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Steinreich, vogelfrei

Ein Weg wie kein anderer. Zwei Frauen überqueren die Alpen.

AutorGabriele Reiß
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl456 Seiten
ISBN9783741200120
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Als Gabriele Reiß ihre Wanderfreundin fragt, ob sie mit ihr auf eigene Faust die Alpen überqueren möchte, stößt sie auf Begeisterung. Mit der Gewissheit, dass alles möglich ist, wenn es gelingt, den individuell passenden Weg zu finden, bereitet sie die Wanderung logistisch vor, und dann stürzen sich die beiden Ruhrgebietsfrauen in ihr Alpen-Abenteuer. In 'Steinreich, vogelfrei' beschreibt die Autorin die 700 km-Reise von Starnberg (Starnberger See) nach Bardolino (Gardasee). Sie erzählt von beliebten Urlaubsregionen, die sie mit ihrer Freundin beim Durchwandern ganz neu erlebt, von Begegnungen mit Mensch und Tier, von Bergnatur und Einsamkeit, von Anstrengungen, Angstüberwindung und Frauenfreundschaft.

Gabriele Reiß, geb. 1953, lebt in Nordrhein-Westfalen. Als Dipl.-Sozialarbeiterin arbeitete sie in der Kinder- und Elternarbeit, der Altenhilfe und Erwachsenenbildung. 2005 veröffentlichte die dreifache Mutter und leidenschaftlich gern Schreibende ihre 'Liebeserklärung an Kinder'. Ihre zweite Passion ist das Wandern in den Alpen. Darüber sagt sie: Am lautesten rufen sie mich, wenn ich auf einer Revierhalde stehe. Ich sehne mich nach den Bergen und es kommt mir vor, als warteten sie auf mich - wie eine Liebschaft fühlt sich das an.

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Leseprobe

Der Weg des Eulensteins


Meine Knie haben schon viel mitgemacht. Jahrzehntelang waren sie von kleinen bläulichen Narben bedeckt gewesen, verursacht durch einen fulminanten Sturz in meiner Kindheit. Die Narben sind längst verblasst, als wären sie nie da gewesen, aber die verrückte Geschichte ihrer Entstehung wird wohl auf immer in mir weiterleben. Sie ereignete sich an einem Sommertag des Jahres 1959.

Mein Freund Harald war sieben, ich sechs Jahre alt. Ich weiß noch genau, wie er plötzlich stehen blieb, erst auf seinen, dann auf meinen Tretroller zeigte, und folgendes sagte: „Ich wette, du schaffst es nicht, mit beiden gleichzeitig den Berg runter zu fahren.“

Der ‚Berg‘ war eine stark abschüssige Seitenstraße in Essen-Frillendorf. Wer sie mit nur einem Roller hinabdüste, ging schon ein Wagnis ein.

Harald grinste, während er wartete. Unsere Mütter, die im Spazierschritt folgten, waren in ihre Unterhaltung vertieft und abgelenkt. Ein günstiger Moment!

„Die Roller müssen vollkommen gerade stehen. Wenn‘s abwärts geht, wackelt‘s nicht mehr“, erklärte Harald.

Da ich nicht treten konnte, schob er kräftig an.

Drei Sekunden lang nahm ich Fahrt auf. In der vierten, als die Roller anfingen auseinanderzudriften, wusste ich, dass dieser Spaß böse ausgehen würde. Verzweifelt umklammerte ich die Lenker und hielt mit ganzer Kraft dagegen. In der fünften Sekunde spreizten sich Arme und Beine wie bei dem hölzernen Hampelmann, der daheim in meinem Zimmer an der Wand hing. Wie gern hätte ich zwei Zusatzbeine gehabt und die Roller gestoppt!

„Mein Gott, Kind, was tust du da?“ hörte ich noch meine Mutter schreien, da lag ich bereits blutend am Boden. Entsetzt starrte ich die schwarzen Rollsplittsteinchen an, die in Knien und Händen steckten wie Mandeln in einem Kuchen. Die Haut brannte, als leckten Flammen darüber. Zum Arzt musste ich trotzdem laufen, damals machte man alles zu Fuß. Während er in langer Prozedur mit der Pinzette arbeitete, weinte ich still vor mich hin, doch die Jodbemalung und die tollen Verbände gefielen mir sehr. Nicht nur Harald würde beeindruckt sein. Ich hatte die Wette angenommen und mich in wilder Schussfahrt fünf Sekunden lang auf zwei Rollern gehalten. Aus dieser mutigen Tat zog ich eine Lehre fürs Leben: Mitunter verlangen besondere Vergnügen besondere Einsätze, was mich unweigerlich zu einem verwandten Thema führt.

