I
Mein Vater war Professor der Mathematik an der Universität in München, und meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Ich bin eigentlich ein ganz unerwartetes Anhängsel gewesen. Meine Eltern waren mit meinen drei älteren Brüdern zur Sommerfrische am Starnberger See. Da hatten sie ein kleines Haus gemietet in Feldafing. Mein Vater fuhr zwei-, dreimal die Woche nach München in sein Kolleg, er war Privatdozent, und dann kam er zurück.
Meine Mutter erwartete das vierte Kind, und als es dann kam, auch noch zu früh, waren es zwei, mein Zwillingsbruder und, ganz unerwartet, ich. Niemand war da außer der Bauersfrau, und es gab ja kein Telefon. Da sagte sie: Jessas! Es kommt noch eins! Das war dann ich.
Als mein Vater an dem Tag nach Hause kam, wurde er von der Bauersfrau aufgeregt empfangen: Herr Doktor! Herr Doktor! Zwillinge san ankommen! Ihn rührte fast der Schlag.
Das war der Anfang, und dann wuchs ich auf. Zunächst stand mir natürlich mein Zwillingsbruder Klaus sehr nah, weil wir alles immer gemeinsam machten. Den Privatunterricht, die ersten drei Jahre, hatten wir zu Hause. Ich weiß nicht, warum. Ich war vielleicht ein bissel zart, und wir sollten nicht in die Schule gehen. Sonst ging man ja in die Volksschule. Da kam jeden Tag für eine Stunde ein Lehrer, ein Herr Schülein. Bei ihm lernten mein Zwillingsbruder und ich den ganzen Primarunterricht bis zum neunten Jahr. Dann machte Klaus die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium, und ich war allein. Es war eine Idee meiner Mutter oder auch meiner Großmutter, der Mutter meiner Mutter, Hedwig Dohm, die ja bekanntlich Frauenrechtlerin war, daß ich das Gymnasium machen sollte. Es gab damals kein Mädchengymnasium in München und natürlich keine gemischten Schulen wie heute; infolgedessen hatte ich Privatunterricht bei verschiedenen Gymnasialprofessoren, die sich ablösten. Die ersten Jahre bis zur Tertia hat mich noch ein Student, der ins Haus kam, um meine vier Brüder bei ihren Aufgaben zu beaufsichtigen, in den Fächern, die man bis zur Unter- oder Obertertia nimmt, unterrichtet; und das war eine Kleinigkeit. Von da ab hatte ich dann Gymnasiallehrer. Jeder kam die Woche vielleicht zwei Stunden; einer für die alten Sprachen, einer für Mathematik und einer für Deutsch und Geschichte. Das Ganze war ja furchtbar leicht, und ich lernte nicht schwer. Es ging sehr schnell. Wenn man allein ist, lernt man viel schneller. In der Schule muß man sich immer nach dem Durchschnitt oder dem Unterdurchschnitt richten, und ich gehörte zum oberen Durchschnitt. Im letzten Jahre hatte ich dann noch Unterricht bei einem Religionsprofessor des Gymnasiums, einem Dr. Engelhardt. Mit dem las ich das Neue Testament auf Griechisch. Religion war ja Pflichtfach am Gymnasium.
Ich kann mich erinnern, daß wir einmal zu der Geschichte kamen, wie Jesus die Samariterin trifft und zu ihr sagt: Fünf Männer hast du gehabt, und der, mit dem du jetzt lebst, ist nicht dein Mann. Da wurde der Lehrer etwas verlegen und er kommentierte: Das findet man so in der Vorstadt.
So ging es bis zu meinem siebzehnten Jahr. Dann machte ich gemeinsam mit dem Zwillingsbruder als Externe das Abitur am Wilhelms-Gymnasium. Es verlief glänzend. Nun sollte ich auch etwas studieren. Ich ging auf die Universität und hörte vor allem Naturwissenschaften. Bei Röntgen Experimentalphysik und bei meinem Vater Mathematik: Infinitesimal-, Integral- und Differentialrechnung und Funktionstheorie. Aber ich bin noch immer der Meinung, daß ich für diese Fächer keine besondere Veranlagung hatte.
Einer meiner Brüder, Peter, der zweitälteste, studierte auch Physik. Er ist ein sehr guter Physiker geworden. Ich war gar nicht dafür prädestiniert, und Röntgen hielt auch gar nichts von mir. Beim Experimentieren passierte mir einmal etwas sehr Mißliches. Ich warf einen Apparat hin. Das hat Röntgen mir sehr übelgenommen. Ich hätte es wahrscheinlich in diesem Fach nie zu etwas gebracht, und auch für Mathematik fand ich mich gar nicht sehr begabt. Ich hätte es auch da nicht sehr weit gebracht. Es war eigentlich mehr so töchterliche Anhänglichkeit. Ich hab’s auch alles vergessen.
Vielleicht hätte ich zu Ende studiert und auch Examina gemacht. Ich hatte ja erst vier oder sechs Semester studiert, als ich heiratete, und wie ich dann verheiratet war, kam bald das erste Baby, und dann sofort das zweite Baby, und sehr bald kam dann das dritte und vierte. Da war’s aus mit dem Studium.
Meine Eltern machten, wie man sagt, ein ziemliches Haus. Sie hatten ein ganz angesehenes und vielfältig besuchtes Haus und gaben große Gesellschaften. Durch den Beruf meines Vaters und seine persönlichen Neigungen war es ein wissenschaftliches Haus mit musikalischen Interessen. Zur Literatur hatte er kein sehr lebhaftes Verhältnis, im Gegensatz zu meiner Mutter. Es kamen sehr viele Leute in die Arcisstraße, auch Literaten, besonders aber Musiker und Maler. Richard Strauss kam zu uns und Schillings, es kamen Fritz August Kaulbach, Lenbach, Stuck und viele andere aus Münchens gesellschaftlich-künstlerischen Kreisen.
