Katharer (Albigenser), im Herzen Europas gegen eine ganze Grafschaft, deren Bewohner man zu Nichtchristen erklärte.
Von Beginn an war das Instrument des Kreuzzugs zum Krieg gegen die muslimische Herrschaft in Spanien benutzt worden. Und hier waren Clunys Interessen unmittelbar berührt: Die Könige von Spanien finanzierten das Kloster in erster Linie, damit die Mönche die Sorge für ihre Seelen übernahmen. Die Mönche von Cluny nahmen die Mäzene in das Buch des Lebens auf, aus dem die Namen der Verstorbenen Jahr um Jahr an ihrem Todestag wieder ins Gedächtnis (memoria) und die Gemeinschaft der Lebenden aufgenommen wurden; eine Seelenmesse wurde gelesen, ihre Namen aber waren für das Jüngste Gericht in das Bürgerverzeichnis des Himmelreiches eingetragen. Umgekehrt sorgten die spanischen Könige dafür, daß Ablegerklöster der burgundischen Mutter jeweils an der Grenzlinie der «Rückeroberung» (Reconquista) gegründet wurden. Der militärischen Eroberung Spaniens gegen die Muslime sollte die Christianisierung folgen.
1099, also gleichzeitig mit dem Ersten Kreuzzug, verließ eine Gruppe um Stefan Harding das Adelskloster und gründete ein neues Kloster: Cîtaux, nach dem sie sich Zisterzienser nannte. Cluny wurde zur «alten Dame». Bald schloß sich ihnen der Adelige Bernhard mit seiner Familie an, gründete nicht lange danach sein eigenes Kloster in Clairvaux. Er wurde zum aggressiven Kritiker der Pelzmäntel und des Luxuslebens von Cluny. Durch Askese und eigene Arbeit sollten sich die Mönche unabhängig von Laien machen, also nicht wie Cluny auf den Reichtum der Könige angewiesen sein. Die beiden Äbte der konkurrierenden Klosterinstitutionen, Bernhard in Clairvaux und Petrus Venerabilis in Cluny, führten die Auseinandersetzung nicht zuletzt durch die Art der Bekämpfung der fremden und verbotenen Religionen und Ketzer.
Petrus Venerabilis
Petrus Venerabilis (um 1094–1156) ist von besonderem Interesse, weil er gegen die Ketzer, die Juden und die Muslime jeweils eine eigene Schrift verfaßt hat. Bei ihm läßt sich das Muster der Ausgrenzung und des Herrschaftsanspruchs untersuchen. Er war Abt des Klosterverbandes von Cluny 1122–1156. Zwar hatte Cluny erstmals in den Zisterziensern einen starken Konkurrenten, war aber keineswegs im Untergehen begriffen, sondern auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Petrus von Bruis steht für eine Bewegung in Frankreich, die gegen die Kirche kämpfte, von der Ablehnung der Heilsnotwendigkeit der Sakramente über das Mönchtum bis zum Bildersturm. Er starb etwa 1132/33 in einem Feuer von Kirchenbildern, in das die wütenden Stifter und Verehrer dieser Bilder ihn hineinstießen. Er war der Typus des Wanderpredigers der Zeit nach der Gregorianischen Reform, der die theoretischen Reformansätze der Kirche radikal in die Praxis umsetzte. Nur die Evangelien galten für ihn als kanonische Autorität, nicht das Alte Testament, die Apostelbriefe, die Kirchenväter.
Erst nach dessen Tod schrieb Petrus Venerabilis ein Brieftraktat «Gegen die Leute des Petrus von Bruis» (Contra Petrobrusianos), weil die Bewegung nicht mit dem Tod des Wortführers erlosch. Petrus bekämpfte den radikalen Reformer und Wanderasketen, der sich auf das Vorbild Jesu und seiner Jünger berief, mit dem ganzen Arsenal der Polemik gegen Häretiker, aber lehnte – im Unterschied zu Bernhard – jede Gewaltanwendung ab. Den Laienprediger habe der Tod zu Recht getroffen. Aber der Abt von Cluny rief keineswegs dazu auf, Leute wie diesen zu verfolgen und mit dem Tode zu bestrafen.
Gegen Bernhard nahm Petrus auch den anmaßenden Intellektuellen, den Theologen Peter Abaelard (1079–1142) in Schutz, dessen Verfolgung im Kapitel 4 darzustellen sein wird. Petrus dagegen bot ihm Unterschlupf und gewährte Abaelard in Cluny einen sicheren Platz. Um so mehr muß man fragen, warum Petrus Venerabilis die Anhänger des Petrus von Bruis nicht gewähren lassen wollte. War denn das Ideal der Urkirche nicht das Kriterium für die Reform der Kirche? Aber Abaelard war ein einzelner Intellektueller, zum Mönchtum konvertiert; seine Klostergründungen zerfielen schnell wieder. Apostoliker wie Petrus von Bruis dagegen bedrohten die Grundlagen des religiösen Lebens der Zeit, weil sie nach der Legitimation fragten, eine Alternative für Laien boten – und damit weithin Anhänger fanden.
Auch gegen die Juden, die (wie in Orléans gesehen) im 11. und 12. Jahrhundert als Gruppe mit einer nicht-christlichen Religion sichtbar werden, fühlte sich Petrus herausgefordert, einen Traktat zu schreiben, «Gegen die eingefleischte Halsstarrigkeit der Juden» (Contra inveteratam durietiem Iudaeorum). Wohl gleichzeitig, aber für Cluny mit weit bedeutenderen Folgen wegen des Engagements in Spanien, verfaßte Petrus schließlich seine Schriften über und gegen den Islam, nämlich v.a. die «Zusammenfassung der ganzen Ketzerei» (Summa totius heresis) und den «Traktat gegen die Sekte der Sarazenen» (Contra sectam Saracenorum, im folgenden CS). Schon am Titel sieht man, daß die anderen Religionen des Mittelalters oft unter der gleichen Perspektive gesehen wurden wie die Gegner innerhalb des Christentums: als Ketzer.
Eine Religion oder eine Häresie? Christliche Bilder vom Islam
Petrus reihte sich nicht ein in die Kreuzzugsbegeisterung der Falken von Rom, zumal der jetzt regierende Papst Eugen III. ein Schüler von Bernhard von Clairvaux war. Er verfolgte auch nicht die Linie der früheren Äbte von Cluny, die die Ritter aus Frankreich gern weit weg auf ein fremdes Ziel leiten wollten.
Stattdessen sah er es als seine vordringliche Aufgabe an, sich mit den Muslimen auseinanderzusetzen, die mit den Christen zusammenlebten. Doch sollte das nicht mit militärischer Gewalt durchgeführt werden, sondern mit dem «Schwert des Glaubens und dem Schild des Heils» (CS prol. 10 u. ö.). Dazu machte er sich als 50jähriger auf die Reise in die spanischen Filialen des cluniacensischen Klosterverbandes. Offenbar hatte er dort von den vielen Versuchen der christlichen Mönche gehört, die Muslime von der höheren Wahrheit der christlichen Religion zu überzeugen. Sein Grundsatz «nicht mit Gewalt, sondern mit Verstand» (non vi, sed ratione) schien ernsthaft in Gefahr. Die spanischen Könige,...