Hoffnung für eine unfertige Welt
Jürgen Moltmann
im Gespräch mit Eckart Löhr
Warum soll ich leben?
Eckart Löhr: Sie schreiben in Ihrer 2006 erschienenen Biographie Weiter Raum vom Tod Ihres Freundes, der 1943 bei einem Bombenangriff ums Leben kam – Sie selbst wurden ebenfalls verletzt –: »In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Gott geschrien und mein Leben in Gottes Hände gelegt. Ich war wie tot und empfing danach das Leben jeden Tag als ein neues Geschenk.« Nicht wenige hätten auf diese Tragödie anders reagiert und Gott verflucht. Sie nicht. Warum?
Jürgen Moltmann: Ich bin in einem säkularen Elternhaus großgeworden, mein Großvater war Großmeister einer Hamburger Freimaurerloge und mein Vater hatte im Ersten Weltkrieg eine große Ehrfurcht vor dem verborgenen Gott über uns und vor dem moralischen Gesetz in uns bekommen, aber ich kannte Gott nicht als Autorität oder als Allmächtigen.
Als ich nach Gott gerufen habe, habe ich um Hilfe gerufen. Wer in einer solchen Todessituation ist, fragt nicht, warum er darin ist und verflucht den, der ihn da hineingebracht hat, sondern ruft nach Befreiung, nach Heilung und nach Hilfe, wie er da wieder herauskommt. Die Theodizeefrage – wenn Gott gerecht ist, warum das Übel in der Welt? – ist eine Zuschauerfrage. Diese Frage stellt man sich erst hinterher. Warum bei der Zerstörung von Hamburg, vorwiegend in Hammerbrook und an der Ostseite, 30.000 oder 40.000 Menschen im Feuersturm verbrannt sind. Aber wenn man selbst in dieser Situation ist, fragt man nicht nach dem Warum, sondern nach der Möglichkeit, wie man herauskommt.
Trotzdem scheint mir das bemerkenswert zu sein, denn viele hätten wohl das Gegenteil getan und Gott verflucht.
Ich kannte Gott nicht und habe nur um Hilfe gerufen.
Sie sagen, dass Sie Gott nicht kannten. Es war ja auch nicht vorgezeichnet, dass Sie Theologe werden.
Nein, ich bin das erste schwarze Schaf meiner aufgeklärten Familie. Ich wollte Mathematik und Physik studieren, um meinem Vater, der Lehrer für Geschichte, Deutsch und Latein war, etwas entgegenzusetzen. Darum interessierte ich mich für Naturwissenschaften, von denen er nichts verstand.
Meine zweite Frage war übrigens: Warum bin ich nicht tot wie die anderen? Warum soll ich leben? Und darauf versuche ich bis ins Alter, eine Antwort zu finden.
Sie haben sie noch nicht gefunden?
Doch! 1947, vier Jahre nach den Bombenangriffen auf Hamburg, wurde ich mit anderen Kriegsgefangenen zur ersten SCM International Conference eingeladen, die in Swanwick in Derbyshire, Mittelengland, stattfand. Und da habe ich eine Antwort auf diese Frage gefunden und beschlossen, mein Leben der versöhnenden Kraft des christlichen Glaubens zu widmen, Theologie zu studieren und Pfarrer zu werden.
Im Gegensatz zu einigen anderen Theologen, zum Beispiel Eugen Drewermann oder Fridolin Stier, um nur die prominenteren zu nennen, scheinen Sie nie mit Gott zu hadern. Gab es solche Zeiten, in denen Sie mit Gott gehadert haben?
Ja. Ich hatte eine Brieffreundschaft mit Kelly Gissendaner, einer zum Tode verurteilten Frau, die in Georgia in der Todeszelle auf ihre Hinrichtung wartete. Sie hatte offenbar ihren Freund dazu angestiftet, ihren Mann umzubringen. Ihr Freund, der die Tat begangen hat, wurde zu 25 Jahren Gefängnis und sie wegen Anstiftung zum Tode verurteilt. Sie hatte im Gefängnis an theologischen Kursen teilgenommen, biblische Geschichte und Seelsorge, die von der Fakultät in Atlanta angeboten wurden. Sie war begeistert davon und hungerte nach Theologie. Ich habe sie 2011 kennengelernt, als ich im Arrendale State Prison eine Rede über Kirche im Gefängnis und nicht zuletzt über meine eigenen Erfahrungen gehalten habe.
Sie hat ein Zertifikat bekommen, dass Sie an diesen theologischen Kursen teilgenommen hatte, und sich in diesem Gefängnis sehr um die anderen Gefangenen bemüht. Sie hat sie vom Selbstmord abgebracht, von der Verzweiflung und der Depression befreit, die jeden Gefangenen überfällt, und sie hat sich als gläubige Frau und Seelsorgerin im Gefängnis bewährt. Und im Dezember 2014 schrieb sie mir, dass die Hinrichtung am 25. Februar 2015 um sieben Uhr abends stattfinden sollte. Da habe ich ihr ein Taschentuch von mir geschickt und dazugeschrieben: »When the tears are coming, take my handkerchief«, und das hat sie sehr getröstet. Am 25. Februar habe ich eine Kerze angezündet und für sie gebetet. Doch am nächsten Tag kam die Nachricht, die Hinrichtung sei aufgeschoben worden, weil ein Schneesturm über Georgia wütete und es deshalb nicht möglich war, sie in das Männergefängnis zu überführen, wo die Hinrichtung stattfinden sollte. So wurde das Ganze um eine Woche auf Montag verschoben und ich habe wieder eine Kerze angezündet und wieder gebetet. Am nächsten Morgen kam die Nachricht, es hätte sich eine Trübung in der Giftspritze gebildet und sie trauten sich nicht, sie mit diesem verdorbenen Gift zu töten. Da habe ich gedacht, Gott erhört Gebete und die Vorsehung Gottes kann ziemlich trickreich sein.
