Die Welt des Vertriebs
Offenkundige Vorteile von Vertriebsfunktionen, besonders jene im Außendienst, lassen das Feld äußerst attraktiv wirken. Ein Firmenwagen, Firmenhandy, Laptop, die Möglichkeit eines Home-Office und flexible Arbeitszeiten bei attraktiver Vergütung wie laufende Weiterbildungen, bieten Anlass zur Interessensweckung. Doch sind diese offensichtlichen Rahmenbedingungen nur die Spitze des Eisbergs. Ziel dieses Kapitels ist eine ganzheitlichere Betrachtung von Vertriebsfunktionen, beginnend mit der Beantwortung nachfolgender Fragen:
- Unter welchen Marktbedingungen arbeiten Verkäufer heute?
- Wie viele Menschen sind weltweit im Verkauf tätig?
- In welchen Funktionen?
- Ist der Arbeitsmarkt in diesem Bereich stabil, schrumpfend, oder wachsend (werden Verkäufer gebraucht)?
- Welchen Herausforderungen müssen sich Menschen im Vertrieb stellen, welche Verantwortung übernehmen, welche Qualifikation besitzen?
- Wie werden die Funktionen üblicherweise vergütet?
Ziel ist es, Interessierten Personen, Einsteigern, wie Vertriebs-Profis eine Orientierung bezüglich Herausforderungen und Chancen im Vertrieb zu geben, beginnend mit der heute mehrheitlich vorherrschenden Marktsituation, aus welcher sich viele Anforderungen an Vertriebspersönlichkeiten ergeben.
Vom Verkäufer- zum Käufermarkt
Paradigmenwechsel in vielen Branchen
Früher: hungrige Menschen satt machen
Heute: satte Menschen hungrig machen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts treibt die erste industrielle Spinnmaschine „Spinning Jenny“ die Textilproduktionsmengen und Qualitäten in England zu immer neuen Rekorden. Die dadurch sinkenden Kosten ermöglichen großen Teilen der Bevölkerung den Zugang zu Kleidung in einem nie gekannten Ausmaß. Dampfmaschinen übernehmen schweißtreibende Aufgaben und steigern die Produktivität, beispielsweise bei der Kohleförderung, oder der Mobilität mittels Eisenbahn. Adam Smith erkannte am Beispiel einer Stecknadelfabrik die Produktivitätssteigerungs-Chancen durch Spezialisierung. Der US-Amerikaner Frederick Winslow Taylor (1856–1915) beginnt entsprechend dieser These Arbeiten in kürzeste - zugegeben monoton repetitive - Arbeitsschritte zu zerlegen, während Henry Ford 1913 mit dem Fließband die Produktion des Ford-T-Modells auf das Achtfache steigert und die Löhne seiner Angestellten verdoppelt. Das Ziel hungrige Menschen satt zu machen – vom Hemd bis zum Auto – wird in den industrialisierten Ländern zunehmend erreicht.
Die fortschreitende Automatisierung, Standardisierung von Produkten und Prozessen treibt beschriebene Entwicklungen bis heute weiter voran und Kosten nach unten. Dies erklärt zum Teil das durchschnittliche Besitztum eines Europäers von rund 10.000 Gütern in seinem Haushalt (einige Quellen sprechen sogar von 60.000). Wie viele dieser Gegenstände tatsächlich nachhaltige und essentielle Bedürfnisse befriedigen, somit erforderlich sind, überlasse ich Ihrer ehrlichen Selbsteinschätzung. Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts TNS UK im Auftrag von eBay werden 28 bis 84 dieser Gegenstände niemals benutzt (Wiederverkaufswert zwischen 1.286€ und 2.169€)!(1) Offensichtlich werden heute Gegenstände gekauft, für welche deren Eigentümer keine Verwendung (realen Bedarf) hat. Jemand hat es also geschafft, satte Menschen hungrig zu machen.
Worauf ich hinauswill: Wenn ein durchschnittlicher Europäer heute 10.000 Güter in seinem Haushalt besitzt und jedes dieser bei unzähligen Anbietern weltweit kaufen kann, warum soll er dies gerade bei Ihnen (Ihrem Unternehmen) tun? Warum soll er Sie als Dienstleister oder Produktlieferant wählen? Warum soll ein Unternehmen, oder eine Institution seinen Bedarf in Zusammenarbeit mit Ihnen decken, wo doch so viele Alternativen bestehen? Dieses Werk ist die Antwort auf jene Fragen. Es zeigt Wege auf, wie Sie Menschen hungrig machen, sodass diese Ihren Bedarf bei Ihnen decken, als auch Bedürfnisse erzeugen, welche bisher unter der Wahrnehmungsgrenze Ihrer Kunden lagen – und das können Sie meist nur, wenn Sie die Bedürfnisse Ihrer Zielgruppen detailliert kennen – also ein Spezialist sind. Ziel der vorgestellten Techniken in diesem Werk ist es, Bedürfnisse transparent wie bewusst zu machen und nachhaltig abzudecken.
