Wilhelm Wundt
Experimentelle Psychologie und Völkerpsychologie – die Leipziger Schule
Wilhelm Wundt (1832–1920) wird in fast jedem Lehrbuch der Psychologie erwähnt, weil er bereits 1879 das erste Institut für Psychologie gründete, das Vorbild für viele ähnliche Institute in aller Welt wurde. Aber was war sein Interesse? Welche Psychologie wollte er als Philosoph mit medizinischer Ausbildung entwickeln?
Trotz der Bekanntheit Wundts ist seine Psychologie etwas undurchsichtig. Das liegt an seinen theoretischen Schriften, die vom Mainstream seiner Zeit abwichen, es liegt an seinem langen Wirken, in dem er dies und das geändert hat, und es liegt an seiner Streitbarkeit als Person. Es liegt aber auch an seinen Schülern, Biografen und Wissenschaftshistorikern, die seine Anliegen bis in die Gegenwart hinein unterschiedlich interpretiert haben. So gibt es auch heute noch eine lebendige Diskussion seiner Ansätze und seines Werkes.
Wilhelm Maximilian Wundt wurde im August 1832 in Neckarau (heute ein Stadtteil von Mannheim) als Sohn eines evangelischen Theologen geboren. Die Familie zog schon sehr bald nach Leutershausen am Odenwald, da sich im Gebiet der Neckarmündung Malaria ausgebreitet hatte. In Heidelsheim trat der Vater im Sommer 1836 die Pfarrstelle an. Vermutlich war es hier im Pfarrhaus, wo der kleine Wilhelm die Kellertreppe herabgestürzt ist, sein frühestes Kindheitserlebnis. Hochbetagt glaubte er, »noch heute die Stöße zu spüren«, mit denen er mit dem Kopf auf die Stufen schlug (Wundt, 1920, S. 1f.). Ob dieses Erlebnis weitere Folgen hatte, wissen wir nicht.
Wilhelm Wundts Kindheit war wohl durch Einsamkeit und Tagträume geprägt. 1840 erlitt der Vater mit 53 Jahren einen schweren Schlaganfall, der ihn arbeitsunfähig machte. An seiner Stelle trat der Vikar Friedrich Müller als Hilfsgeistlicher in den Dienst der Gemeinde ein. Und Müller wurde nun auch in der Familie Wundt praktisch Wilhelms Erzieher. Durch ihn lernte er Latein, und einiges spricht dafür, dass Wundt eine enge Beziehung zu dem jungen Geistlichen aufbaute. Beim Eintritt in die reguläre Schule erlebte Wundt dann eine heftige Enttäuschung: Er war an den Klassenbetrieb und die strengen Strafen des Lehrers nicht gewöhnt und flüchtete sich in Tagträume. Diese Fantasien begleiteten ihn viele Jahre. Wundt selbst vermutete später, dass hier bereits das Interesse für den Blick auf das eigene Innenleben entstand, das die Grundlage für seine spätere wissenschaftliche Psychologie bereitet habe. Eine einfachere Erklärung wäre die, dass der junge Wundt in dem Dorf einsam und in der Schule unterfordert war. Jedenfalls wechselte Wilhelm zur Schule nach Heidelberg, wo er wieder mit seinem Bruder Ludwig zusammenkam und dann kaum noch schulische Probleme auftraten.
Nach dem Abitur im Herbst 1851 begann Wilhelm Wundt das Medizinstudium in Tübingen, dort lehrte sein Onkel Friedrich Arnold Anatomie. Zwar war Medizin nicht Wundts Wunschfach, allerdings erlebten in dieser Zeit die Naturwissenschaften und besonders die Medizin einen enormen Aufschwung. Wundt hörte auch philosophische Vorlesungen und war beeindruckt von den Demonstrationen in den Chemievorlesungen von Robert Wilhelm Bunsen. Ein Jahr darauf wechselte Wundt nach Heidelberg und erhielt für eine anatomischen Arbeit, die er ohne direkte Betreuung angefertigt und sowohl in deutscher als auch lateinischer Sprache abgeliefert hatte, eine Auszeichnung. Das Staatsexamen legte Wundt dann in Karlsruhe ab. Seine Doktorarbeit wurde in Heidelberg »mit größtem Lob« bewertet, und so war es ihm möglich, sich zu habilitieren. Nach einem Forschungsaufenthalt in Berlin erhielt Wundt 1857 eine Privatdozentur in Heidelberg. Das war noch keine feste Anstellung, denn ein Privatdozent genoss lediglich das Privileg, Vorlesungen halten zu dürfen. Die Aussicht auf Honorare durch Veröffentlichungen war daher sicher auch für Wundt der Grund für erste größere Veröffentlichungen.
Mit der Berufung von Hermann von Helmholtz (1821–1894) 1858 nach Heidelberg wurde Wundt Assistent am neu eingerichteten Institut für Physiologie. Wundt hielt Vorlesungen über neue Themen, so 1862 über »Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus«. Er veröffentlichte im gleichen Jahr seine zweibändigen Vorlesungen über Menschen- und Tierseele. Im Jahr 1864 wurde Wundt zum außerordentlichen Professor für Anthropologie und medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät Heidelberg berufen. In diese Zeit fällt die Veröffentlichung von Wundts mehrbändigem Lehrbuch der Physiologie des Menschen, das dann in weiteren überarbeiteten Auflagen erschien.
