Harald Stadler/Karl C. Berger
Zum Projekt „Kosaken in Osttirol“
Für jede(n) gebürtige(n) Osttiroler/in führt bei ernsthafter Beschäftigung mit der jüngeren Geschichte der Region kaum ein Weg an dem Kapitel der so genannten „Tragödie an der Drau“ vorbei. Vielen ist der versteckt gelegene, kleine „Kosakenfriedhof“ ein Begriff, den man bei einem Spaziergang flussabwärts vorfinden kann. Die Bezeichnung „Kosaken“ mag dabei in manchen Ohren immer noch fremdartig, mystisch, von weit her und geheimnisvoll klingen.
Trotzdem oder gerade deshalb dauerte es eine geraume Weile, bis die wissenschaftliche Beschäftigung dieser unaufgearbeiteten Facette menschlichen Leids des Jahres 1945 auf annähernd tragfähige Beine gestellt werden konnte. Die Begeisterung bei den öffentlichen Stellen hielt sich anfangs in Grenzen. Zwar hatte man allfällige Aktivitäten grundsätzlich positiv bewertet; von selbst aber wurde keine Initiative gestartet. Die Idee zu einem Ausstellungsprojekt fällt in das Jahr 2002. Dem Aufruf von Harald Stadler folgte eine kleine Gruppe Interessierter im Garten des Gasthofes Fischwirt in Lienz, um erste Überlegungen zu einem Projekt anzustellen. Was damals noch kein Beteiligter wusste: Man konferierte im ehemaligen Hauptquartier des Kosaken-Korps-Generals Timofei Domanow über eine mögliche Auseinandersetzung mit diesem Thema. Das Ansinnen fand bei der damaligen Kulturreferentin der Stadt Lienz offene Ohren und bestärkte in der Absicht, im Jahr 2005 eine Ausstellung zu planen. Ursprünglich sollte die Präsentation in der räumlich großzügigen Remise der alten Südbahn am Hauptbahnhof mit direkter Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz stattfinden. Der dort einquartierte „Verein der Eisenbahnfreunde“ zeigte sich von der Idee und ihren möglichen Synergieeffekten begeistert. Noch dazu wären zeitgenössische Waggons und Zugmaschinen im Original vorhanden und hätten in die Schau integriert werden können. Der damalige Gemeinderat konnte sich aber für das von Harald Stadler ausgearbeitete Projekt ob der hohen Kosten nicht erwärmen. Dasselbe Schicksal ereilte eine interdisziplinäre Tagung unter Einbeziehung namhafter Wissenschaftler zum Thema der Kosakentragödie in Lienz.
Der Gedanke an die gesellschaftliche Notwendigkeit, das belastete und brisante Thema für eine breite Öffentlichkeit anhand von objektiven Kriterien aufzuarbeiten, bohrte indes unaufhörlich weiter. Als Einmanndenkwerkstatt arbeitend suchte Harald Stadler nach einer intelligenten Lösung, die zwar deutliche Abstriche in finanzieller Hinsicht erlaubte, jedoch das wissenschaftliche Niveau konstant hoch hielt. Durch die Gewinnung von Karl C. Berger vom Innsbrucker Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde gelang es, dem tot geglaubten Projekt neues Leben einzuhauchen. Gemeinsam verfolgten sie die Idee, die Ereignisse nicht nur aus der Sichtweise ihrer jeweiligen Fachrichtungen zu untersuchen, sondern durch intensives Zusammenarbeiten ein interdisziplinäres Studienprojekt zu formen. Lehrveranstaltungen, die an den Instituten für Ur- u. Frühgeschichte sowie Mittelalter- und Neuzeitarchäologie bzw. Europäische Ethnologie/Volkskunde zum Thema angeboten wurden, mündeten im November 2003 in einen ersten Feldforschungsaufenthalt. Aus Effizienzgründen durfte nur eine ausgewählte Anzahl höher semestriger Studentinnen und Studenten am Projekt teilnehmen. Die „Inform-Akademie Osttirol“ stellte Räumlichkeiten in der Tammerburg, einem renaissancezeitlichen Bau des 16. Jahrhunderts, zur Verfügung. Auch hier verfügte man über eine direkte Verbindung zu den Geschehnissen, da in der Nähe des Gebäudes („Tammerburger Waldele“) Kosakenfamilien gelagert hatten. Der Ansitz diente für insgesamt drei Forschungsaufenthalte zu jeweils einer Woche als zeitweilige Außenstelle der Universität Innsbruck. Exkursionen an die historischen Schauplätze sollten die Studierenden auf die wissenschaftliche Arbeit vorbereiten. Dieses praxisbetonte „forschende Lernen“ ermöglichte die Vertiefung in archäologischer und empirischer Methodik. Gleichzeitig konnten dadurch zahlreiche Objekte der Kosaken aufgespürt und dokumentiert sowie erstmals Zeitzeugen auf ihre Erinnerungen hin befragt werden.
