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E-Book

Philologie zur Einführung

AutorMarcel Lepper
VerlagJunius Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783960600152
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Philologie ist ein Hochwertbegriff. Er verspricht handwerkliche Sorgfalt und profunde Kenntnis untergegangener Sprachen. Was aber macht die philologische Tätigkeit aus, aus welchen Traditionen kommt sie, welche Fragen beantwortet sie? Will die Philologie strukturelle Erkenntnisse über sprachliche Phänomene gewinnen oder beschränkt sie sich auf die kunstvolle Pflege von Texten? Und wie positionieren sich europäische Philologen zu außereuropäischen Formen der Gelehrsamkeit? Gehört die Philologie ins Museum der Praktiken des 19. Jahrhunderts? Welches radikale Potenzial birgt die Aufklärungsphilologie, wie erfindet die Philologie ihre Rolle im digitalen Zeitalter neu? Diese Einführung gibt einen umfassenden Überblick und diskutiert Ansprüche und Verfahren sowie Krisen und Konjunkturen der philologischen Disziplin.

Marcel Lepper leitet das Forschungsreferat und die Arbeitsstelle Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach und lehrt an der Abteilung für Neuere deutsche Literatur der Universität Stuttgart.

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Leseprobe

2. Traditionen


Was nun? Philologische Disziplin oder keine Disziplin? Aufschlussreich sind die internationalen Unterschiede in den Definitionen (Gumbrecht 2002; 2003, S. 9-15). Gehen deutschsprachige Nachschlagewerke rasch den Schritt vom Wort zum Text, wenn sie Philologie als die »Wissenschaft von der Erforschung von Texten« begreifen und sich auf die Philologie als Textkritik beschränken, so unterscheiden englische Definitionen zwischen »literary and linguistic scholarship« und ordnen den Terminus »philology« dem Sprachstudium zu.7

Französische Lexika verbinden beide Bedeutungen, wenn sie von der »étude d’une langue, fondée sur l’analyse critique de textes écrits« einerseits, von der »étude critique de textes, par la comparaison systématique des manuscrits ou des éditions« sprechen.8 Michael Werner (1990, S. 11-13) hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, wie stark der Philologiebegriff im französischdeutschen Grenzverkehr zu Missverständnissen führt. Italienische Nachschlagewerke entsprechen auf den ersten Blick der deutschen Definition, wenn sie die editorischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts ausführlich würdigen.9 Spanische Enzyklopädien tendieren zum französischen Vorschlag, wenn sie diachrone und synchrone Philologie des 20. Jahrhunderts im Dialog darstellen – zwischen der Sprachtheorie Ferdinand de Saussures (1857–1913) und der Arbeit an griechischen Kodizes in der Klosterbibliothek des Escorial.10

Augenfälliger lässt sich die Philologie als philologisches Problem kaum beschreiben: Wie kann es sein, dass ein spanisches Lexikon unter »filología« die »ciencia que estudia la lengua y la literatura« versteht – und unter gegenwärtigen Philologen den amerikanischen Sprachwissenschaftler Noam Chomsky (geb. 1928) anführt?11 Während in England von »philology« als einem heute nur noch selten gebrauchten Terminus die Rede ist, der im Titel einiger weniger gelehrter Zeitschriften aus dem 19. Jahrhundert überlebe: »Philology, a term now rarely used but once applied to the study of language and literature. Nowadays the term philology, where used, means the study of language—i.e. linguistics. It survives in the titles of a few learned journals that date to the 19th century.«12

Wie kann auch diese Behauptung sich als zweifelhaft erweisen, wenn man an eine Zeitschrift wie Modern Philology denkt, die gegenwärtig in einem der angesehensten amerikanischen Universitätsverlage erscheint?13 Einen Hinweis gibt die Encyclopædia Britannica, wenn sie lakonisch feststellt, »comparative philology« sei ein früher gebräuchlicher Begriff für das gewesen, was heute »comparative linguistics« heiße.

Die vergleichende Sprachwissenschaft, schon in der Vormoderne angelegt, erzielt im 19. Jahrhundert bedeutende Erfolge – in besonderer Weise beim Vergleich des Sanskrit mit europäischen Sprachen. Arbeiten französische, britische und deutsche Gelehrte miteinander, nicht selten in scharfer Konkurrenz, an Entzifferungsproblemen und grammatischen Strukturen, so verdankt sich auch das englische Philologieverständnis des 19. Jahrhunderts solchem Austausch. Max Müller (1823–1900), der in Leipzig und Berlin klassische, indische und persische Philologie studiert hat, forscht seit 1854 in Oxford und tritt dort 1868 als erster Inhaber des neuen Lehrstuhls für »Comparative Philology« hervor. Der erste Band der Proceedings of the Philological Association berichtet, wie die Berliner Professoren Franz Bopp und Jacob Grimm 1843 zu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft ernannt werden (Gneuss 1990, S. 48-49). Der Hinweis in der Encyclopædia Britannica, dass der Terminus »philology« weitgehend obsolet sei, bezieht sich also nicht auf ein vormodernes Gelehrsamkeitsverständnis, sondern auf die disziplinäre Struktur, in der sich seit dem 19. Jahrhundert der szientifische Begriff »linguistics« (OED, Bd. 1, S. 317) durchsetzt – und der »philology« ein historisches, verstaubtes Feld hinterlässt (Eto 2003, S. 137-144).