Eine »Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus« bedeutete für den jungen Wundt, seelische Vorgänge auf der Grundlage physiologischer Veränderungen erklären zu wollen. Empfindungen stellten für ihn erste psychische Akte dar, die durch Sinnesreize zustande kommen. Diese naturwissenschaftlich-materialistische Position entsprach der Zeit. Zwangsläufig forderte Wundt die experimentelle Methode und die statistische Auswertung für die Physiologie und die Psychologie. Aber Wundts Verständnis für die wissenschaftliche Psychologie reichte über diese Auffassung hinaus. Er verpflichtete sich zwar dem experimentellen Vorgehen, gab aber schon in seinen damaligen Schriften Hinweise darauf, dass er die Psychologie weiter fassen wollte – nämlich bis hin zur Psychologie der Völker und der Kultur.
Wundt in Leipzig
Nach einer kurzen Zeit an der Universität Zürich wurde Wundt 1875 nach Leipzig berufen, wo er bis an sein Lebensende als Philosoph lehrte. Die Hochschulen waren damals Sache der deutschen Staaten. Der Wechsel von Studenten und Dozenten über Ländergrenzen hinweg war möglich, aber die Hochschulen wurden je nach finanzieller und politischer Situation unterschiedlich behandelt (Gundlach, 2004). Auch die Frage, ob Studentinnen zugelassen wurden und promovieren durften, war unterschiedlich geregelt. In der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig herrschte offenbar eine gewisse Toleranz, die unterschiedliche Vorbildung der Professoren spielte dort eine geringere Rolle als anderswo. Der Physiologe Wundt, der auf einem philosophischen Lehrstuhl saß, nutzte dies, um die experimentelle Psychologie zu entwickeln.
Wundt gründete in Leipzig 1879 das experimentalpsychologische Institut. Die ersten Instrumente stammten aus Wundts Privatbesitz. Es gelang Wundt ab 1882, Zuschüsse zum Ankauf von Apparaten zu bekommen. Die Geräte waren zum großen Teil aus der Physiologie entlehnt oder wurden von Wundt und seinen Mitarbeitern entworfen und von dem Mechaniker E. Zimmermann konstruiert. Einzelne Geräte wurden in größerer Ausführung gebaut, um sie im Hörsaal als Demonstrationsgeräte zu nutzen. Als Unternehmen für psychologische Geräte wurde Zimmermann später weltweit führend.
1883 begründete Wundt die Zeitschrift Philosophische Studien, in der seine psychologischen Arbeiten und die seiner Mitarbeiter erschienen. Wundt wollte mit dem Titel der Zeitschrift zeigen, dass »diese neue Psychologie berechtigt war, ein Teilgebiet der Philosophie zu sein« (Wundt, 1920, S. 313). Sein Ziel bestand darin, die Philosophie praktisch zu einer empirischen Wissenschaft zu machen, oder doch wenigstens in Teilen auf eine erfahrungswissenschaftliche Grundlage zu stellen. Keine Frage, dass Wundt sich damit in der Philosophie nicht nur Freunde machte. Insgesamt wurde er aber auch als Philosoph akzeptiert, nicht zuletzt wegen seinen zahlreichen philosophischen Schriften in Buchform.
Experimentelle Befunde, apparative Ausstattung, viele Publikationen und unter anderem auch Wundts Bereitschaft, sich gern, ausführlich und in scharfer Form mit seinen Kritikern auseinanderzusetzen, begründeten den Ruf des Leipziger Instituts als geachtetes Zentrum psychologischer Forschung. Jüngere Wissenschaftler aus den USA, England, Japan und anderen Ländern arbeiteten und promovierten bei Wundt. An vielen Hochschulen entstanden Psychologische Institute nach dem Leipziger Vorbild. Bis 1900 lassen sich 63 solcher Institutsgründungen nachweisen, davon allein 35 in den USA (Sprung & Sprung, 2010, S. 148f.). Wundts Vorlesungen waren gut besucht, was auch an seinen spektakulären Demonstrationen lag. Studenten psychologischer Vorlesungen und Seminare waren in allererster Linie angehende Gymnasiallehrer und in zweiter Linie Juristen und Hörer anderer Richtungen. Erfolgreiche Volksschullehrer konnten das Abitur nachholen und in Leipzig Gymnasiallehrer werden; hiervon machten viele Studenten Gebrauch.
Wundt verstand es, die Möglichkeiten der Hochschule für die experimentelle Psychologie zu nutzen. Er beschäftigte schließlich mehr als ein Dutzend Mitarbeiter, die in Gruppen von drei bis vier Personen an einem Thema arbeiteten. Sie waren meist Mathematiker oder Naturwissenschaftler, die sich philosophische und zugleich forschungspraktische Grundkenntnisse aneignen mussten.
Aufgaben der Psychologie
Wundt vertrat die Auffassung, die Psychologie habe »die Tatsachen des Bewußtseins, ihre Verbindungen und Beziehungen zu untersuchen, um schließlich Gesetze aufzufinden, von denen diese Beziehungen beherrscht werden« (Wundt, 1911, S. 1). Wundts Ziel war es also, das Bewusstsein in nicht weiter aufteilbare Bestandteile zu zerlegen, die er Elemente des Bewusstseins nannte. Wundt: »Die ganze Aufgabe der Psychologie ist so in den zwei Problemen enthalten: Welches sind die Elemente des Bewußtseins? Welche Verbindungen gehen diese Elemente ein, und welche Verbindungsgesetze lassen sich hierbei feststellen?« (1911, S. 28). Diesem Forschungsprogramm...