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E-Book

Die offene Gesellschaft und ihre Freunde

AutorAlexander Carius, Andre Wilkens, Harald Welzer
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783104903057
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Harald Welzer, Andre Wilkens und Alexander Carius geben zusammen den Debatten-Band ?Die offene Gesellschaft und ihre Freunde? heraus. Die Frage, welches Land wir sein wollen, ist zu wichtig, um zwischen parteipolitischem Kalkül zerrieben zu werden. Wir müssen die Debatte führen: Wollen wir eine offene Gesellschaft sein, geleitet von Freiheits- und Menschenrechtsidealen, oder eine exklusive Gesellschaft, die ihre Identität vor gefühlten äußeren Bedrohungen sichert? Und wenn wir eine offene Gesellschaft sein wollen: Was sind wir bereit, dafür zu tun? Zum ersten Mal debattiert eine Gesellschaft über sich selbst und über diese Frage, analog, vor Ort. Lesen Sie nun die wichtigsten Beiträge! Mit Beiträgen von: Barbara Bleisch Alexander Carius Georg Diez Farhad Dilmaghani Mathias Döpfner Tanja Dückers Johannes Eichenhofer Wolfram Eilenberger Leila El-Amaire Naika Foroutan Rainer Hank Esra Küçük Neela Janssen Van Bo Le-Mentzel Ulrich Lilie Christoph Niemann Richard David Precht Milo Rau Dinah Schmechel Ingo Schulze Adania Shibli Hans-Georg Soeffner Tina Soliman Jean-Daniel Strub Ilija Trojanow Friedrich von Borries Stefan Wegner Harald Welzer Andre Wilkens Weitere Informationen zur Offenen Gesellschaft finden Sie unter: http://www.die-offene-gesellschaft.de/

Alexander Cariusist Politikwissenschaftler und Gründer und Direktor von adelphi, einer Denkfabrik und Politikberatung in Berlin, die sich mit globalen Transformationsprozessen befasst. Zusammen mit Harald Welzer hat er im Herbst 2015 die bundesweite Debattenreihe »Die offene Gesellschaft - Welches Land wollen wir sein?« initiiert. Harald Welzer, geboren 1958, ist Sozialpsychologe. Er ist Direktor von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit und des Norbert-Elias-Centers für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg. In den Fischer Verlagen sind von ihm u. a. erschienen: »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«, »Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird«, »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen«, »Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens« und - gemeinsam mit Richard David Precht - »Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist«. Seine Bücher sind in 21 Ländern erschienen. Andre Wilkens wurde 1963 geboren und ist in Ostberlin aufgewachsen. Der studierte Politikwissenschaftler hat viele Jahre in Brüssel, London, Turin und Genf gelebt und dort für die EU, Stiftungen und die UNO gearbeitet. Bis 2015 leitete er das ProjektZentrum Berlin der Stiftung Mercator. Davor hat er das Open Society Institute (OSI) der Soros Stiftung in Brüssel geleitet sowie die Aktivitäten von Soros in Europa koordiniert. Er ist zudem Initiator und Gründungsmitglied des European Council for Foreign Relations. Weitere berufliche Stationen waren die European Training Foundation in Turin sowie Positionen bei der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament in Brüssel. Er ist Mitglied der Initiative »Die offene Gesellschaft«. Bekannt wurde er als Autor des Buches ?Analog ist das neue Bio? (Fischer Taschenbuchverlag). Er lebt mit seiner deutsch-englischen Familie in Berlin.

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Leseprobe

Georg Diez

Boten der Zukunft


Dieser Gesellschaft fehlt das Selbstbild. Oder besser: Es fehlt das positive Selbstbild. Sehr viele Menschen, so kommt es mir vor, wissen gerade nicht genau, wer sie sind oder wer sie sein wollen. Sie wissen nur, wer sie nicht sein wollen.

Oder wen sie nicht dabeihaben wollen. Wer nicht dazu gehört. Wer fremd ist. Wer stört. Sie formen ein Bild von sich selbst, von ihrem Leben und ihrem Land, indem sie andere stigmatisieren, ablehnen, ausgrenzen.

Flüchtlinge, Muslime, Schwule, Rechte, Linke, Rassisten, Sozialisten, Kapitalisten, Umweltschützer, Klimaschützer, Menschenrechtler, Politisch Korrekte, Politisch Unkorrekte, es herrscht kein Mangel an Feinden, es herrscht nur ein Mangel an Perspektive.

Das ist die klassische Bürgerkriegsrhetorik, sagen manche. Kann sein. Für mich wirkt es manchmal auch fast wie Beschäftigungstherapie, dieser Hass, der kultiviert wird und benutzt, um davon abzulenken, dass man längst nicht mehr weiß, in welche Richtung sich die Zeit bewegt, nach vorne oder nach hinten.

