Forschungsansatz
Der Blick ist konzentriert, der Mund leicht geöffnet. Brust und Kopf sind über den Tisch gebeugt, die Finger der rechten Hand nach vorne gestreckt. Das Handgelenk ruht an der Tischkante. Die Fotografie zeigt einen Mann – von schräg unten. Die Fotografin muss, neben dem Mann, auf dem Boden gesessen haben. Das Licht der Tischlampe scheint auf das Gesicht und den Arm – auch von unten, von der unsichtbaren Tischplatte her. Der Handrücken bleibt schwarz, nur die Ränder der Finger geben einige Lichtfetzen ab. Die Glatze verschwindet im dunklen Raum der Nichtreflexion. Auf dem Tisch steht ein bauchiges, sich nach oben hin verjüngendes Gefäß, in dem eine Flüssigkeit das Licht spiegelt. Aus der oben befindlichen Öffnung scheint etwas zu entweichen, ein zarter Lichtschein. Das Gefäß sieht aus wie ein Chemielaborglas – es ist eine caraffe d’eau. Michel Foucault hält seine Vorlesung am Collège de France.
Foucault gilt als einer der größten Theoretiker der Geschichtswissenschaft, und zugleich ist er sicher der größte Theoretiker des Wahnsinns (Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1969; das französische Original aus dem Jahr 1961 heißt: Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique). Wissenschaft und Wahnsinn. Wahnsinn und Theorie. Doch was bedeutet Theorie im Zeitalter des Wahnsinns, also in den vergangenen zwei Jahrhunderten nach Kants Tod, als die Sachen den Wörtern immer weniger zu sagen hatten, die Wörter sich von den Sachen emanzipierten und schließlich nur noch die Wörter selbst blieben? Theorie heißt vor allem: Etiketten beschriften, also etwa Systemtheorie, Kritische Theorie, Konstruktivismus, Kultursoziologie, Gender Theory – und Foucault. Foucault ist als theoretischer Ansatz einer der wenigen, die persönlich, namengebend präsent sind. Warum Foucault? Warum gerade als Ansatz Foucault, der in seiner Archäologie des Wissens das Labyrinth seines Denkens entfaltet, in dem er herumirrt, sich verliert, wieder auftaucht, an anderer Stelle natürlich, in dem er sich selbst aufgibt: »Mehr als einer schreibt wahrscheinlich wie ich und hat schließlich kein Gesicht mehr. Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben« (Archäologie des Wissens, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1981, S. 30). Ausgerechnet Foucault bürgt in der ganzen geschichtsinteressierten Welt für Theorie, der Foucault, der seinen Standpunkt wechselt wie die palinodischen Politiker, die Gesinnungslumpen aus der Suche nach der verlorenen Zeit (und aus unseren Tagen): »die Politiker erinnern sich nicht an den Standpunkt, auf den sie sich in einem bestimmten Moment gestellt haben, und einige ihrer Meinungsänderungen rühren weniger von einem Übermaß an Eifer her, als von einem Mangel an Gedächtnis« (Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Band V [La Prisonnière], Gallimard: Paris 1992, S. 36). Der Foucault, der sich am Schluss der Archäologie des Wissens einer Auto-Inquisition ausliefert: »Und mit ziemlicher Unverfrorenheit haben Sie Ihre Unfähigkeit als Methode verkleidet« (Archäologie, S. 283). Der Foucault, der – ebenfalls am Schluss der Archäologie – freimütig bekundet, gerne zu spielen und »keine besondere Neigung zur Interpretation« (ebd. S. 287) zu haben. Der Foucault, der nach dem Tod Gottes auch noch den Tod des Autors aufschreibt. Der Foucault, bei dem der Mensch sich auslöscht, wie am Strand ein Sandgesicht von den Wellen fortgespült wird.
Theorie in der Forschungspraxis – Foucault würde sich sicher köstlich amüsieren: »nein, nein, ich bin nicht da, wo Ihr mich vermutet, sondern ich stehe hier, von wo aus ich Euch lachend ansehe« (ebd. S. 30). Foucault – ein Ansatz? Ein Forschungsansatz? Ein Umsetzungsprogramm?
Der Ansatz – das, was beginnt. Foucaults Ansatz besteht in dem, was er »vorher«, in der Einleitung zur Archäologie des Wissens »sagt«: »Ich bin weder dies noch das« (ebd. S. 30).
Dieser Ansatz war verantwortlich dafür, dass Foucaults Sätze kaum einmal in der sogenannten Geschichtswissenschaft, geschweige denn in der Rechtsgeschichte angekommen sind. Das heißt natürlich nicht, dass Foucaults Sätze, vor allem seine Begriffsschöpfungen, nicht allerorten zitiert worden wären – Foucault zitiert sich, nebenbei bemerkt, selbst fast nie. Das heißt natürlich auch nicht, dass über »Foucault« nicht nachgedacht, geredet und geschrieben würde. Das Phänomen »Foucault« war und ist in aller Munde, vor allem in Frankreich und noch mehr in Amerika, wo man rasch alle möglichen Ansätze assimiliert. Und auch in Deutschland sammeln die unvermeidlichen Sammelbände Analysen – Diskursanalysen, Machtanalysen, Disziplinanalysen. Alle möglichen Geschichten gingen nun zur Analyse. So wurde Foucault dressiert, auf die eine oder andere Weise.
