DIE DREI BISHERIGEN WEGE: SELBSTABHÄNGIGKEIT, LIEBE UND TRAUER
Die Kunst zu sterben und die Kunst zu leben sind eins.
Epikur
Im Buddhismus geht es oft darum, wie wir uns unseren Feinden gegenüber verhalten. Denn Hass kann das größte Hindernis auf dem Weg zum Glück sein.
Tatsächlich spielt die Einstellung gegenüber Feinden und Gegnern für einen spirituellen Menschen eine tragende Rolle in seinem Leben.
Folgen wir der Denkweise des Dalai Lama, so ist offensichtlich, dass man sich in Geduld und Toleranz üben muss, um zu vollkommener Liebe und Annahme zu finden.
Wenn wir lernen würden, unseren Feinden gegenüber geduldig und langmütig zu sein, wäre alles viel einfacher, und Mitgefühl und Liebe kämen von ganz alleine.
Es gibt keine stärkere Kraft als die Geduld.
Es gibt kein größeres Unglück als den Hass.
Es war einmal ein griechischer Philosoph, der trug einem Schüler, der als besonders streitlustig und arrogant galt, auf, drei Jahre lang jedem Geld zu geben, der ihn beleidigte.
Nachdem diese Zeit vorbei und die Prüfung bestanden war, sagte der Lehrer zu ihm:
»Nun kannst du nach Athen gehen und lernen, was Weisheit ist.«
Dort angekommen sah der Schüler einen Mann vor den Toren der Stadt sitzen, der jeden beschimpfte, der vorbeikam.
Als er auch den Schüler beschimpfte, lachte dieser und verbeugte sich zum Dank bei jedem Schimpfwort.
»Warum lachst du, wenn ich dich beschimpfe?«, fragte der Mann, der ein weiser Mann war.
»Weil ich drei Jahre lang für das bezahlt habe, was du mir gerade umsonst gibst«, antwortete der Schüler.
»Geh in die Stadt«, sagte der Weise daraufhin. »Sie gehört dir …«
Wichtiger noch als seine Leidensfähigkeit und sein Durchhaltevermögen, die es dem Schüler ermöglichten, diese schwierige Zeit gut zu meistern, war seine Fähigkeit, eine andere Sichtweise einzunehmen.
Die Fähigkeit, eine andere Perspektive einzunehmen, ist eines der wirkungsvollsten Instrumente, die uns zur Verfügung stehen.
Die Wege, die wir bisher gegangen sind, dienen vielleicht einzig und allein dazu, die Perspektive zu verändern, mit der wir aufgewachsen sind.
Dass wir diese Wege gegangen sind, hat uns beigebracht …
… dass wir nur von uns selbst abhängig sind.
… dass wir die anderen brauchen, um unseren Weg zu gehen, nicht aber einen bestimmten Menschen.
… dass wir den Schmerz des Verlusts und des Verlassenwerdens ertragen und überwinden können.
Kurzum:
… dass wir, und nur wir, für unser Leben verantwortlich sind.
Wenn ich zum Beispiel die Freude der Begegnung erfahre, lerne ich gleichzeitig auch, dass der Zustand leidenschaftlicher Verliebtheit vorübergeht und die Zeit die Beziehung und damit auch uns verändert.
Desmond Morris beschreibt in seinem Buch Der Mensch mit dem wir leben die Veränderungen, die der Mensch in seinem Bedürfnis nach Nähe durchläuft. Ihm zufolge gibt es vier verschiedene Phasen:
Phase I: Komm ein bisschen näher
Phase II: Halt mich ganz fest
Phase III: Nicht ganz so fest, bitte
Phase IV: Lass mich endlich los!
Dieses Modell ist nicht nur witzig, sondern entspricht auch meiner eigenen Überzeugung, dass erdrückende Nähe nichts mit wahrer Liebe zu tun hat. Aber das lernt man nur, wenn man unabhängig wird und auch die Möglichkeit von Tränen zulässt.
Als ich zum ersten Mal über all das nachdachte, kam es mir vor, als gäbe es durchaus noch etwas Schlimmeres als den Hass, von dem der Dalai Lama spricht: Das Beharren auf bestimmten Strukturen und Vorstellungen und die Intoleranz anderen gegenüber.
Aber dann stellte ich fest, dass meine Liste nichts anderes war als eine Aufzählung unterschiedlicher Erscheinungsformen von Hass.
Da ich aus meiner beruflichen Erfahrung weiß, dass Liebe und Hass sich nicht ausschließen müssen, sondern oft eine ambivalente Beziehung miteinander eingehen, arbeite ich als Therapeut und Dozent mit den Werten Begegnung, Bindung und Abneigung, die ich für die drei Säulen seelischer Gesundheit halte.
Ich sage immer, die große Herausforderung auf dem Weg zu mir selbst besteht darin, dass ich zwei Dinge lerne: Wie man etwas anfängt und wie man aus einer Sache wieder herauskommt.