Und was wäre vorne? Wo wäre vorne? Wie geht der Weg? Wer kennt die Richtung? Wer weiß, wie man endlich ankommt, in diesem verdammten, famosen 21. Jahrhundert?

Es ist, als ob das fiese, verbrecherische 20. Jahrhundert die Menschen nicht loslassen würde. Da sind sie schon fast weg, sie haben es gleich geschafft, denkt man, willkommen im Zeitalter der liberalen Weltordnung, da erwischt sie eine kalte Hand doch noch am Bein und zerrt sie zurück zu Nationalismus, Fanatismus, religiösem Wahn.

Die Zukunft ist abgeschafft, so scheint es manchmal, und mit der Zukunft ein Blick auf die eigene Gegenwart, der anders ist als eng und angstbesetzt. Denn die Zukunft ist nötig, um aus seiner eigenen Zeit herauszusteigen, die Zukunft ist ein Mittel, seine eigene Hermetik zu durchbrechen.

Die Zukunft ist eine nötige Utopie. Ohne Zukunft gibt es nur rasenden Stillstand. Ohne Zukunft herrschen die Verhältnisse. Ohne Zukunft fehlt das Versprechen, dass es anders und auch besser werden könnte. Ohne Zukunft begibt man sich in ein Grab aus Beton, ob man es merkt oder nicht. Erst wenn man weiß, wohin man will, wird man den Aufbruch wagen.

Und das ist eben das Problem: Wer kennt das Ziel? Der Wohlstand, der immer versprochen wurde, kann es nicht sein, denn der verteilt sich gerade so ungleich, dass es zum ersten Mal in der Geschichte des Westens einer ganzen Generation zumindest gefühlt schlechter geht als ihren Eltern.

Das Wachstum kann es aber auch nicht sein, der Mechanismus also, mit dem in der Vergangenheit soziale Konflikte abgemildert wurden, allerdings nicht nur auf Kosten der Länder, die der Westen ausbeuten konnte, sondern auch auf Kosten der Natur, die an den Rand ihrer Geduld gebracht wurde.

Im Materiellen ist die Lösung nicht zu finden, und das wird auch gar nicht nötig sein, wie es aussieht. Denn der Mensch im postmateriellen Zeitalter wird, nach allem, was man hört, frei sein von dem, was ihm bislang Sinn gegeben hat, was ihn allerdings auch gebunden hat – manche würden sogar sagen gefesselt: die Arbeit.

Das wiederum schafft ein paar grundlegende Probleme: Was tun mit der Zeit? Was tun mit der Freiheit? Was tun mit dem Menschen? Wie sortiert der Mensch seinen Tag? Wie gliedert der Mensch sein Leben? Was verschafft ihm Anerkennung? Was verschafft ihm Erfüllung? Wo steht der Mensch in der Gesellschaft? Und was für eine Gesellschaft will er überhaupt?

Aber schon an diesen Fragen merkt man, wie schwer es ist, das Neue zu erkennen, das längst da ist. Oder das Neue zu denken, das unausweichlich ist. Denn die Zukunft ist ja im Grunde jetzt. Sie ist latent, wie so oft, sie ist präsent, und sie zeigt sich nur an einigen Orten.

Silicon Valley, könnte man meinen, ist so ein Ort. Hier kann man lernen: Es wird so kommen, die Maschinen werden intelligenter werden, vielleicht sogar intelligenter als der Mensch – und bei aller Skepsis, der Optimist, und der ist von seiner Grundstruktur her eher links, sollte sich wohl darüber freuen.

Denn die Technik hat das Potential, den Menschen nicht von sich selbst zu entfernen, das kann auch sein, sie kann aber auch das entfernen, was den Menschen bindet, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit, seinen Willen und sein Streben.

Die Technik bietet dem Menschen damit die Möglichkeit, neu zu reflektieren, wer er ist und wer er sein möchte, wer er sein könnte – und deshalb ist eben auch der Münchner Hauptbahnhof so ein Ort der latenten Zukunft oder der Wiener Westbahnhof oder das Camp von Idomeni.

Denn die Frage, was der Mensch ist oder sein könnte, ist sehr eng mit der Frage verbunden, wie der Mensch sich in einer Situation der Not verhält, der eigenen oder speziell der Not anderer. Ist er egoistisch? Verleugnet er seine Verantwortung? Reduziert er sich und seine Spezies?

Oder schafft er den Sprung, den der Mensch bislang noch immer geschafft hat? Schafft er es, seinen Egoismus zu überwinden und seine Verantwortung anzunehmen und damit die Grundlage für ein Zusammenleben zu legen, das den Einzelnen erhöht, weil er als Individuum Teil einer Gemeinschaft ist, weil es das Individuum erst zum Individuum macht?

