Einleitung
Genau genommen ist Personalbeschaffung in Zeiten des Fachkräftemangels wie Vertrieb: Auch Corporate Recruiter müssen immer häufiger ihre Lösung, die vakante Stelle, aktiv an den Kunden beziehungsweise die Fachkraft bringen, um genügend geeignete Bewerber zu generieren. Dazu müssen sie diese Fachleute ähnlich wie Personalberaterund Headhunter (zur Unterscheidung der Begriffe Corporate Recruiter und Recruiter siehe Kapitel A Begriffsbestimmung), zuerst aktiv suchen und finden. Danach müssen sie diese Fachleute, in dieser Phase nennen wir sie noch Kandidaten, individuell ansprechen. Schließlich müssen die angesprochenen Kandidaten von Corporate Recruitern überzeugt werden, sich das Produkt, die Stelle, ernsthaft anzusehen; sie müssen also dazu bewogen werden, sich für die vakante Stelle zu bewerben. Erst ab dieser Phase bezeichnen wir Kandidaten als Bewerber, auch wenn sie sich nie ohne die direkte Ansprache durch den Corporate Recruiter beworben hätten. Diese Aufgaben könnten wie im Vertrieb heißen: Kaltakquise. Im Recruiting nennt man sie „Active Sourcing“. Denn wie im Vertrieb müssen Corporate Recruiter ihren Kandidatenmarkt für die vakante Stelle kennen und segmentieren: Im Hinblick auf die Seniorität gibt es einen Absolventenmarkt, einen Young Professionals Markt (1-2 Jahre Berufserfahrung), sowie einen für Professionals oder Manager. Diese Basismärkte gibt es natürlich auch im Ausland, falls das inländische Potential nicht ausreicht. Eine weitere Dimension dieser Märkte ist die fachliche Qualifikation wie Ingenieurewesen und Betriebswirtschaft mit den jeweiligen Fachbereichen. Je nachdem welchen Markt man für die Besetzung einer vakanten Stelle im Auge hat, muss man die geeigneten Aktive Sourcing Instrumente zum Einsatz bringen. Zum Beispiel die richtigen Kommunikationsplattformen wie Xing, LinkedIn oder Fachforen. Dort muss man die geeigneten Kandidaten identifizieren und man muss sie angemessen ansprechen und für seine Vakanz begeistern – ähnlich wie im Vertrieb.
Allerdings handelt es sich beim Active Sourcing nicht um die einfache Form des Vertriebs wie sie bei Haustürgeschäften oder bei Konsumgütern angewendet wird. Dem Wesen nach ist es Lösungsvertrieb wie er bei Investitionsgütern zum Einsatz kommt. Denn ein Stellenwechsel ist für Fachkräfte nichts anderes als eine Investition in die Zukunft. Recruiter müssen in der Lage sein, ihre Stelle/Lösung beratend zu verkaufen. Das bedeutet, sie müssen durch clevere Fragetechniken von Fachkräften erfahren, welche Aspekte einer Stelle für sie tatsächlich wichtig sind und einen Wechselanreiz darstellen können. Erfahrungsgemäß üben Aufgaben und geforderte Qualifikationen einer Stelle alleine keinen übermäßigen Reiz für Fachkräfte aus. Siesind die Basis, die stimmen muss, aber sie machen nicht den Unterschied, wenn Fachkräfte das Risiko eines Stellenwechsels eingehen sollen. Ausschlaggebend für Fachkräfte sind häufiger die Bedingungen unter denen diese Aufgaben durchgeführt werden. Bestehen Freiräume, um selbstverantwortlich Entscheidungen zu treffen oder werden diese Freiräume durch detaillierte Arbeitsanweisungen stark eingeschränkt? Werden die Aufgaben unter ständiger Beobachtung und Kontrolle durch Vorgesetzten erledigt oder darf/muss man sein Tun selbstständig steuern? Werden die Aufgaben in einem Team erledigt oder ist man in seinem Fachbereich Einzelkämpfer? Jemand, der beispielsweise im Unternehmen A, unter den dort herrschenden Bedingungen besonders erfolgreich als Software Programmierer gearbeitet hat, kann als Software Programmierer im Unternehmen B, in dem andere Bedingungen herrschen, schnell unglücklich werden. Corporate Recruiter müssen schon beim Active Sourcing die Fachkräfte ausfindig machen, die zu den tatsächlichen Bedingungen passen unter denen die Aufgaben der zu besetzenden Stelle erledigt werden sollen.