Die beschriebenen Veränderungen und damit einhergehende Machtverschiebung im Verkaufsprozess zum Kunden, erfahren seit spätestens 1993 eine zusätzliche Dynamik: Durch zunehmende Elimination von Informationsasymmetrien. 1989 entwickelte Tim Bernes Lee am CERN die Grundlagen für das World Wide Web. Mittels des Hypertext Dienstes wurde es ab 1991 öffentlich und weltweit verfügbar. Ab 1993 erfuhr es einen rasanten Auftrieb durch den ersten grafikfähigen Webbrowser Mosaic, kostenfrei zum Download. Der weitere Lauf der Geschichte, ist uns allen bekannt.
Heute haben Menschen mit Internetanschluss nahezu uneingeschränkten Zugang zu Informationen, just in time und an Aktualität nahezu unüberbietbar. Wenn Sie sich für ein neues Auto interessieren, lesen Sie die letzten Testberichte der Onlinemagazine, konfigurieren online Ihre Wunschausstattung, erstellen einen schnellen Preisvergleich, sprechen in Ihrem sozialen Netzwerk über deren persönliche Erfahrungen mit dem Modell, Händlern, Preisspannen, bevor Sie das erste Mal ein Autohaus betreten. Sie wissen unter Umständen über das Produkt, den Wettbewerb, die Marktsituation und Ihren Ansprechpartner beim Erstkontakt deutlich mehr, als der lokal zuständige Verkäufer im Autohaus zu genannten Inhalten. Bei anderen, standardisierten Produkten nutzen Sie möglichweise Vergleichsplattformen, niedrige Transportkosten und attraktive Wechselkurse, um wahrhaft global einzukaufen – und das in Minuten. Internationale Normen, Gesetze, Unternehmens- wie Interessensverbände, tun Ihr Übriges, um uns als Konsumenten bestmöglich zu stellen – Finden Sie das nicht auch großartig?
Bis 1993 mussten Sie für Erstinformationen zu einem Auto ins Autohaus. Nach einem längeren Gespräch und der Preisgabe einer Vielzahl an Informationen an den Verkäufer, erhielten Sie eine Broschüre. Eine Neuwagen-Konfiguration war – wenn überhaupt im gewünschten Umfang möglich - ausschließlich mit dem Verkäufer realisierbar, die Preise teilweise oder gar komplett intransparent. Einen Ausdruck des konfigurierten Fahrzeugs erhielten Sie erst nach Kauf. Die Einholung mehrerer Angebote, als auch der Kontakt zu bestehenden Kunden, waren eine zeitintensive, im Fall der Kundenkontaktsuche möglicherweise aussichtslose, Angelegenheit.
Das Geheimnis für den Marktwandel, scheint der Wegfall von Informationsasymmetrie bei gleichzeitiger Globalisierung und Standardisierung zu sein. Heute haben beide Seiten, Käufer wie Verkäufer, umfangreiche Informationen zugänglich und globale Einkaufs- / Absatzmöglichkeiten. Die Kunst des Verkaufs in einem derartigen Umfeld, ist ein radikales Umdenken, um langfristige wie lukrative Vertriebserfolge zu realisieren. Wenn spezialisierte Akteure auf Kundenseite eine Vielzahl an Leistungen global vergleichen und beschaffen können, was kann ein Anbieter dem entgegensetzen? Er kann sich ebenso spezialisieren, jedoch auf intelligente Weise durch Konzentration auf permanent bestehende Grundbedürfnisse seiner Zielgruppe.
Trend: Intelligente Spezialisierung
Spezialisierung wird in vielen Bereichen äußerst risikoreich gesehen und häufig falsch verstanden. Was spricht gegen Spezialisierungstendenzen? Spezialisierte Unternehmen und Menschen könnten von Innovationen in Ihrer Existenz bedroht werden, wie beispielsweise die Produzenten von Audiokassetten durch die Compakt Disk Technologie, gefolgt von vielen weiteren Innovationen des Musikkonsums, die das Internet bietet. Neben innovativen Risiken ist die Politik zu berücksichtigen. So wurde beispielsweise die 100 Watt Glühbirne durch EU-weite Regelungen von der Energiesparlampe verdrängt. Neben technologischen, wirtschaftlichen und politischen Risiken, gilt es gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu beachten. Der Sinn einer Arbeit kann durch Zerlegung dieser in Teilschritte und Spezialisierungen auf diese gefährdet werden, da man nicht mehr „das große Ganze“ sieht, geschweige denn begreift. Mögliche Folgen sind monotone Arbeitsabläufe und Gesundheitsschäden aufgrund einseitiger Belastungen, bis hin zur Sinnkrise und Existenzängsten durch absolute Austauschbarkeit von Funktionsträgern. Ein weiterer häufig genannter Aspekt im Zusammenhang mit Spezialisierung ist die vermeintliche Einschränkung und damit Beschränkung von Chancen. In Zeiten des Dogmas Wachstum und Größe, werden Spezialisierungsgedanken häufig mit „klein“, oder „begrenzt“ assoziiert, somit als Nischenstrategie herabgewürdigt.
Intelligente Spezialisierung schaltet jedoch die zuvor genannten Probleme weitestgehend aus. Durch Konzentration auf einen definierten Bereich steigt Ihre Lern- und Erfahrungskurve in kurzer Zeit im Vergleich zu nichtspezialisierten Wettbewerbern massiv an. Dies führt zu Effektivität. Sie tun „das Richtige“. Je öfter Sie „das Richtige“ tun, umso effizienter wird Ihre Arbeitsweise. Sie tun das...