Ein britischer Literaturwissenschaftler würde kaum auf den Gedanken kommen, seine Arbeit als »philology« zu bezeichnen. Eine renommierte amerikanische Kollegin, konfrontiert mit dem Begriff »Philologie«, denkt an Götternamen in Zeugnissen der Linearschrift B, nicht an literarische Zeitgeschichte und Literaturtheorie. Umgekehrt sprechen deutsche Literaturwissenschaftler von »Philologie«, wenn sie die Grundqualifikation der textkritischen und interpretatorischen Sorgfalt meinen – und lassen die moderne Linguistik weitgehend ausgeblendet. Ein integrativer Philologiebegriff kommt aus den außereuropäischen Philologien, die sich, bei aller Gelehrsamkeitsnostalgie, großzügig von solchen Definitionsstreitigkeiten absetzen und den Blick vom atlantischen auf den pazifischen Raum lenken (Pollock 2010, S. 185-187). Berufen können sich US-Philologen auf den Romanisten Erich Auerbach (1892–1957), der in der Nazizeit in die Türkei, später in die USA emigriert. Ihm gelingt es, das amerikanische Verständnis von criticism mit dem europäischen Begriff der philologischen Kritik zusammenzubringen, wenn er eine »Philologie der Weltliteratur« (1952; 1967, S. 301-310) fordert. Die Attraktivität, die der Philologiebegriff in amerikanischen Debatten der vergangenen Jahre zurückerobert hat, übt einen erheblichen Effekt auf die neuen Konjunkturen der Philologie in Westeuropa aus (Nichols 1997, S. 10-17).

Ein selbstbewusster, liberaler Philologiebegriff, der sich nicht auf die historische Schwundstufe beschränkt, macht sich zweifellos angreifbar. Kann spätantike Grammatik genauso unter Philologie verhandelt werden wie Buchgeschichte auf dem Balkan oder Schriftentwicklung im vormodernen Japan? Liegt in der Verwendung – oder in der Verweigerung – eines weiten Philologiebegriffs ein imperialer Gestus? Ist es legitim, antike Gelehrte und Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts, französische, deutsche, indische und chinesische Experten für Sprache und Literatur gleichermaßen als Philologen zu behandeln, auch wenn das, was sie lehren, jeweils andere Namen trägt? Wie immer die philologischen Fächer in den einzelnen Ländern konturiert sind – es lohnt sich, die Partikularität eines rein sprachhistorischen, literaturhistorischen oder kulturhistorischen Philologieverständnisses zu überwinden, ebenso die Exklusivitätsansprüche der besonders alten oder der besonders großen Philologien in dieser oder jener nationalen Tradition. Wenn die Philologie makrodisziplinär etwas zusammenhält, dann nicht nur der auf sprachliche Gegenstände gerichtete Unterscheidungs- und Erschließungsanspruch, sondern das Wissen um die Historizität, Regionalität und Pluralität der philologischen Disziplinen.

2.1 Mediterrane Traditionen


Wagt Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff 1921 eine knapp gefasste Geschichte der Philologie vorzulegen, dann verbirgt sich unter dem Titel eine Geschichte der griechischen und lateinischen Philologie von der antiken Grammatik bis zur »Ausdehnung des Großbetriebes« (ebd., S. 72) im 19. Jahrhundert. Wer in Deutschland von Philologie spricht, hat häufig ausschließlich das im Blick, was sich unter der komprimierten Bezeichnung der Altphilologie zusammenfindet. Der Vergangenheitscharakter des philologischen Materials und die Dignität der beteiligten Traditionsfächer sprechen aus dem Terminus. Zugleich bleibt der Eindruck struktureller Konservativität nicht aus, wenn man ›alt‹ im Gegensatz zur Modernisierungssemantik ›neu‹ begreift – ›altväterlich‹, ›altbacken‹, ›Altlast‹? Der deutsche Altphilologenverband, gegründet 1925, tritt einem solchen Eindruck mit gegenwärtig 6000 Mitgliedern entgegen.

In den USA spricht man vom Department of Classics – womit nicht allein auf das Alter, sondern auch auf ein Werturteil, auf die Mustergültigkeit der untersuchten griechischen und lateinischen Texte verwiesen wird. Die deutsche Tradition der Klassischen Altertumswissenschaft geht über die Texte der Antike hinaus. Sie umfasst auch Archäologie, Alte Geschichte, Hilfswissenschaften wie Numismatik (Münzkunde) und Epigraphik (Inschriftenkunde). Erweist sich die idealisierte griechische und lateinische Antike als konstituierte Leistung westeuropäischer Philologen und Dichter (Güthenke 2008), so kommt die philologische Rekonstruktion der mediterranen Welt aus Traditionen, die sie in ihrem Gegenstand eingeschlossen findet. Der römische Staatsbeamte Marcus Terentius Varro (116-27 v. Chr.) befasst sich mit der Herkunft der lateinischen Sprache und mit dem Aufbau von Bibliotheken (DNP, Bd. 12/1, Sp. 1134). Alexandrinische Gelehrsamkeit steht sprichwörtlich für stupendes Wissen, zugleich schon für dessen Grenzen der Integrierbarkeit (Wegmann 2000, S. 322-331). Der Begriff bezieht sich auf die ägpytische Metropole Alexandria, in deren Bibliotheken in...

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