Ich habe eine Schwäche für aufregende Ferien. Immer suche ich nach dem Gefühl der Freiheit. Warum sollte ich mir das heute verbieten? Weil ich vier entzückende Enkel und elf doofe Zipperlein habe? Ich liebe es ja nachwievor, mein Herz in gesunder Rhythmusstörung rascher schlagen zu lassen. Nein, darauf wollte ich noch nie verzichten. Und da ich immer wieder dazu neigte, mich mit Hingabe in ein Wasser zu stürzen, ohne seine Tiefe zu prüfen, hatten sich auch in meinem Erwachsenenleben Freiheitsgefühle stringent mit Blessuren im weitesten Sinne gepaart.

Als ich zum Beispiel 1973 in Südfrankreich zum ersten Mal Melone aß, war ich von dem aromatischen und sehr süßen Fruchtfleisch so hingerissen, dass ich mir die Freiheit nahm, einen Tag lang nichts anderes zu mir zu nehmen. Eine Nacht lang übergab ich mich, saß bei der Kloschüssel, die mein Leid mit mir teilte und sich mein Jammern und Stöhnen geduldig anhörte. Danach rührte ich meine kulinarische Entdeckung nicht mehr an, doch war ich stets von ihr umgeben. Das Land schwelgte in den Düften von Lavendel, Thymian und Melone, mir war für den Rest der Ferien schlecht. Doch der Tag des ausschweifenden Futterns ist mir unvergessen geblieben.

Im Sauerland fiel ich vom Pferd. Auf Pellworm fiel ich im Jagdgalopp fast vom Pferd. Im Harz ging ein Gaul mit mir durch. In Holland verlor ich mit meinem Kanu die Orientierung und schipperte stundenlang in unbekannten Gewässern herum, bis mich ein Segler in die richtige Richtung schickte.

Und was brachte ich nicht alles von meinen Ferien nach Hause! Die üblichen netten Dinge wie Perlmuttmuscheln, getrocknete Blumen, Dünensand im Tütchen, aber eben auch unschöne Dinge wie Läuse, Allergien, Hämatome - und, wenn ich gewollt hätte, eine tote Viper. Morgens war sie unter meinem Zelt hervorgekrochen und von beherzten Männern ins Jenseits befördert worden, ehe ich die Brille aufgesetzt hatte.

Der Tag kam, als ich zum ersten Mal in den Alpen wanderte und… mein Herz verschenkte. So viel Natur! So viel Freiheit! Je höher ich stieg, umso mehr hatte ich das Gefühl, der erste Mensch auf Erden zu sein.

In der zweiten Tageshälfte bekam ich Kopfweh. Ich war gut gelaufen, hatte aber viel falsch gemacht. Berge sind gnadenlos, geht man nicht richtig mit ihnen um, und man kann sich Ärgeres als Kopfschmerzen einhandeln. Sie forderten meine Hingabe, aber auch meine Vernunft. Dies in Einklang zu bringen hätte ich viel Übung gebraucht, wozu ich selten Gelegenheit hatte, weil zwischen mir und meiner neuen Liebe fünf- bis achthundert Kilometer Luftlinie lagen. Und ich war mit meinen vierzig Jahren schon ziemlich alt. Wie viel Zeit würde mir mein Körper geben?

Keinen Ferientag wollte ich versäumen. Also setzte ich mich zweimal im Jahr in den Zug und fuhr vom Ruhrgebiet in die Alpen, wanderte mit Freunden, Familienmitgliedern, mitunter allein. Es machte Spaß, den Tourenrucksack zu tragen, mich darin zu üben, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, tagelang mit wenigen Dingen auszukommen. Ich lernte, meine Kraft einzuteilen, genug zu trinken, den Kopf zu bedecken, die Karten zu lesen, einen Kompass zu benutzen. Ich stellte mich auf die Berge ein, passte mich an. Zur Belohnung beschenkten sie mich mit ihrer Schönheit und den überbordenden Glücksgefühlen, die mir nach einem Tag der Wanderschaft und der körperlichen Anstrengungen nicht selten die Tränen in die Augen trieben.