Auch wenn die Geschehnisse bereits 60 Jahre zurückliegen, war ein behutsames Vorgehen notwendig. In der ersten Phase des Projektes verzichtete man deshalb bewusst auf die qualitative Befragung überlebender Kosaken und konzentrierte sich auf deren unterschiedliche Wahrnehmung in der Osttiroler Bevölkerung sowie auf die Geschichte der recherchierten Objekte. Durch das im Jahr 2001 von der Theaterwerkstatt Dölsach uraufgeführte, von Ekkehard Schönwiese verfasste Theaterstück „Lauf, Katinka, lauf!“ waren viele Personen bereits für das Thema sensibilisiert worden. Als weiterer Vorteil erwies es sich, dass beide Lehrkräfte Stadler und Berger gebürtige Osttiroler sind, dadurch mit den Örtlichkeiten vertraut waren und bei der Bevölkerung von vornherein einen gewissen Vertrauensbonus genossen.
Im Rahmen der Lehrveranstaltung wurden gemeinsam mit den Studierenden auch wichtige Stationen der wechselhaften Geschichte der Kosaken recherchiert, die weit über die Ereignisse von Lienz bis in das ausgehende Mittelalter zurück reichen: Kosaken waren keine Leibeigenen, sondern freie Wehrbauern. Deshalb schlossen sich bald auch abhängige russische Bauern deren Gemeinschaften an Don, Ural, Terek oder Dnjepr an. Bei der Sicherung der russischen Grenzen bzw. der Besiedelung eroberter Gebiete leisteten Kosaken dem Zaren unverzichtbare Dienste. Die kosakische Gesellschaftsordnung war streng militärisch organisiert. Die Führung und Verwaltung des Heeres lag in den Händen eines „Atamans“ („Anführers“), der von der allgemeinen Kosakenversammlung gewählt wurde, aber jederzeit seines Amtes enthoben werden konnte. Standen die Kosaken anfangs oft in Opposition zur zaristischen Zentralmacht, anerkannten sie im Laufe des 17. Jahrhunderts die Staatsregierung. Als gefürchtete Reiterkrieger im Dienste des Zaren wurden sie fortan vermehrt auch außerhalb der immer weiter nach Süden verschobenen Grenze oder als Söldner eingesetzt. So leisteten sieben von Papst Innozenz XI. angeworbene Kosakeneinheiten innerhalb des Entsatzheeres einen wichtigen Beitrag zur Befreiung Wiens im Jahr 1683. Als Teil der russischen Armee waren die Reiterheere bei allen wichtigen Kriegszügen des Zaren beteiligt. Im Zweiten Weltkrieg schlugen sich Kosakenheere auf die Seite Deutschlands und kämpften unter General Helmuth von Pannwitz mit der Wehrmacht gegen Stalin und die Rote Armee der Sowjetunion. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands bedrohte sie mit dem Tod oder zumindest der Verbannung nach Sibirien. Deshalb flohen sie von Italien in Richtung Österreich. In der Gegend um Lienz wähnte man sich unter der Kontrolle britischer Truppen in Sicherheit. Ende Mai/Anfang Juni 1945 jedoch wurden, nachdem man die Führungsoffiziere verhaftet hatte, alle Kosaken interniert, an die Sowjetunion ausgeliefert und damit gleichsam in den Tod geschickt.
Möglicherweise wirft die hier nur fragmentarisch angedeutete Geschichte der Kosaken die Frage auf, weshalb sich nicht ausschließlich die Zeitgeschichte (vgl. Beiträge von Martin Kofler in diesem Band) mit den Ereignissen von Mai 1945 beschäftigt habe und warum gerade diese Disziplin in die frühe Projektphase nur teilweise mit eingebunden gewesen sei. Dafür waren mehrere Gründe ausschlaggebend: Die Ereignisse rufen noch heute große Emotionen bei allen Beteiligten hervor. Um sich diesem schwierigen Thema dennoch in einer neutralen Weise nähern zu können, versuchte das Team durch die Dokumentation von Realien und persönlichen Erlebnissen einen ersten Zugang zu schaffen. Vor allem der interdisziplinäre Ansatz erschien in dieser Hinsicht vielversprechend: 25.000 Männer, Frauen und Kinder mit ihren Reit-, Last- und Haustieren kommen für kurze Zeit in ein Gebiet und lassen sich in festen und weichen Quartieren nieder. Dabei stellen sich aus heutiger Sicht mehrere Fragen: Was bleibt neben Bilddokumenten, Zeitungsberichten etc. an materiellen Objekten im Gebiet? Welche Gegenstände überdauerten in Dachböden oder was gelangte aus Zufall oder bewusster Absicht in die Erde, ins Wasser oder in den Gletscher. Welche Gegenstände wurden/werden von der einheimischen Bevölkerung weiterverwendet oder umgenutzt? – Durch diese und ähnliche Fragen wird klar, dass das Thema für mehrere Wissenschaftsdisziplinen lohnend sein kann. Archäologische Wissenschaften haben die Fähigkeit, (Boden-)Funde, auch wenn sie weniger weit in die Vergangenheit zurückreichen, als Dokumente zu erschließen und kulturgeschichtliche Fundstätten mit ihrem ganzen Apparat der historischen Erkenntnis zu öffnen. Dazu wurden Lagerplätze, Verstecke nach der Deportation oder Gräber außerhalb des Kosakenfriedhofs lokalisiert und kartografisch als Funderwartungsgebiete der Zukunft erfasst.
Vordergründiges Ziel war es vorerst also nicht, die politische und militärische Geschichte zu recherchieren, sondern den Alltag der Kosaken in den Lagern nachzuzeichnen, den Kulturaustausch und Kulturtransfer mit den Einheimischen darzulegen sowie Erinnerungen aus archäologischer und...