Und dann kam im September die Nachricht, dass sie am 30. September hingerichtet würde. Ich dachte, die Commission of Pardons and Parole könnte nun, nachdem sie zweimal eine Hinrichtung erlebt und jeweils vier Stunden auf ihren Tod gewartet hatte, das Todesurteil in Lebenslänglich umwandeln. Ich hatte darauf gehofft, dass das eintreten würde, aber es ist nicht eingetreten. Meine Tochter, die in New York lebt, hat die Verhandlung im Internet verfolgt und rief mich an: »clemency denied«. Milde verweigert. Dann ist Kelly am 30. September hingerichtet worden und hat dabei Amazing Grace gesungen. Den ersten Vers; beim zweiten wirkte bereits das Gift, so dass sie als eine freie Frau im Glauben gestorben ist. Das hat mich dann wieder ein wenig versöhnt mit dem Gott, mit dem ich gehadert hatte. Das war so ein Punkt, aber sonst habe ich keinen Anlass, zu hadern mit diesem Gott.
Gott ist der heftigste Protest gegen das Töten
Eckart Löhr: Es passieren täglich Dinge, derentwegen man mit Gott hadern könnte. Man braucht zurzeit nur nach Syrien zu schauen, wo schätzungsweise bis zu 250.000 Menschen ums Leben gekommen sind.
Jürgen Moltmann: Ja, aber nicht Gott hat sie zerstört. Das haben Menschen gemacht. Man könnte eher an Naturkatastrophen denken, Tsunamis und Erdbeben. Das sind Mächte der Natur, die außer Kontrolle geraten sind. Ich würde das nicht Gott anlasten.
Da ist man natürlich sofort bei einer ganz zentralen Frage, bei der Theodizee. Für Sie ist Gott leidensfähig, liebend und lebendig. Wie bekommen Sie das persönlich zusammen – auf der einen Seite dieser Gott und auf der anderen das Leiden der Welt? Oder stellt sich für Sie diese Frage gar nicht?
Wenn Gott in Jesus Christus das Leid der Welt trägt, kann ich ihn nicht anklagen. Er könnte das Leid, das Menschen Menschen antun, nur beenden, indem er das Menschengeschlecht beendet. Und dagegen hat er sich schon in der Sintflutgeschichte vor 3000 Jahren entschieden. Es hat die Weisen in Israel immer beschäftigt, warum Gott dieses verdorbene Menschengeschlecht weiter am Leben erhält.
Wenn wir verzweifeln darüber, was Menschen Menschen antun können, kommen wir gelegentlich auch auf den Gedanken, das Menschengeschlecht sei eine Fehlentwicklung der Evolution. Aber wenn man an den Mensch gewordenen Gott glaubt, dann sagt man Ja zum Menschengeschlecht und bekämpft den Mord und die Gewalttat. So würde ich nicht gegen Gott protestieren, sondern Gott als Gehilfen für meinen Protest gegen das Töten in Anspruch nehmen. Gott ist der heftigste Protest gegen das Töten.
Wenn Gebete nicht erhört werden, muss man Geduld mit Gott haben. Hiob hatte Geduld mit seinem Gott und die Geduld Jesu Christi, die im Neuen Testament erwähnt wird, ist wohl auch im Kern Geduld mit seinem Gott. Das Gebet in Gethsemane »lass diesen Kelch an mir vorübergehen« wurde nicht erhört. Dann steht man vor der Alternative: »Sage deinem Gott ab und stirb«, wie Hiobs Frau gesagt hat, oder man richtet seine Hoffnung gegen alle Erwartung auf Gott und hat mit Gott Geduld.
Wer nicht auf Wunder hofft, ist kein Realist
Eckart Löhr: Sie sagen, Gott leidet mit uns, wie er auch mit seinem Sohn am Kreuz gelitten hat?
Jürgen Moltmann: Ja. Alfred North Whitehead, der Prozessdenker, hat in seinem berühmten Buch Prozess und Realität geschrieben: »God is the fellow sufferer who understands«. Das hat er geschrieben, als sein 21-jähriger Sohn bei einem Autounfall ums Leben kam. Er hat damit Gott gemeint, der seinen einzigen Sohn am Kreuz sterben sieht.
Man kann ja auch nur mit Gott hadern, wenn man davon ausgeht, dass Gott überhaupt die Macht hat, einzugreifen. Glauben Sie, dass Gott die Macht hat, in weltliche Vorgänge einzugreifen?
Ja, wir haben Zeichen und Wunder erlebt: zum Beispiel mit der deutschen Wiedervereinigung, die allein rational nicht zu erklären war. Aber 1989 nannten es die Leute nicht »Wunder«, sondern »Wahnsinn!« Das ist das deutsche Wort für Wunder. Aber auch ich persönlich, in meinem Leben, im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft, habe Zeichen und Wunder erlebt. Ich kann nur mit großem Erstaunen zurückblicken. In...