Von Sport hatte ich bis zu meiner ersten Bergtour nicht viel gehalten, was natürlich ungünstig war. Dazu kamen meine instabilen Fußgelenke, infektanfälligen Bronchien und eine allgemeine Empfindlichkeit - drei Probleme, die sich bereits in meiner Kindheit bemerkbar gemacht hatten, und die dem Berglaufen entgegenstanden. Ich war aber bereits ein Junkie, auf keinen Fall wollte ich die Füße davon lassen. So sagte ich dem Schweinehund den Kampf an und mit der Zeit ging mein Alltagssport mit dem Laufen in den Bergen eine fruchtbare Allianz ein.

Das Training machte mich stärker, wenn auch nicht in dem Umfang, wie ich es mir gewünscht hätte. Kein Ende des Knöchelverstauchens, aber es passierte seltener. Die Häufigkeit der Bronchidien nahm ab, meine Leistungsfähigkeit im Gebirge nahm zu.

Vierzehn Jahre lang schaffte ich es, die Kurve oben zu halten, dann kippte sie von jetzt auf gleich mit einer akuten Verletzung ab, als der linke Innenmeniskus deutlich spürbar riss. Nach der Athroskopie waren die Schmerzen weg, dafür zeigte sich die Belastungsgrenze des Knies früher. Lange Abstiege waren von nun an gestrichen und es war Schluss mit dem Joggen, das ich schätzen gelernt hatte, das mir nach einem Arbeitstag voller Sozialarbeit den Kopf frei pustete. Mit Walking, Kraft- und Bergauftraining kam ich am besten zurecht und die größtmögliche Konstitution, die ich erreichte, musste genügen.

Ohne Heike hätte es diese Geschichte nicht gegeben.

Es war auf einem Familienfest, als ich mich mit ihr unterhielt. Dass sie sehr nett ist, hatte ich längst bemerkt, doch an diesem Tag liefen, wie es mitunter so ist, Fäden zusammen. Heike erzählte, bis dato noch nie in den Alpen gewandert zu sein, würde es aber gern versuchen.

Endlich war da jemand, der von meinen Bergschwärmereien nicht genug hören konnte! Der, wie ich, ein Faible für Abenteuer und Unvorhergesehenes hatte. Schon bald brachen wir zu einer gemeinsamen Tour ins Unterengadin auf.

Heike - die Schwägerin meiner Schwägerin - entpuppte sich als verlässliche Gefährtin mit positiver Grundeinstellung. So gern sie lachte, so ruhig und konzentriert blieb sie in schwierigen Situationen, und für ihre Grenzen trat sie selbstsicher ein. Dass sie neun Jahre jünger als ich war, schneller gehen konnte und von Kniebeschwerden noch nichts gehört hatte, schien kein Problem zu sein.

Acht Touren später wusste jede von uns, wie die Andere tickt - eine gute Basis für das, was folgen sollte: die Verwirklichung eines Traums.

Man sagt ja, dass Menschen, die tagträumen oder sich in Hirngespinsten verfangen, am Ende enttäuscht sind. Andererseits können Tagträume die Türen zu außerordentlichen Erlebnissen öffnen, die auf dem Boden der Realität fest verschlossen blieben. Mir ist schon klar, dass den meisten Träumen der Weg ins reale Leben versperrt ist. Nie werde ich einen Himalaya-Berg besteigen, nicht mit zehn Sauerstoffflaschen, und den Mt. Blanc-Gipfel werde ich auch nicht betreten. Schlimm finde ich das nicht.

Aber da gab es noch einen Traum, den ich - gottlob - hatte überleben lassen: eine Alpenüberquerung. So abgehoben die Idee zu sein schien, so plötzlich stand sie mir real vor Augen. Ein Traum, der Wirklichkeit werden wollte - ja! und noch mal ja! Es wäre schlimm gewesen, hätte ich das ignoriert. Worauf hätte ich auch warten sollen? Bis aus der...

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