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E-Book

Der alte Patagonien-Express

AutorPaul Theroux
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl528 Seiten
ISBN9783455851601
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Von Boston bis nach Esquel im mythenumwobenen Patagonien - an einem eiskalten Wintermorgen begibt sich Paul Theroux auf eine ganz besondere Zugreise: Mit Bummelbahnen und Luxuszügen fährt er monatelang quer durch die USA und Mexiko gen Süden. Unterwegs besucht er pittoreske mittelamerikanische Orte, trifft auf Fußballrowdys in El Salvador und Aussteiger in Costa Rica. Er setzt über den Panamakanal, begegnet Straßenkindern in Kolumbien, teilt sich ein Hotelzimmer mit Ratten in Ecuador und wird höhenkrank auf dem Weg zur Inka-Stadt Machu Picchu. Schließlich erreicht er die Endstation Esquel im Hochland Argentiniens - wo die Welt zu Ende ist, wie ihm scheint. Treffsicher beschreibt Theroux seine Erlebnisse und Begegnungen von unterwegs - humorvoll, scharfzüngig und stilistisch brillant.

Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, ist mit mehr als dreißig veröffentlichten Büchern einer der weltweit populärsten US-Gegenwartsautoren. Als Reiseschriftsteller erlangte er Weltruhm. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii und auf Cape Cod. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt sein Sachbuch Auf dem Schlangenpfad. Als Grenzgänger in Mexiko (2019).

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Leseprobe

1 Der »Lake Shore Limited«


Einer von uns in diesem dahingleitenden U-Bahn-Wagen war bestimmt nicht auf dem Weg zur Arbeit. Das sah man schon an der Größe seiner Reisetasche, und außerdem kann man einen Flüchtling immer an seinem unsteten Ausdruck von Selbstgefälligkeit erkennen: Er scheint ein Geheimnis auf der Zunge zu haben und sieht aus, als würde er gleich damit herausplatzen. Aber warum mich zieren? – Ich war in meinem alten Schlafzimmer aufgewacht, in dem Haus, in dem ich den größten Teil meines Lebens zugebracht hatte. Tiefer Schnee lag ums Haus, zwischen Hintertür und Mülltonne sah man gefrorene Fußstapfen. Ein Blizzard hatte uns gerade heimgesucht, der nächste stand bevor. Ich hatte mich mit mehr Sorgfalt als üblich angezogen, meine Schuhe fester als sonst geschnürt und die Stoppeln auf der Oberlippe für einen künftigen Schnauzbart stehen lassen. Ich klopfte auf meine Taschen, um mich zu vergewissern, dass ich Kugelschreiber und Pass sicher verstaut hatte, ging nach unten, vorbei an der mit Schluckauf behafteten Kuckucksuhr meiner Mutter und weiter zur U-Bahn-Station Wellington Circle. Ein froststarrender Morgen, der ideale Tag, um sich nach Südamerika aufzumachen.

Für manche war dies die Bahn zum Sullivan Square, zur Milk Street, allenfalls nach Orient Heights – für mich war es der Zug nach Patagonien. Zwei Männer unterhielten sich leise in einer fremden Sprache. Da waren Männer mit Lunchpaketen, Diplomatenkoffern und Aktentaschen; und eine Frau, deren zerknitterte Kaufhausplastiktüte darauf schließen ließ, dass sie einen unerwünschten Artikel zurückbringen oder umtauschen wollte (die Originalverpackung verhalf der unangenehmen Transaktion zur nötigen Glaubwürdigkeit). Das Frostwetter hatte die Gesichter der bunt gemischten Fahrgäste in dem Waggon verändert: Die Wangen der Weißen sahen aus wie mit rosa Kreide eingerieben, die Chinesen wirkten blutleer, die Schwarzen aschfahl oder gelblichgrau. Bei Sonnenaufgang waren es minus zehn Grad gewesen, am späten Vormittag minus zwölf, und die Temperatur sank weiter. Als sich am Haymarket die Türen öffneten, fuhr der kalte Wind durch den Wagen und ließ die flüsternden Fremden, die mediterran aussahen, verstummen. Sie zuckten in der Zugluft zusammen. Die meisten Leute saßen in sich zusammengekauert da und hielten sich warm, indem sie die Ellbogen in die Seiten drückten, die Hände in den Schoß legten und die Augen zusammenkniffen.