Foucault hat sich als Historiker gesehen: »Je ne fais que de l’histoire« (Dits et écrits, Band IV [1980–1988], Gallimard: Paris 1994, S. 77). Historiker haben Foucault als Spinner gesehen. Ein Wahnsinniger. Foucault – ein Rattenfänger, einen »kryptonormativistischen Rattenfänger« hat ihn Hans-Ulrich Wehler (Die Herausforderung der Kulturgeschichte, C.H. Beck: München 1998, S. 91) genannt. Foucault: ein politisch bornierter Maoist, Verehrer des Khomeini-Regimes, ein intellektuell Unredlicher, ein von jeder Kenntnis der Hermeneutik Unbeleckter, ein postmoderner Denkverwilderer, ein empirisch absolut unzuverlässiger Scharlatan, ein wissenschaftlicher Nebelwerfer, ein Finsterling, ein Verächter der Aufklärung, ein Handlanger Hitlers und Beleidiger der Menschenrechte (die Entente von »Der Tod des Menschen« und von »Mein Kampf«), ein kranker Geist, ein schwuler Abnormaler. Als Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts das Frankfurter Graduiertenkolleg für Rechtsgeschichte mit einer zaghaften Nennung von »Foucault« konfrontiert wurde, hieß es, so könne man vielleicht in Frankreich denken, aber nicht in Deutschland.
Geh doch nach drüben. Die Archäologie des Wissens erschien 1969. Foucault war engagiert. Politisch, wissenschaftlich, poetisch, künstlerisch. Er war immer drüben. Es kommt auf den Standpunkt an, und der kann wechseln.
Foucault – Foucault ist der Infragesteller des Dokuments, des Archivs, des Menschen, des Diskurses. Diskursive Regelmäßigkeiten. Dies ist kein Entdeckungs- und Anwendungsprogramm, der Positivismus der Regel verdient keine Apotheose. Das Gewimmel sprachlicher Spuren, das Gekritzel, die unendlichen Notizen, Papiere, Bücher bleiben eine rätselhafte Masse. Eine Masse, die der Theorie bedarf. Diese Theorie bietet die Archäologie des Wissens. Was heißt hier Theorie? Anschauung, Betrachtung, Beobachtung, Unterstellung, Vermutung. Theorie bedeutet: Hinschauen. Und Theorie bedeutet nicht: Subsumtion. Die theoretische Anstrengung à la Foucault kann zu dem führen, was in der Archäologie des Wissens annonciert wird: »Daß man gezwungen ist, die Werke aufzulösen, die Einflüsse und Traditionen zu ignorieren, definitiv die Frage nach dem Ursprung aufzugeben, die beherrschende Präsenz der Autoren verschwinden zu lassen, und daß so all das verschwindet, was im Eigentlichen die Geschichte der Ideen bildete. Die Gefahr besteht also insgesamt darin, daß man, anstatt eine Begründung für das bereits Existierende zu liefern, anstatt in vollen Zügen skizzierte Linien noch einmal zu durchlaufen, anstatt durch diese Wiederkehr und diese schließliche Bestätigung sich zu vergewissern, anstatt den glücklichen Kreis zu vollenden, der schließlich nach tausend Listen und soviel Nächten verkündet, daß alles gerettet ist, gezwungen ist, die vertrauten Landschaften zu verlassen und fern von den gewohnten Garantien auf ein neues Gebiet vorzustoßen, das man noch nicht gerastert hat, und hin zu einem Endpunkt zu gelangen, der nicht leicht vorherzusehen ist« (S. 59).
Die Berufskleidung der Historiker ist das Kettenhemd, dessen eiserne Fäden aus einem Gewirr von Qualifikations- und Projektarbeiten gewirkt sind. Die neuen Ufer, die Foucault entdecken wollte, bleiben den Historikern und Rechtshistorikern unbekannt, weil sie auf das Existierende starren. Das Existierende ist ihr Gegenstand, und genau damit haben sie diesen verloren, denn das Existierende existiert nicht, nicht in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit. Foucault hat die historische Wahrheit verabschiedet, um sich den Wahrheitspolitiken, den jeweils unterschiedlich möglichen Knoten im Netz der Diskurse, zu widmen. Historiker können offenbar so nicht denken, weil sie sonst ihre inzwischen zweihundert Jahre andauernden Bemühungen, Wissenschaftler zu werden und Wissenschafter zu sein, aufgeben müssten. Fakultäten, Lehrstühle, Zeitschriften, Institute, Projekte, Drittmittel – die historische Wissenschaft hat sich inzwischen komfortabel eingerichtet, institutionalisiert. Die Jagd nach der historischen Wahrheit und nach der historischen Begründung lässt kaum Transformationen und Transgressionen zu. Kant hatte einst dazu aufgefordert: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« und damit den Wahlspruch der Aufklärung formuliert (Beantwortung der Frage: Was...