Recruiting Spezialisten müssen einige Herausforderungen meistern, um diese Aufgabe erfolgreich erfüllen zu können. Sie müssen ihre „Lösung“, die Stelle, besser verstehen als noch in Zeiten vor dem sogenannten „War for Talent“. Zumindest besser als viele mehr oder weniger kryptische Stellenanzeigen nahelegen, die man auch heute noch beim Stöbern in Jobportalen findet. In diesem Zusammenhang müssen sie auch das eigene Unternehmen besser verstehen, um es jenseits austauschbarer Floskeln wie „Marktführer“, „Entwicklungsperspektiven“ und „Work-Life-Balance“ glaubwürdig nach außen zu verkaufen. Sie müssen den Hiring Manager, den Entscheider bei der Bewerberauswahl, besser verstehen lernen. Schließlich trifft dieser als Mensch nicht nur objektive Personalentscheidungen, sondern durchaus auch subjektive. Nicht zuletzt müssen sie ihre Zielgruppe besser kennenlernen, die Fachkräfte. Sie müssen verstehen, wo sie im Web 2.0 zu finden sind und welche Kommunikationsmethoden angebracht sind, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Etwa 75% der Top 1.000 Unternehmen in Deutschland beurteilen ihre „Active Sourcing“ Fähigkeiten in der Personalbeschaffung als unzureichend. Dies hat die empirische Untersuchung der Universitäten Bamberg und Frankfurt am Main herausgefunden (Quelle: Prof. Dr. Tim Weitzel und andere, „Recruiting Trends 2014“, S.61). Die Gründe für die Unzufriedenheit sind vielschichtig. HR Generalisten, die auch Active Sourcing Aufgaben wahrnehmen sollen, sind dafür oft nicht ausreichend qualifiziert und innerbetriebliche Qualifizierungsmaßnahmen finden in diesem Bereich zu selten statt. Andererseits leisten sich nur wenige große Unternehmen spezialisierte Recruiting Abteilungen, deren Spezialisten über die nötige Expertise verfügen. Die Fähigkeiten im Active Sourcing werden in hohem Maße durch Kenntnis moderner technischer Plattformen wie Xing, LinkedIn, Facebook und Co bestimmt. Dazu kommen eine täglich steigende Anzahl von Jobportalen, Fachkräfteforen und Big Data Analysedienstleister, die es Generalisten erschweren, den technischen Überblick zu behalten. Aber dieser ist nötig, um die jeweils besten Instrumente für die Besetzung einer vakanten Stelle auszuwählen und wirksam einzusetzen.
Corporate Recruiter und HR Generalisten werden im Folgenden praxisbewährte Methoden und Techniken kennenlernen, um die Herausforderung „Active Sourcing“ mit weniger Stress, aber noch mehr Erfolg zu meistern. Denn alle wissen, dass die älteste Methode im Recruiting, das sogenannte „Post and Pray“, nicht mehr genügt. Es reicht leider nicht aus, eine Stellenanzeige zu veröffentlichen und dann zu beten, dass sich geeignete Fachleute bewerben.
Das Active Sourcing ist jedoch nur ein Faktor, mit dem die Leistungsfähigkeit der Unternehmensfunktion Personalbeschaffung erhöht werden kann. Deshalb geht dieser Praxisleitfaden weit darüber hinaus. Im Folgenden wird die Unternehmensfunktion Recruiting in ihre acht wichtigsten Komponenten zerlegt (siehe Grafik). Die Leistungsreserven aller acht Elemente werden beschrieben und anhand praxisbewährter Best Practice konkretisiert. Sie werden praxistaugliche Anregungen finden, um die Recruiting Prozesse und Kernaufgaben bei sich selbst systematisch zu analysieren und zu optimieren. Dazu zählen erhebliche Leistungsreserven im bewährten 5-Step Recruiting Prozess mit den Komponenten Personalbedarfsplanung, Suchauftrag/Requisition, Personalsuche, Bewerberauswahl und Abschluss mit den Wunschbewerbern. Sie werden darüber hinaus konkrete Anregungen finden, wie Sie die Arbeitsbedingungen optimieren können, die großen Einfluss auf den Erfolg des Corporate Recruitment haben. Dazu zählen die Elemente IT Systeme, Organisationsstruktur/Rollen/Kernkompetenzen und Kennzahlen/Key Performance Indicator als Steuerungsinstrumente. Der vorliegende Praxisleitfaden Corporate Recruiting ist somit die erste ganzheitliche Darstellung von praxisbewährten Best Practices für die Unternehmensfunktion Personalbeschaffung.
Am Ende des Tages wird die Personalbeschaffung ganz klar an ihrer Effektivität und Effizienz gemessen. Bei der Besetzung vakanter Stellen wird sie also daran gemessen, ob sie das Richtige tut (effektiv – versus Zeit mit nicht zielführenden Aufgaben verschwenden), und ob sie das Richtige auch richtig macht (effizient – versus das Ziel umständlich über Umwege erreichen). In diesem Praxisleitfaden wird die Effektivität und Effizienz aller acht Komponenten der Personalbeschaffung veranschaulicht, indem ihr Einfluss auf die drei wesentlichen Zielen des Corporate Recruiting dargestellt wird. Die wesentlichen Ziele sind:
- Eine möglichst große Kandidaten Pipeline zu generieren, um auch proaktiv tätig werden zu können.
- Das Closing; die Abschlusssicherheit erhöhen. Wunschbewerber sollen den Arbeitsvertrag am Ende langer und kostspieliger Auswahlverfahren auch wirklich unterschreiben.
- Retention. Die Mitarbeiterbindung eingestellter Bewerber stärken heißt, die passenden Bewerber auszuwählen. Leider gilt noch oft das Sprichwort: „Candidates join a company and quit a manager“. Dieses Risiko kann aber minimiert werden. Retention kann deshalb auch als Synonym für Bewerberqualität betrachtet werden.
Sie werden systematisch und strukturiert erfahren, welchen Einfluss alle hier beschriebenen Recruiting Elemente auf die Erreichung dieser drei Kernziele haben und damit auf die Leistungsfähigkeit Ihrer Personalbeschaffung als Unternehmensfunktion....