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E-Book

Berufseinstieg mit Hauptschulabschluss?

Gender und Migration als Hindernisse und Ressourcen.

AutorTanja Schmidt
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783741207051
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die empirische Studie beleuchtet den Prozess beruflicher Entscheidungsfindung von Hauptschulabsolventinnen der SchuB-Maßnahme. Bei der Berufswahl wirken neben dem niedrigen Bildungszertifikat die Aspekte von Gender und Ethnizität kumulativ. Trotz dieser schlechterer Perspektiven widerlegen die jungen Frauen Zerrbilder von trägen Hauptschülern oder der von der Familie bevormundeten Migrantin mit Kopftuch. Mit der Analyse der Fallbeispiele werden die Lernausgangslagen der Schülerinnen und die daraus resultierenden Herausforderungen für die Pädagogen deutlich. Die Forderung aus der Studie ist ein Stipendium für Hauptschülerinnen.

Sozialpädagogin und Soziologin, mehrjährige Berufserfahrung in der Jugendberufshilfe und im Coaching für Klienten nach SGB II sowie in der Rehabilitation psychisch kranker Menschen.

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Leseprobe

2. Berufliche Perspektiven von Hauptschülerinnen und –schülern im Wandel: Befunde und Analysen

In meiner Arbeit befasse ich mich mit den beruflichen Perspektiven von Hauptschülerinnen. Dabei setze ich mich insbesondere mit der Frage auseinander, was in der heutigen Wissensgesellschaft der Erwerb des Hauptschulabschlusses für die Absolventinnen der SchuB-Maßnahme beim Einstieg in Ausbildung und Arbeit bedeutet. Welches Wissen wird heute benötigt, um ein selbstbestimmtes Leben in modernen Bildungsökonomien zu führen? Daher ist es notwendig, sich zunächst mit dem Begriff Bildung auseinanderzusetzen. Dies werde ich über drei verschiedene Zugänge tun: Zuerst stelle ich in einem knappen historischen Abriss die für Deutschland sehr markante bildungstheoretische Kontroverse dar, die sich als Streit um einen allgemeinen Bildungsbegriff zeigt, der für alle Menschen Gültigkeit beansprucht und somit ein universelles Bildungsverständnis postuliert und Bildung als allgemeines Menschenrecht versteht – diese Position werde ich mit Bezugnahme auf Humboldt und Koller skizzieren.

In einem empirischen Zugang fasse ich zweitens aktuelle Ergebnisse von Schulleistungsstudien zusammen. Denn die Ergebnisse der älteren PISA1-Studien haben zu einer Reflexion über die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems geführt: Ist es in der Lage, soziale Mobilität zu ermöglichen? In diesem Abschnitt werde ich die empirischen Zusammenhänge von Bildung, Schule, Beruf und Benachteiligung erörtern, um daraus Risiken für junge Menschen zu identifizieren, in Erwerbsarbeit einzumünden. Wichtig ist auch zu erläutern, dass sich die beruflichen Chancen für Personen mit Hauptschulabschluss in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben, und so ist der Status der Hauptschülerin häufig von Benachteiligung und Exklusion vom Arbeitsmarkt gekennzeichnet. Zudem sind durch die Bildungsexpansion die Anforderungen an die Lernleistungen der Individuen gestiegen. Die beruflichen Chancen und Perspektiven von Hauptschülerinnen sind geringer, weil das Bildungszertifikat des Hauptschulabschlusses durch die Bildungsexpansion seine Wertigkeit verloren hat.

Mein dritter Zugang, ebenfalls ein empirischer, diskutiert die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt mit der Frage, was dies für die Berufsbildung junger Menschen bedeutet. Der Zugang zu beruflichen Positionen wird über Bildungszertifikate vermittelt, die im Schulsystem erworben werden. Ein fehlender Schulabschluss steigert das Risiko prekärer Erwerbs- und Lebensverläufe. Für die meisten Berufsbilder im dualen System wird der Hauptschulabschluss als Mindestanforderung vorausgesetzt, im System der schulischen Ausbildungsgänge ist diese Qualifikation oftmals zu gering. Was ist also mit dem Hauptschulabschluss möglich?

Das Lernen gerade unter prekären Bedingungen zu ermöglichen erkennt der Erziehungswissenschaftler Joachim Schroeder als eine wichtige Aufgabe von Bildung an. Vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die sich durch Vielfalt auszeichnet, sind die Bedingungen zu analysieren, unter denen Bildungsprozesse stattfinden. Bildung heute hat daher nicht nur die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu fördern, sondern ebenso deren unterschiedliche Ausgangspositionen zu berücksichtigen. Noch erscheint das Bildungssystem für besondere Lebenslagen allerdings nicht ausreichend gerüstet. In der vorliegenden Studie wird daher das Lebensumfeld von Hauptschülerinnen beleuchtet.

2.1 Vom Humboldt’schen Bildungsideal zum Bildungsprojekt der Moderne

Einen Konsens herzustellen über das, was in den Schulen gelehrt werden soll und im späteren Leben benötigt wird, stellt für Pädagogen eine Herausforderung dar. Sie befinden sich in einem ständigen Diskurs über Bildungsziele und der Reflexion eigener pädagogischer Tätigkeit. Welche Kompetenzen kann Schule überhaupt vermitteln? Ob schulisches Wissen eher theoretisch fundiert oder anwendungsorientiert sein soll, dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Seit der Antike existieren normative Vorstellungen darüber, was Menschen als Bildungsideale anstreben sollten.