Sie hatten in der Stadt Dinge zu erledigen: Arbeit, Einkäufe, Bankgeschäfte, den peinlichen Augenblick an der Umtauschkasse. Zwei hatten gewichtige Lehrbücher auf dem Schoß, einen Buchrücken konnte ich entziffern: Allgemeine Einführung in die Soziologie. Ein Mann überflog mit feierlicher Miene die Schlagzeilen im Boston Globe, ein anderer durchforstete mit dem Daumen die Papiere in seiner Aktentasche. Eine Frau sagte zu ihrer Tochter, sie solle mit dem Zappeln aufhören und sich anständig hinsetzen. Jetzt stiegen sie aus, gingen auf die windigen Bahnsteige – nach vier Stationen war der Zug halb leer. Heute Abend würden sie zurückfahren, nach einem Tag voller Gespräche über das Wetter, für das sie sich gut gerüstet hatten: Bürokleidung unter Eskimomänteln, Handschuhe, Fäustlinge, Wollmützen. In ihren Gesichtern zeigten sich Resignation und, schon jetzt, Anzeichen von Erschöpfung. Keine Spur von Aufregung – dies alles war üblich und normal, der Zug gehörte zum Tagesablauf.

Niemand schaute aus dem Fenster. Alle hatten den Hafen, Bunker Hill und die Reklametafeln schon gesehen. Einander sahen sie auch nicht an. Ihr Blick endete ein paar Zentimeter vor ihren Augen. Obwohl sie sie nicht beachteten, sprachen die Schilder über ihren Köpfen doch zu den Menschen, denn sie waren Einheimische, sie zählten, die Werbeleute kannten ihre Adressaten. HABEN SIE SCHON IHRE EINKOMMENSSTEUERFORMULARE? Darunter grinste ein junger Mann mit Matrosenjacke in seine Zeitung hinein und schluckte. BARAUSZAHLUNG AUF SCHECKS IN GANZ MASSACHUSETTS. Eine Dame mit dem gelblichgrauen Teint der Hottentotten umklammerte ihre Einkaufstasche. FREIWILLIGE HILFSKRÄFTE – BOSTONS STÄDTISCHE SCHULEN BRAUCHEN SIE. Für den muffigen Aktentaschenforscher mit der Russenmütze wäre das doch sicher was. BAUFINANZIERUNG? FRAGEN SIE UNS. Niemand sah auf. VOM KELLER BIS ZUM DACH – WERDEN SIE KLEMPNER AM ABENDCOLLEGE. Ein Restaurant. Ein Radiosender. Ein Appell, mit dem Rauchen aufzuhören.

Mir hatten die Schilder nichts zu sagen. Hier ging es um lokale Angelegenheiten, aber ich reiste an diesem Morgen ab. Bei einem, der geht, verfangen die Lockungen der Werbung nicht mehr. Geld, Schule, Haus, Radio: Ich ließ das alles zurück, und schon auf der kurzen Strecke zwischen Wellington Circle und State Street verwandelten sich die Slogans in ein flehendes Gebrabbel: Wortfetzen in einer unbekannten Sprache. Ich konnte sie mit einem Achselzucken abtun, ich wurde von zu Hause weggezogen. Kälte und gleißendes Licht auf dem Schnee – an meiner Abreise war nichts Bedeutsames, nichts Bewegendes, höchstens die Tatsache, dass ich bei der Einfahrt in die South Station schon anderthalb Kilometer näher an Patagonien war.

 

Reisen ist ein Prozess des Verschwindens, ein einsamer Weg auf einer dünnen geographischen Linie, die ins Vergessen führt.

What’s become of Waring

since he gave us all the slip?

 

(Was macht denn Mr. Waring

seit er uns allen entwischt ist?)

