VORWORT:
»DIE BARMHERZIGKEIT GOTTES VERÄNDERT DIE WELT!«
Antlitz der Barmherzigkeit (Misericordiae vultus), so lautet der deutsche Titel der Bulle, mit der Papst Franziskus das »Außerordentliche Jubiläum der Barmherzigkeit« angekündigt hat. Antlitz der Barmherzigkeit: Der Titel des Schreibens war kaum in der Welt, da fingen die personalisierenden Wortspiele an. Ist nicht Franziskus selbst solch ein Antlitz der Barmherzigkeit, hat nicht er als Person das Gesicht der Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung verändert? Man denke nur an Gesten und Szenen wie die von der Fußwaschung im Gefängnis an Gründonnerstag. Franziskus, das Antlitz der Barmherzigkeit?
Nun, tatsächlich lädt eine solche Stelle wie diese zu einer sprachlichen Überhöhung des Heiligen Vaters zum Barmherzigen Vaters ein: »In dieser wunderschönen Rede Jesu ist auch vom Türhüter die Rede, der die Aufgabe hat, dem guten Hirten zu öffnen (vgl. Joh 10,2). Wenn der Türhüter die Stimme des Hirten hört, dann öffnet er und lässt alle Schafe herein, die der Hirt bringt; … Auch der Türhüter selbst gehorcht der Stimme des Hirten. Wir können also sagen, dass wir wie dieser Türhüter sein müssen. Die Kirche ist Pförtnerin des Hauses des Herrn; sie ist nicht Herrin über das Haus des Herrn.« Und etwas vorher: »Der Türdienst verlangt aufmerksame Unterscheidungsgabe und muss gleichzeitig großes Vertrauen einflößen. Ich möchte ein Wort des Dankes an alle Türhüter sagen: in unseren Wohnblöcken, den zivilen Einrichtungen, auch den Kirchen. Oft können Umsicht und Freundlichkeit des Pförtners dem ganzen Haus bereits am Eingang den Eindruck der Menschlichkeit und der gastfreundlichen Aufnahme verleihen.« Franziskus erscheint den meisten Menschen als solch ein Türhüter, der dem Haus der Kirche ein freundliches, ein einladendes Gesicht gibt.
Der Papst selbst freilich würde solch eine Vereinnahmung seiner Person skeptisch sehen. Erstens, weil er sich gegen den regelrechten Kult, der um ihn seit Beginn seines Pontifikats herrscht und der sogar zu Superman-Graffitis auf römischen Hauswänden geführt hat, sträubt. Nicht sehr erfolgreich, zugegeben, wenn man weiter manche schon erheiternde Blüten sieht, die die Franziskus-Verehrung treibt. Vor allem aber, weil damit das Eigentliche, das ihm wirklich Wichtige oberflächlich abgehandelt und wegpersonifiziert wird. Denn so weit stimmt es ja: Barmherzigkeit ist das Schlüsselwort, um diesen Papst und dieses Pontifikat zu verstehen. Mehr noch, es ist für Franziskus das Schlüsselwort des Evangeliums und die, wie er mit dem heiligen Thomas sagt, größte Tugend überhaupt. Barmherzigkeit, das macht der Heilige Vater immer wieder klar, ist kein nettes Tugend-Add-on. Es ist das, was Gott ausmacht und uns ausmachen soll. Es ist Angebot und Anspruch zugleich, die an jeden Christen, ja an jeden Menschen ergehen.
Gott ist barmherzig. Das ist die Prämisse, biblisch verortet, von der Franziskus ausgeht: »Gott wird in der Geschichte der Menschheit immer gegenwärtig sein als der Nahe, der Vorsorgende, der Heilige und Barmherzige. Mit dem Wortpaar ›geduldig und barmherzig‹ wird im Alten Testament häufig die Natur Gottes beschrieben«, erläutert der Papst in Misericordiae vultus. Und in Evangelii Gaudium betont er: »Das ist eine so klare, so direkte, so einfache und vielsagende Botschaft, dass keine kirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu relativieren.«
Was bedeutet es aber konkret, barmherzig zu sein? Am leichtesten fällt die Antwort auf diese Frage, wenn es um das geht, was wir im zweiten Kapitel des Epheserbriefes finden: Dort heißt es, dass Gott »reich an Erbarmen« sei und er uns Menschen »um seiner großen Liebe willen … mit Christus zusammen lebendig gemacht« hat. Gott, der Erbarmer, der barmherzige Vater, der den verlorenen Sohn immer wieder aufnimmt – im vorliegenden Buch ist dem »barmherzigen Vater« ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem es unter anderem heißt: »Gott wartet immer auf uns, er wird nicht müde. Jesus führt uns diese barmherzige Geduld Gottes vor Augen, damit wir Vertrauen und Hoffnung zurückgewinnen, immer!« Gott ist barmherzig und er hat Geduld mit uns: Das ist eine der wunderbarsten Aussagen der christlichen Botschaft, die Franziskus immer wiederholt – sehr geduldig.