Mein Vater war ein begeisterter Früh-Wagnerianer und hatte auch seine Eltern veranlaßt, Anteilscheine, Patronatsscheine nannte man sie, für den Bau des Theaters in Bayreuth zu nehmen. Er kannte Wagner persönlich und besaß einen oder zwei Briefe von ihm, die seine Heiligtümer waren. 1876 bei den Proben für den ›Ring‹ war er in Bayreuth, aber er hat nie intim in Wahnfried verkehrt. Weil er sich einmal Wagners wegen in Bayreuth duellierte, hatte er sich seine persönliche Beziehung zu Wahnfried verscherzt. Es hatte sich in einem Restaurant irgend jemand in seiner Nähe abschätzig über Wagner geäußert, und da mein Vater sehr jähzornig war, schlug er diesem Mann mit seinem Bierglas auf den Kopf und wurde darauf der »Schoppenhauer« genannt. Der andere forderte ihn, es kam zu einem Pistolenduell, welches aber unblutig verlief. Nun, in Wahnfried haben sie sich darüber furchtbar geärgert. Das wollten sie nicht; sie wollten keinen Skandal. Aber mein Vater blieb zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Wagnerianer und hat eine Menge Sachen für Klavier, auch zu vier Händen, gesetzt. Diese Arrangements wurden dann bei uns zu Hause gespielt. Bei uns wurde sehr viel und sehr oft Hausmusik gemacht. Wir hatten einen sehr hübschen Musiksaal. Es kamen oft erste Sänger von der Oper. Da gab es eine hervorragende Wagnersängerin, die Primadonna, sie nannte sich Ternina, und mein Vater verehrte sie über alle Maßen. Die sang an den musikalischen Abenden.
Mit elf Jahren war ich zum erstenmal in den ›Meistersingern‹, und alle dachten: Ach, da wird das Kind ja einschlafen. Dabei war ich betrübt, als es aus war. Ich bin eigentlich ganz mit der Wagnerischen Musik aufgewachsen, mit der Idee, daß sie das Herrlichste sei.
München war damals eine Kunststadt; weniger eine literarische Stadt, die Schriftsteller zählten nicht so viel. So wurde mein Mann, wenn er in ein Geschäft ging, immer »Herr Kunstmaler« genannt. Daß ich ein frühes Training im Umgang mit Schriftstellern hatte, kann ich eigentlich nicht sagen. Ich kannte natürlich diverse Schriftsteller schon als Kind. Es hat mir aber keinen großen Eindruck gemacht.
Der erste Schriftsteller, den ich gekannt habe, war meine Großmutter Hedwig Dohm, die Frau von Ernst Dohm, der den ›Kladderadatsch‹ gegründet hat. Sie schrieb Romane, die heute wahrscheinlich nicht sehr aktuell wären. Wie früh ich etwas von ihr las, könnte ich überhaupt nicht sagen. Ein Buch von ihr hieß ›Der Frauen Natur und Recht‹. Sie war eine leidenschaftliche Vorkämpferin für Frauen, die damals wirklich noch gar nicht sehr viele Rechte hatten. (Wie gesagt, es gab nicht einmal Gymnasien für Mädchen.) Unter ihren vielen Romanen hatte sie ein Buch geschrieben, das einen großen Skandal in München erregte. Es hieß ›Sibilla Dalmar‹. Meine Großmutter liebte ihre älteste und begabteste und schönste Tochter, meine Mutter, heiß, und sie korrespondierten miteinander, ich glaube, mindestens zwei- bis dreimal die Woche. Meine Mutter schrieb ihr lange Berichte aus München nach Berlin, und meine Großmutter bewahrte sie alle auf. In den Roman ›Sibilla Dalmar‹ hat sie dann alles, was in den Briefen über die Münchner Gesellschaft stand, übernommen, und das hat in dieser Gesellschaft ein furchtbares Ärgernis gegeben, wirklich einen richtigen Skandal. Um so mehr, als die Figur, die meiner Mutter entsprach, ein Verhältnis mit einem baltischen Adligen hatte, das es in Wirklichkeit nicht gegeben hatte. Das war für meinen Vater besonders ärgerlich. Meine Großmutter war eine sehr naive, dabei begabte Frau. Sie hatte sich gar nichts dabei gedacht.
Sie war später eigentlich eine richtige Märchenfigur. Sie war sehr klein und wurde immer kleiner. Lenbach hat ein sehr schönes Porträt von ihr gemacht, das wir besitzen. Sie hatte einen guten Kopf, und alle Enkel hingen sehr an ihr. Wir fuhren zusammen nach Meran, mein Mann und ich und Urmiemchen. So nannten wir sie, weil meine Kinder sie Urmiemchen nannten. Urmiemchen fuhr mit, und da sagte sie: Ach, Tommy! Tommy! Komm doch bitte mal schnell in mein Coupé, denn weißt du, hier im Schlafwagen ist ja alles für Riesen eingerichtet.
Sie war eine sehr kleine, sehr putzige und in ihrer Art reizvolle, alte Dame.
Annette Kolb kannte ich lange, ehe ich Thomas Mann kannte. Ich kannte sie seit meinem zwölften Jahr. Sie verkehrte in meinem Elternhaus und schrieb damals schon. Wir standen uns immer sehr herzlich. Ich duzte mich auch mit ihr von Kindheit an. Dann verkehrte Paul Heyse bei uns, und er wollte es gar nicht glauben, daß ich noch nie etwas von ihm gelesen hatte; er war sehr...