Der Tod ist das einzige Phänomen, das nicht von der Gesellschaft verdorben wurde. Der Mensch hat alles beschmutzt, nur der Tod ist immer noch unberührt und unverdorben. Der Mensch kann den Tod nicht begreifen, er kann keine Wissenschaft aus ihm machen. Es ist so aussichtslos, dass er nicht weiß, was er mit dem Tod machen soll. Deshalb ist der Tod das einzig wahrhaft Reine in der Welt.
Osho
Der Tod ist genau wie die Liebe ein interessantes Thema. Ich verwende hier das Worte Interesse in seinem ursprünglichen, in Vergessenheit geratenen Sinn als dasjenige, das etwas hinzufügt, vermehrt, wertschöpft, mit anderen Worten, etwas schafft (diese alte Bedeutung spiegelt sich noch in dem spanischen Wort für Zinsen = interés wider).
Es ist ja nicht so, dass der Tod uns einfach nur beschäftigt, nein, er interessiert uns insofern, als er sich als schöpferische Erweiterung des Lebens darstellt.
Der Tod versetzt uns in einen interessanten, erweiterten Zustand dem Leben gegenüber und gibt diesem eine neue, andere Bedeutung.
Wenn wir einen Verlust erfahren, empfinden wir unser Leben stärker, intensiver.
Verluste und die Liebe sind wichtige Marksteine unseres Lebens, die uns dem anderen gegenüber verorten.
Sowohl die Liebe als auch der Verlust benötigen einen anderen, um sein zu können.
Wenn wir uns aus der Abhängigkeit lösen, wenn wir von Liebe umgeben sind und uns dem Gedanken an den Tod stellen, findet eine Transformation statt. Es ist eine tiefgreifende Veränderung, die Geburt eines neuen Seins. Man wird nie wieder derselbe sein; das Wissen um die Selbstabhängigkeit, das Bewusstsein der Endlichkeit von allem, was uns umgibt, und die Unermesslichkeit der Liebe bringen uns in Grenzsituationen. Es sind Extremerfahrungen, die sich völlig jeder äußeren und inneren Kontrolle entziehen.
Wir neigen dazu, von anderen abhängig zu sein anstatt zu lieben.
Und wenn wir nicht lieben, können wir den Schmerz des Todes nicht in seiner ursprünglichen Form erfahren, sondern betrauern lediglich unsere Hilflosigkeit angesichts des Verlusts.
Gurdjieff sagt:
Um wirklich zu leben, muss der Mensch wiedergeboren werden.
Um wiedergeboren zu werden, muss der Mensch sterben.
Und um zu sterben, muss der Mensch innerlich erwachen.
Ein erfülltes Leben ist eine Abfolge wiederholten inneren Erwachens, zu dem wir auf den in dieser Buchreihe beschriebenen Wegen gelangen.
Um Liebe zu erfahren, braucht es die Freiheit der Selbstabhängigkeit.
Es braucht die Liebe, um den Schmerz eines Verlusts zu erfahren.
Es braucht den Schmerz des Todes, um den Tod zu überwinden.
Es braucht viele Tode, um den Weg des Glücks zu finden.
Dieses Schema möchte veranschaulichen, welchen Einfluss der Schmerz auf unser Leben hat.
Was die kognitive Entwicklung des Einzelnen angeht, kommt dem Tod eine wesentlich größere Bedeutung zu als der Liebe; der Tod lehrt den Menschen mehr über das Leben als die Liebe. Verluste sind mit Sicherheit nichts, was man sich wünscht, aber mit ebensolcher Sicherheit werden wir ihnen auf unserem Weg begegnen.
Man muss deshalb nicht den Tod herbeiwünschen, um zur Erkenntnis zu gelangen. Es genügt, zu erwachen.
In Ergänzung zu Gurdjieff möchte ich den amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Ambrose Bierce zitieren:
Wenn du willst, dass deine Träume wahr werden, wach auf!
Für Hegel hat die gesamte Geschichte der Menschheit eine dialektische Dynamik. Die Realität ist zutiefst widersprüchlich und kann vom menschlichen Verstand nur in Teilen und in einer Abfolge von Phasen erfasst werden – Phasen des Erwachens, wie ich sie nennen würde. Die Realität existiert nicht als Ganzes, noch wird sie in ihrer Gesamtheit gesehen. Vielmehr wird sie im Laufe der Zeit. Im Wesentlichen sind Erkenntnis und Realität eins, eine Bewegung auf einen Endpunkt hin, das Absolute, das nicht nur das Ende ist, sondern das Ganze, das Sein, das sich im Entstehen vervollkommnet.
Der dialektische Prozess wird von Hegel als eine Abfolge von Phasen – oder dialektischen Momenten – beschrieben, die als These, Antithese und Synthese bezeichnet werden. Die These stellt eine Behauptung auf; deren Negation, die Antithese, steht im Kontrast oder Konflikt zu dieser. Der dialektische Ansatz wirft einen Blick auf das Ganze und führt dann zu einem dritten Moment, der Vermittlung zwischen dem Widersprüchlichen und dem Versuch, den Widerspruch aufzulösen. Dieser mündet in eine neue Position, die den ursprünglichen Ausgangspunkt...