|17|2 Zurechtkommen mit dem Stress des Jobs: Kampf, Flucht, Erstarren
Die meisten Trainer kennen das: Im Traum erscheint einem eine Gruppe, die nicht zuhören will, eine Situation, in der man nach Worten ringt oder ein Moment, in dem man von allen ausgelacht wird. In einem solchen Traineralptraum erinnert uns unser Unterbewusstsein daran, dass Gruppen potenziell bedrohlich sind. Wenn es im Training gut läuft, ist man sich dieser Tatsache nicht immer bewusst, aber Gruppen kann man in ihren Reaktionen nie sicher einschätzen. Außerdem sind – aus Sicht des Trainers – die Teilnehmer in der Mehrzahl. Unvorhergesehene Ereignisse können schon allein deshalb bedrohlich wirken. Eine flapsige Bemerkung oder unerwartete Zwistigkeiten können dann einen uralten Reflex auslösen und der Trainer geht in die Verteidigung, in eine Flucht-, Kampf- oder Erstarrungsreaktion.
Ein Teilnehmer, der sagt, er finde das Training langweilig, eine Gruppe, die geschlossen eine halbe Stunde zu spät aus der Mittagspause zurückkommt, eine Gruppe, die immer wieder gemeinsam erklärt, für sie würde das Gesagte nicht zutreffen: All das ist nicht lebensbedrohlich, aber es sind Momente, die Stress erzeugen. In diesem Stressempfinden reagiert man nicht mehr professionell, sondern mithilfe von Verteidigungsmechanismen: Kampf, Flucht, Erstarren. Der Trainer nimmt den Kampf mit den Teilnehmern auf und will gewinnen. Er versucht, zu gefallen, in der Hoffnung, dass der Angriff abschwächt oder er schaltet auf Autopilot und denkt: „Irgendwann ist es 17.00 Uhr.“
Abbildung 8: Ausgangspunkt – Bedrohung
Um solche Erfahrungen geht es in diesem Kapitel. Es geht nicht darum, möglichst dafür zu sorgen, dass sie nie mehr unter Stress stehen, denn das wäre unrealistisch. Die Verteidigungsmechanismen sind seit Jahrhunderten in unseren Körpern einprogrammiert und der Trainerberuf ist und bleibt eine aufregende Herausforde|18|rung, es gehört also dazu. Was Sie tun können, ist, Ihre eigenen Reaktionen zu kennen und zu entdecken, wie Sie sich selbst aus Ihrer Flucht-, Kampf- oder Erstarrungsreaktion befreien können, um dann wieder professionell zu agieren.
Worum geht es in diesem Kapitel?
Im ersten Abschnitt lesen Sie, wie die Flucht-, Kampf- und Erstarrungsreaktion jeweils funktionieren und – im zweiten Abschnitt – wie Sie die entsprechende Reaktion erkennen können: Was tun Sie und was fühlen Sie bei jeder dieser drei möglichen Reaktionen? Im dritten Abschnitt zeige ich Ihnen Auswege aus der Reaktion, und wie Sie den Weg zurück in Ihre (Trainer-)Rolle finden können. Anschließend lenke ich meinen Blick auf die Teilnehmer: Auch sie können sich angegriffen fühlen und in die Verteidigung gehen. Wie können Sie erkennen, was bei Ihrem Teilnehmer vor sich geht (Abschnitt 4) und was können Sie dafür tun, dass er einen Ausweg findet (Abschnitt 5)? Im letzten Abschnitt lesen Sie, was Sie während eines Trainings strukturell für Ihr Gefühl von Sicherheit tun können, damit Ihr Risiko, sich angegriffen zu fühlen, gesenkt wird.
2.1 Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion: die automatische Verteidigung
Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion:
Die Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion wurde erstmals von dem US-amerikanischen Physiologen Walter Bradford Cannon (1871 – 1945) benannt. Er hatte entdeckt, dass viele in die Enge getriebene Tiere drei typische Reaktionen zeigen: Sie kämpfen, fliehen oder erstarren (bzw. sie stellen sich tot). Diese Reaktionen werden durch die Ausschüttung der Hormone Adrenalin oder Noradrenalin ermöglicht. Dadurch wird die Atmung schneller, die Herzschlagfrequenz steigt, ebenso der Blutdruck, die Aktivitäten der Verdauungsorgane werden verlangsamt usw. Die Tiere sind dadurch in einem hohen Maß wachsam und das müssen sie auch sein, denn jede dieser Reaktionen muss schnell erfolgen und kostet viel Energie.