„Allgemeine und zeitlose Gehalte eines Verständnisses von Bildung lassen sich seit Platons Höhlengleichnis2 […] als Zugang zu Erkenntnis und Teilhabe an Wahrheit bestimmen.“ (Schwarz 2004: 81).

Der Erziehungswissenschaftler Bernd Schwarz verweist darauf, dass Bildungsprozesse immer in einem einmaligen historischen, kulturellen und gesellschaftlichem Rahmen stattfinden, und die pädagogische Leistung gerade in der Vermittlung von Bildungsidealen in einer einmaligen historischen Situation besteht (ebd.). Bildung ist der „[…] Versuch einer allgemeinen und zeitlos gültigen Bestimmung des Seins des Menschen.“ (Schwarz 2004: 81). Der Bildungsauftrag befindet sich somit in einem Spannungsfeld idealtypischer Konstruktionen, wie und was gelehrt werden soll, und muss an eine dynamische Welt angepasst werden, die einem ständigen Wandel der Lebensformen und –orientierungen ihrer Mitglieder unterliegt. In der Vergangenheit war Bildung allerdings den oberen sozialen Schichten vorbehalten (vgl. Schwarz 2004: 81).

Dass Bildung für alle selbstverständlich sein soll, ist immer noch ein revolutionärer Gedanke wie der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer in seinem Beitrag zur Geschichte des Bildungsbegriffes nachweist:

„[…] weil ein Programm, das eine Grundbildung für alle Menschen reklamiert, alles andere denn eine Selbstverständlichkeit ist.“ (Lauer 2007: 59).

Was in den Bildungskanon aufgenommen werden sollte, wurde über Jahrhunderte von der katholischen Kirche bestimmt. Als Vertreterin des Christentums wählte sie die Inhalte aus dem antiken Erbe des römischen Reiches aus, die mit ihrer Lehre zu verbinden waren. Obwohl es eigentlich „sich ausschließende Kulturen“ (Lauer 2007: 61) waren, wurden sie in einem jahrhundertelangen Prozess miteinander verknüpft, durch den eine europäische Bildungstradition mit einem dualistischen Wissenschaftsverständnis von Theorie und Praxis entstand. Vermittelt wurde dieses Wissen in Lateinschulen und Universitäten (vgl. Lauer 2007: 62). Zu einer Wissensvermittlung für breite Volksschichten kam es durch die Reformation (vgl. Lauer 2007: 63).

Auch der Neuhumanist Wilhelm von Humboldt (1767–1835) unternahm den Versuch einer Definition des Bildungsbegriffes. Der Erziehungswissenschaftler Hans-Christoph Koller hat eine kritische Reflexion dieses Begriffes vorgenommen, ob er den gesellschaftlichen Anforderungen heute noch genügen kann. In seiner Schrift „Ideen von einem Versuch, die Gränzen [sic.] des der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792 definierte der Neuhumanist Wilhelm von Humboldt (1767–1835):

„Der wahre Zwek [sic.] des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“ (I, 64)3.

Nicht die Verwertbarkeit des Wissens in Form von Zeugnissen oder Zertifikaten meinte Humboldt, sondern Ziel der Bildung war für ihn die Beschäftigung mit Lerninhalten und der Lernprozess selbst. Bildung erhält somit einen eigenen Wert. Dieses Bildungsideal von persönlicher Freiheit kann auch heute als Richtlinie für die pädagogische Praxis dienen. Mit der Aufklärung trat das Leitbild der Vernunft damit an die Stelle der Religion. Die praktische Verwertbarkeit von Wissen hatte Vorrang. Einer solchen zweckorientierten Auffassung stellten die Neuhumanisten, zu denen auch Humboldt zählt, ihr Bildungsideal mit der Forderung „Bildung um der Bildung willen“ gegenüber:

„Was zunächst wie eine Tautologie scheint, ist bei näherem Hinsehen ein ästhetisch verstandenes erhabenes Ideal.“ (Lauer 2007: 66).

Lauer verweist auf die Bedeutung von Zweckfreiheit gerade in der Grundlagenforschung auf damit verbundene Entdeckungen wie die Quantenmechanik oder das Internet:

„Modern ist ein Wissen dann, wenn es als Selbstwert in einer Gesellschaft hergestellt wird, die selbst noch nicht weiß, was dieses Wissen für sie bedeutet. Es ist zweckfrei ganz einfach deshalb, weil es nur dann modern ist, wenn es um seiner selbst willen entwickelt, entdeckt und hergestellt wird.“ (Lauer 2007: 75).

Auch Koller interpretiert Humboldts Verständnis von Bildung als ein umfassendes Ziel von Menschenbildung:

„[…] und nicht um die Ausbildung oder Zurichtung des Einzelnen für spezifische gesellschaftliche Erfordernisse.“ (Koller 1999: 51).

Die Ausbildung der persönlichen Talente ist eben nicht „Selbstzweck“, sondern verdeutlicht „was den Menschen als solchen ausmacht“ (Koller 1999: 52). Zur Aneignung von Bildung ist die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt notwendig. Bildung ist „[…] das Sammeln und Verarbeiten von ‚Stoff‘, den die Welt dem Menschen liefert.“ (Koller 1999: 54). Bildungsprozesse sind als Diskurse zwischen Mensch und Umwelt zu verstehen (vgl. Koller 1999: 57). Bildung bedeutet die Entfaltung von Möglichkeiten durch die konstruktive Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt. Humboldt beschreibt keine einseitige Welt, sondern eine Wirklichkeit der Vielfalt von Menschen, ihren Lebenssituationen...

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