Respekt vor dem Menschen
21. Januar 2007
3. Sonntag nach Epiphanias
Johannes 4,5-14
Wie kann ich das empfangen, was Jesus Christus zu geben hat? Muss ich dazu, so war vor 2000 Jahren die Frage, als die Kirche noch im Werden war, muss ich dazu Jude sein wie Jesus selbst? Oder, wenn ich keiner bin, muss ich erst einmal Jude werden und all die religiösen Vorschriften der Juden beachten?
Oder – auf heute bezogen: Muss ich, wie manche meinen und manche von den heute Interessierten verlangen, Mitglied der Kirche sein oder werden, in den Gottesdienst gehen, das tägliche Tischgebet sprechen und andere religiöse Formen beachten, um Christ sein zu können?
Wie kann ich das empfangen, was Jesus Christus zu geben hat?
Die Geschichte in unserem Predigttext schildert eine Frau von damals, die keine Jüdin war und folglich auch die jüdischen religiösen Vorschriften nicht beachtete. Die Frau war eine Samariterin. Sie gehörte einer Volksgruppe an, die von den Juden als Heiden, mindestens als halbe Heiden, betrachtet wurde.
Jesus bietet ihr an, was er zu geben hat - voraussetzungslos, bedingungslos. Sie braucht nichts Anderes zu tun, als ihn zu bitten. Er gibt es ihr.
Er bietet ihr Wasser an.
Wasser ist in dieser Geschichte das anschauliche Bild für das, was Jesus zu geben hat. Sein Wasser ist anders als das Wasser aus dem Brunnen, um das er die Frau bittet: „Gib mir zu trinken!“ Das Wasser aus dem Brunnen stillt den Durst nur für kurze Zeit. Das Wasser, das Jesus anzubieten hat, stillt den Durst ein für alle Mal.
Was für Wasser ist das? Wofür ist das Wasser Jesu ein Bild?
Es geht um das Leben. Ohne Wasser kein Leben. Unser Leib kommt nur wenige Tage ohne Wasser aus. Nach wenigen Tagen ohne Wasser verdursten wir.
Jesus meint aber nicht das leibliche Leben, das Funktionieren des Körpers. Er spricht vom ewigen Leben, von dem Leben, das nicht an die Verfallszeit des Leibes gebunden ist. Er meint das Leben im Sinne einer Qualität. So, wie wir manchmal sagen: „Das ist doch kein Leben!“, wenn es uns irgendwie schlecht geht und die Erwartungen nicht erfüllt sind, die wir mit dem Leben im Sinne einer gewissen Qualität verbinden.
Mit dem Wasser bietet Jesus der Samariterin zeichenhaft Lebensqualität an. Wir können uns jetzt fragen: „Worin besteht die Lebensqualität, die er zu geben hat?“
Der kleinen Geschichte, die ich vorgelesen habe, können wir ganz konkret drei Merkmale entnehmen, die die Lebensqualität ausmachen. Sie lassen sich zusammenfassen mit den Worten: Anerkennung der menschlichen Würde – in dreifacher Weise: Jesus respektiert die Frau, er respektiert die Nichtjüdin und er respektiert die Sünderin.
Er respektiert die Frau. Das würden wir aus dieser Geschichte vielleicht nicht so ohne Weiteres herauslesen. Aber in der damaligen patriarchalischen Gesellschaft, in der die Frau eine untergeordnete Rolle spielte - auch in religiöser Hinsicht - war es sehr bemerkenswert, dass Jesus sich hier gerade einer Frau religiös offenbart.
Er respektiert die Frau und er respektiert die Nichtjüdin. Darüber ist sie selbst sehr erstaunt: „Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau?“ Denn, so fügt der Text hinzu, die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern.
Und Jesus respektiert die „Sünderin“. „Sünderin“ sage ich jetzt mit Anführungszeichen. Im weiteren Verlauf unserer Geschichte stellt sich heraus, dass die Frau fünf Männer gehabt hat. Jesus weiß das. Er sagt: „Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“ Sie pflegt eine nichteheliche Beziehung. Das war zur Zeit Jesu verwerflich, wie natürlich auch zu manch anderen Zeiten andernorts.
Also noch einmal: Jesus wendet sich in dieser Geschichte ganz menschlich direkt einer Person zu, der er sich als jüdischer Mann in dieser Weise eigentlich nicht hätte zuwenden dürfen, weil diese Person aus der Perspektive der religiösen Vorstellungen, in denen Jesus groß geworden war, mit einem dreifachen Makel behaftet ist: Sie ist eine Frau, sie ist eine Nichtjüdin, sie lebt in einer verwerflichen Beziehung.
Jesus setzt sich über alle Vorbehalte hinweg. Er begegnet der Samariterin vorbehaltlos und respektiert sie damit als Mensch in der Art, wie sie ist.
Wenn wir uns jetzt noch einmal fragen: Wofür ist das Wasser ein Zeichen? Was hat Jesus zu geben?, dann können wir jetzt antworten: Er bietet Lebensqualität an in Form menschlicher Anerkennung - und zwar voraussetzungslos. Er akzeptiert den Menschen als Geschöpf Gottes unabhängig von den religiösen und kulturellen Unterschiedlichkeiten und Schranken und unabhängig von der moralischen Einstufung des Menschen.