Ein anderer Aspekt, der – alle anderen Aspekte verweisen ebenso notwendig aufeinandereinander – eng mit der oben angesprochenen Prämisse zusammenhängt, ist das, was der 1. Johannesbrief so knapp zusammenfasst: »Gott ist Liebe.« (1 Joh 4,16) Es ist bereits angeklungen, dass Barmherzigkeit und Liebe untrennbar zusammengehören. Nur, wie verhalten sich dann die beiden Aussagen »Gott ist Liebe« und »Gott ist Barmherzigkeit« zueinander? Ist die Barmherzigkeit letztlich ein Ausdruck der Liebe Gottes, eine Eigenschaft des grundsätzlichen Wesens Gottes? Eine Über- und Unterordnung hier zu analysieren, hieße, das Packende, das Emotionale, das Geheimnisvolle der Barmherzigkeitsbotschaft zu sehr in den Hintergrund zu stellen. Lediglich eine kurze etymologische Bemerkung sei gestattet: Im Alten Testament wird im Kontext mit der Barmherzigkeit Gottes oft das Wort »hèsèd« verwendet, das zugleich schlicht »Liebe« bedeutet. Allein an diesem einen Wort mit seinen zwei Nuancen wird klar, dass sich beide Begriffe nicht voneinander trennen lassen. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn hat dazu in einer Katechese eindrucksvolle Worte gefunden: »Im Hintergrund steht hier der Begriff hèsèd, der gemeinsam mit dem Wort rahamim die alttestamentliche Rede von Gottes Barmherzigkeit bestimmt. Hèsèd bezeichnet ›eine tief verwurzelte Haltung von Güte‹. … Beide Worte, hèsèd und rahamim, bezeichnen Gottes Barmherzigkeit, das eine betont mehr die männlichen Charakterzüge der Treue, das andere mehr die Mutterliebe. Die göttliche Barmherzigkeit ist eine tiefe, völlige Zuwendung, die verbindlich, dauerhaft, treu und ganz personal dem gilt, dem sie sich zuwendet. Nichts wäre ihr fremder als ein vages ›Allerweltsgefühl‹ des Wohlwollens. Wem Gott seine Barmherzigkeit zuwendet, der ist als Person unverwechselbar gemeint, angesprochen, geliebt.«
Barmherzigkeit und Liebe sind demnach Ausdruck des Wesens Gottes und hängen untrennbar zusammen. Zugleich hat Kardinal Schönborn auf etwas hingewiesen, was manchmal zu kurz kommt: Barmherzigkeit ist nicht nur das Vergeben oder gar Verzeihen von Dingen, bezogen auf Gott oder den Menschen. Es geht auch nicht um etwas, was heute vielleicht als »Gutmenschentum« abgekanzelt würde, um ein interessiertes Wohlwollen, das einhergeht mit einer Spende oder anderen freundlichen Geste, die mehr des Anstands oder gar einer Mode willen getätigt wird. Barmherzigkeit bezieht sich immer auf den ganzen Menschen, auf sein ganzes Sein als Person (und damit mit all den Implikationen, die dieses Personsein mit sich bringt) in einer Form der liebenden, der letztlich radikalen Annahme. Und, das ist entscheidend: Diese liebende Annahme gilt uns, von Gott her. Sie soll aber auch dem Mitmenschen von uns her gelten. Barmherzigkeit ist keine göttliche Einbahnstraße zum Menschen. Sie ist einerseits Dialog, denn wir müssen diese Barmherzigkeit annehmen – und das ist durchaus nicht immer leicht – und zugleich beantworten. Beantworten, indem wir selbst zu »Werkzeugen der Barmherzigkeit« werden: »Lassen wir uns von der Barmherzigkeit Gottes erneuern, lassen wir zu, dass Jesus uns liebt, dass die Macht seiner Liebe auch unser Leben umwandle; und werden wir zu Werkzeugen dieser Barmherzigkeit, zu Kanälen, durch welche Gott die Erde bewässern, die ganze Schöpfung behüten sowie Gerechtigkeit und Frieden erblühen lassen kann.«
Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ist in diesem Zusammenhang immer wieder erläutert, manchmal aber auch nicht einmal mehr erläutert oder diskutiert, sondern schlichtweg polemisiert worden. Gezeichnet wurde das Bild einer Kirche, die alles vergibt und in der nichts mehr gilt. Hort der Beliebigkeit statt Ort der Heiligkeit. In der Tat ist die Frage nach dem Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit keine einfache. Franziskus widmet sich dem Thema dementsprechend ausführlich in Misericordiae vultus. Eine abschließende Klärung bietet das Dokument nicht, kann es vielleicht auch gar nicht. Der Papst definiert den biblischen Begriff der Gerechtigkeit als Beachtung des Gesetzes und als Verhalten, das dem göttlichen Gebot entspricht. Das mag nicht unbedingt manchem modernem Begriff von Gerechtigkeit entsprechen, wird aber von Franziskus als Ausgangspunkt genommen. Die Barmherzigkeit nun hebele diese Gerechtigkeit nicht aus. Sie stehe auch nicht im Gegensatz dazu, wie das manchmal dargestellt würde. Nein, aber: »Die Gerechtigkeit alleine genügt nicht und die Erfahrung lehrt uns, dass wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie sogar zu zerstören. Darum überbietet Gott die Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit und der Vergebung. Das bedeutet keinesfalls, die Gerechtigkeit unterzubewerten oder sie überflüssig zu machen. Ganz im Gegenteil. Wer einen Fehler begeht, muss die Strafe verbüßen. Aber dies ist nicht der Endpunkt, sondern der Anfang der Bekehrung, in der man dann die Zärtlichkeit der Vergebung erfährt. Gott lehnt die Gerechtigkeit nicht ab. Er stellt sie aber in einen größeren Zusammenhang und geht über sie hinaus, so dass man die Liebe erfährt, die die Grundlage der wahren Gerechtigkeit ist.« Ansonsten, so Franziskus, wäre Gott »nicht mehr Gott, sondern vielmehr wie die Menschen, die die Beachtung des Gesetzes einfordern«. Franziskus stellt hier unmissverständlich fest:...