Ein Reisebuch ist genau das Gegenteil: Der einsame Wolf ist plötzlich überlebensgroß wieder da, um die Geschichte seines Experiments mit dem Raum zu erzählen. Das ist die schlichteste Form der Erzählung, eine Erläuterung, die Aufbruch und Reise in sich selbst rechtfertigt. Fortbewegung, die ihre Ordnung dadurch erhält, dass sie in Worten wiederholt wird. Diese Art des Verschwindens ist elementar, aber die wenigsten kommen zurück und schweigen. Und doch ist es Brauch, die Reisebeschreibung wie in so vielen Romanen teleskopartig zu verkürzen, mittendrin anzufangen und den Leser an einem exotischen Ort landen zu lassen, ohne ihn erst einmal dorthin zu geleiten. »Die weißen Ameisen hatten sich über meine Hängematte hergemacht« könnte so ein Buch anfangen. Oder: »Dort unten schnitt das patagonische Tal tief ein in den grauen Fels, von äonenalten Streifen gezeichnet und von Fluten zerklüftet.« Oder, um mit ein paar echten ersten Sätzen aus drei zufällig ausgewählten Büchern zu beginnen:

 

»Es war gegen Mittag des 1. März 1898, als ich zum ersten Male in den engen und recht gefährlichen Hafen von Mombasa an der afrikanischen Ostküste einfuhr.« (Lt. Col. J.H. Patterson, The Man-Eaters of Tsavo)

 

»›Herzlich Willkommen!‹ steht auf dem großen Schild am Straßenrand, als das Auto die Haarnadelkurven hinauf aus der Glut der südindischen Ebene hinter sich und uns in eine fast erschreckende Kühle gebracht hat.« (Mollie Panter-Downes, Ooty Preserved)

 

»Vom Balkon meines Zimmers bot sich mir eine Panoramaaussicht auf Accra, die Hauptstadt von Ghana.« (Alberto Moravia, Die Streifen des Zebras)

 

Meine Frage, auf die ich weder in diesen noch in kaum einem anderen Reisebuch eine Antwort finde, lautet für gewöhnlich: »Wie sind Sie dahin gekommen?« Auch wenn kein Motiv angeführt wird, wäre ein Prolog sehr recht, denn die Reise selbst ist oft ebenso faszinierend wie die Ankunft. Aber weil Neugier aufhält und jeder Aufenthalt als Luxus gilt (wozu eigentlich die Eile?), haben wir uns angewöhnt, das Leben als Serie von Ankünften und Abreisen, von Siegen und Niederlagen anzusehen, zwischen denen nichts Mitteilenswertes liegt. Gipfel sind wichtig, aber was ist mit den unteren Hängen des Parnass? Wir haben das Zutrauen zum Aufbruch von zu Hause nicht verloren, doch die Texte darüber sind rar. Von der Abfahrt wird die panische Sekunde in der Abflughalle, das hastige Fummeln nach den Tickets oder ein ungeschickter Kuss an der Gangway beschrieben, und dann kommt nichts mehr bis zu: »Vom Balkon meines Zimmers bot sich mir eine Panoramaaussicht auf Accra …«

In Wirklichkeit geht Reisen anders vor sich. Vom ersten Moment des Erwachens an wendet man sich dem fremden Ort zu, jeder Schritt (erst an der Kuckucksuhr vorbei, dann die Fulton Street runter zum Fellsway) bringt einen näher ans Ziel. The Man-Eaters of Tsavo spielt um die Jahrhundertwende in Kenia und handelt von Löwen, die indische Eisenbahnarbeiter fressen. Aber ich möchte wetten, dass es ein subtileres und ebenso fesselndes Buch über die Seereise von Southampton nach Mombasa gab, das Colonel Patterson aus nur ihm bekannten Gründen ungeschrieben ließ.

Die Reiseliteratur ist armselig geworden. Zur billigen Standardeinleitung gehört inzwischen, dass jemand sich am Fenster der schräggeneigten Flugzeugkabine die Nase platt drückt. Die Effekthascherei eines solchen Witzblattanfangs ist mittlerweile so bekannt, dass sie sich kaum noch parodieren lässt. Wie geht das noch mal? »Unter uns tropisches Grün, ein überflutetes Tal, ein Flickenteppich aus Feldern, und als wir durch die Wolkendecke tauchten, sah ich Schotterpisten, die ins Hügelland führten, die Autos darauf winzig wie...

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