Was das Letzte anbetrifft, so bedeutet dies natürlich nicht, dass Jesus Rechtsbruch und Schuld nicht ernst nehmen würde. Aber er würde sich auch noch einem Schwerverbrecher menschlich zuwenden und ihm als Geschöpf Gottes mit Respekt begegnen. Diese Grundhaltung ist auch in unsere Rechtsordnung eingeflossen.
Es gibt Untaten, die sind als solche offensichtlich und nicht wegzudiskutieren. Es gibt aber auch Unrecht, das kulturell und zeitbedingt als solches, als Unrecht, betrachtet wird. Vielleicht erinnern Sie sich noch z. B. an den Kuppelparagraphen, der diejenigen bestrafte, die ihre Wohnung einem nichtverheirateten Paar zur Verfügung stellten. Dieser Paragraph ist 1969 abgeschafft worden.
In einem gewissen Umfang sind rechtliche Regelungen und gesellschaftliche Normen mit ihrer Definition von Unrecht sehr zeitbedingt. Im Nachherein stellen sich manchmal eher die Regeln und Normen selbst als Unrecht dar. Denken wir z. B. an die Stellung des unehelichen Kindes. Wie schlecht waren noch vor wenigen Jahrzehnten unehelich geborene Kinder und deren Mütter angesehen! Im Nachherein möchte man sich des ihnen angetanen Unrechts schämen.
Wieviel Unrecht ist auch in unserer Gesellschaft den Frauen angetan worden - durch diskriminierende Regelungen und Gesetze zum Beispiel! Auf diesem Gebiet ist auch jetzt noch, auch in unserem Land, Handlungsbedarf. Es gibt z. B. immer noch etliche Beispiele dafür, wie Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden als Männer.
Was nun das Miteinander von Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Herkunft anbetrifft, so ließen sich auch diesbezüglich etliche Bespiele für die zahlreichen Probleme nennen.
Für Jesus kommt es in unserer kleinen biblischen Geschichte nur auf eines an: Vor ihm steht ein Mensch. Und diesem Menschen begegnet er menschlich, nämlich in der Mensch gewordenen Gestalt desjenigen, der diesen Menschen vor ihm geschaffen hat.
Gott, der Schöpfer, steht vor der Frau. Er steht vor ihr in der Gestalt Jesus Christus und sagt zu ihr: „Ich habe dich geschaffen, als Frau. Du wirst von den Männern gering geachtet. Aber du bist ein wunderbares Geschöpf. Du bist aus Samarien. Von den Juden wirst du gering geachtet. Aber ich achte dich. Du lebst in einer unehelichen Beziehung. Von der Gesellschaft wirst du verurteilt. Aber ich stehe zu dir.
„Ich weiß“, so sagt er weiter, „dass dich all diese Geringschätzung belastet. Aber ich sage dir. Du bist und bleibst mein geliebtes Geschöpf - als Frau und als Samariterin, und auch dann noch, wenn du dich schuldig gemacht hast.
Wenn du meinen Beistand willst, dann sag es mir. Du wirst dann merken: Mein Angebot wird dir helfen und dich frei machen von dem, was dich bedrückt.“
Das hat Jesus in dieser kleinen Geschichte nicht wirklich gesagt, aber das hat er gemeint, als er ihr anbot, ihn um das Wasser des wahren Lebens zu bitten.
Jesus Christus macht uns allen im Namen Gottes ein sehr existentielles Angebot - jenseits von Gesetz und Recht und allen gesellschaftlichen Konventionen. Es geht ihm um unser Menschsein, um unser Sein als Geschöpfe Gottes. Als solchen spricht er uns die Annahme und Liebe Gottes zu.
Alles Weitere ist nachrangig, nicht bedeutungslos, aber nachrangig. Die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche, der Gottesdienstbesuch, die Bibellese, das Gebet - das alles hat seinen Sinn, seine Bedeutung und kann sehr hilfreich sein.
Aber das Erste und Wichtigste ist: Wir sind voraussetzungslos angenommen, wie diese Frau aus Samarien.
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: „Wie kann ich das empfangen, was Jesus Christus zu geben hat?“ Antwort: „Ich brauche ihn nur darum zu bitten.“
Um ihn bitten zu können, müssen wir allerdings wissen, zumindest eine Ahnung davon haben, was er uns Hilfreiches anzubieten hat. Von daher ist es mindestens nützlich und hilfreich, sich auf die biblischen und kirchlichen Überlieferungen einzulassen, mal in der Bibel zu lesen, sich mal eine Predigt anzuhören, sich etwas in einem Gesprächskreis erzählen zu lassen und sich auf diejenigen einzulassen, die etwas von ihm vermitteln können.
Das sind alles nützliche Maßnahmen, um überhaupt dahin zu kommen, etwas von dem empfangen zu wollen, was Jesus Christus uns anzubieten hat. Er selbst macht uns keine Auflagen.
Er bietet uns - voraussetzungslos und bedingungslos - das...