Entscheidend ist, dass die physiologische Vorbereitung auf die Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion automatisch geschieht. Und zwar im vegetativen Nervensystem, das alle routinemäßigen Funktionen des Körpers reguliert, wie die Atmung, die Verdauung oder den Kreislauf. Wenn Tiere in eine Bedrohungssituation geraten, erhöht sich ihre Wachsamkeit und Handlungsbereitschaft von selbst. Sind sie einmal in der Situation, haben sie keine andere Wahl mehr, außer zu kämpfen, zu fliehen oder sich tot zu stellen. Das kann man auch gut nachvollziehen, weil andere Reaktionen die Überlebenschancen entscheidend einschränken würden.
|19|Die Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion läuft instinktiv ab: So reagiert unser Körper am effektivsten auf Bedrohungen. Früher waren Bedrohungen vor allem physischer Natur, in einem Training sind es in erster Linie soziale Situationen, die als bedrohlich empfunden werden können. Schließlich stehen Sie als Trainer dort allein vor der Gruppe, sodass sich das jedes Mal, wenn ein Teilnehmer oder eine Gruppe nicht das tut, was Sie wollen, oder Ihnen widerspricht, für Sie wie ein Angriff anfühlen kann.
Beispiele:
Sie erklären eine Übung, es folgt Totenstille, eine Person seufzt tief auf.
Sie beginnen mit dem Training und sogleich fragt jemand in einem ziemlich aggressiven Ton: „Können wir auch um vier Uhr Schluss machen? Das ist meine normale Arbeitszeit.“
Sie haben schon im Vorfeld gehört, dass die Gruppe schwierig ist und ja, von den acht Personen kommen fünf zu spät.
Der erste Tag verläuft zäh. Am späten Nachmittag bitten Sie die Teilnehmer, etwas über den Tag zu sagen und dabei ernten Sie hauptsächlich Kritik.
Wenn Sie etwas erklären, reagiert immer dieselbe Teilnehmerin, die wirklich alles infrage stellt. Und die Gruppe pflichtet ihr auch noch bei.
Dies sind keine seltenen Ereignisse in einem Training, sie können sich aber bedrohlich anfühlen. Das bedeutet, dass Sie als Trainer ins Wanken kommen können und dass Sie nicht mehr professionell reagieren, sondern aus Selbstschutz, wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht eines Autos. Für Sie ist dies ein unangenehmes Gefühl und die Teilnehmer spüren meist direkt, dass Sie sich nicht wirklich wohlfühlen: „Dieser Trainer ist etwas instabil.“ Oder: „Offensichtlich geht ihm das nahe.“ Oder: „Meiner Meinung nach fühlt er sich nicht wohl in seiner Haut.“
2.2 Wie sieht Ihr Verteidigungsmechanismus aus?
Sie können die Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion nie völlig ausschließen – manchmal passiert etwas Aufregendes und die Reaktion erfolgt ganz automatisch. Man kann aber lernen, die Reaktion bei sich selbst zu erkennen, sodass man bewusst wieder herausgehen kann. Deshalb können Sie in diesem Abschnitt für jeden der Mechanismen lesen, was dabei mit Ihrem Körper, Ihren Emotionen, Ihren Gedanken und Ihrem Verhalten geschieht. Am ausführlichsten beschäftige ich mich mit dem jeweiligen Verhalten, weil das manchmal wie eine legitime Intervention durch den Trainer wirkt, aber aus der Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktion hervorgeht. Zum Schluss beschreibe ich, mit welchen Reaktionen aus der Gruppe Sie rechnen müssen, wenn Sie von einem der Mechanismen geleitet sind.
|20|Kampfreaktion
Beispiel:
Herr Renes (Trainer): Frau Mark hat zum x-ten Mal ihr eigenes Beispiel vorgebracht. Zum Verrücktwerden. Kapiert sie nicht, dass sie mir damit das Training ruiniert? Ich habe sie ziemlich abrupt unterbrochen und ihr gesagt: „Vielen Dank, Frau Mark, für Ihr interessantes Beispiel, ich glaube aber, dass Sie das mit Blick auf die Uhr hier beenden müssen. Ich würde mein Programm noch gern zu Ende bringen und ich denke, dass wir doch alle rechtzeitig in die Mittagspause gehen wollen, oder nicht?“ Ein paar Gruppenmitglieder nickten, Frau Mark schwieg und ich konnte mit meiner Sache fortfahren. Am Nachmittag sagte sie nicht mehr viel und, ehrlich gesagt, war mir das gerade recht so. Das Gejammere die ganze Zeit, sie hat die ganze Gruppe aufgehalten.
Körper
Die Kampfreaktion zeigt sich an der Körperhaltung: energiegeladen und aufrecht. Oder wenn Sie sitzen: nach vorn gerichtet. Der Kopf ist aufgerichtet, vielleicht sogar ...