Erfüllt sich der Mensch also das Versprechen des Humanismus? Oder wird er zum Angstmenschen, der sich vor der Zeit verschanzt, vor der Gegenwart wie der Zukunft, die unerreichbar wirkt, wenn man sich selbst in einer Höhle festbindet, aber sehr real, wenn man ihr ins Gesicht sieht.

Das alles soll nicht bedeuten, dass es keine Schwierigkeiten gäbe, mit der Technologie, mit der Überwachung, mit den Flüchtlingen, mit der Klimaveränderung, mit den Armutswanderungen, mit der Intoleranz, mit dem Hunger – aber, das lehrt die Geschichte, es hilft nie, die Antwort in der Vergangenheit zu suchen.

Und so sind die Flüchtlinge, die nach Europa kommen, seit Jahren schon, als viele von ihnen im Mittelmeer ertranken, und spätestens seit dem Sommer 2015 in Mengen, die manche erschrecken ließen – diese Flüchtlinge sind vieles, mutige Menschen, arme Menschen, gebildete Menschen, Menschen in Not, Menschen mit Würde. Sie sind aber auch Boten aus der Zukunft.

Sie zeigen die Welt, wie sie sein wird, wie sie auch sein wird, selbst wenn die Technologie ihre Utopie erfüllt: Es wird immer Not geben, sie wird noch zunehmen – und die Botschaft der Flüchtlinge, so wie sie auch viele Menschen in Deutschland verstanden haben, war eine Botschaft der Humanität, mit der man eine Gesellschaft neu begründen kann.

Wir Menschen sind dazu da, uns gegenseitig zu helfen, das war ihre Botschaft – und die Bürger, die diese Botschaft verstanden, machten sich daran, gemeinsam mit den Flüchtlingen neu und anders zu definieren, was sie sind, was der Staat ist, was ihre Aufgaben sind und was die des Staates, wer einen Anspruch hat und worauf.

Es ging nicht um einen Staat, der sich heraushält, wie es die Liberalen und Neoliberalen so oft und so lange gepredigt haben. Und es ging auch nicht um einen Staat, der viele Aufgaben übernimmt, vielleicht zu viele, wie es die wollen, die im Wohlfahrtsstaat das beste gesellschaftliche Modell sehen.

Es ging um etwas Drittes, und das ist das Besondere an dieser Situation, das ist das Neue am Beginn des 21. Jahrhunderts, wo sich die binären Konflikte, die Dichotomien der Erkenntnis und der Erfahrung mehr und mehr auflösen werden: Es war Zivilisation reloaded – und der Widerstand dagegen musste kommen, er wird stark bleiben, aber weil der Mensch brutal und grausam und tierisch ist und doch zur Vernunft begabt, werden sich schließlich die durchsetzen, die das Gute wollen.

Bis dahin allerdings wird es darauf ankommen, denen, die gegen ihre Zeit anrennen, entgegenzutreten, entschieden und mit dem Bild einer Gesellschaft, die anders ist, gewollt anders als die bisherige: offen und gerecht für alle. Das wird noch eine Weile dauern, möglicherweise eine ganze Generation, denn die Umbrüche sind lang und kompliziert und schmerzhaft.

Wir sind gerade auf der Abwärtsbewegung, hin zu weniger Toleranz und mehr Hass und Vorurteil, in Deutschland, in Europa, in weiten Teilen der Welt. Es ist erschreckend, diesen Klimawandel zu beobachten, den Wandel der Worte und der Werte, weg von der fast schon selbstverständlich scheinenden bunten Benetton-Welt der verschiedenen Gesichter und Geschlechter und der freundlichen Differenz.

Das war kein Trug, und es war auch kein Fehler. Es ist der richtige Weg, es ist der einzige Weg. Aber es hat viele verschreckt, vor allem die, die abgehängt wurden, die nicht dabei sein durften, die am Rande standen. In ihnen hat sich der Hass genährt. Wir sehen vor uns ein Zeitalter der Angst und der Wut.

Diese Menschen denken und reden und argumentieren, als ob es kein Außen gäbe. Sie leben nach innen, sie denken nach innen, sie sind individuell regressiv und kollektiv reaktionär. Sie verschenken ihre Zeit, sie vergeuden ihre Chance, weil sie nur in Ablehnung leben.

Dabei könnte es anders sein, dabei könnte alles anders sein. Die Gegenwart ist nicht aus Beton. Sie ist brüchig, sie ist flüchtig, sie ist formbar für die, die sie formen wollen. Was eine Gesellschaft ist, entscheidet sich an dem, was der Einzelne für sich und sein Leben will.

Es ist also eine alte und eine neue Utopie. Das Individuum, aber nicht gefangen in den ideologischen Klauen eines über den Kommunismus triumphierenden Kapitalismus, sondern erst einmal in seiner Würde und Selbstverständlichkeit, mit Respekt betrachtet.

Und weil wir zwar in einem...

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