Die folgenden Untersuchungen des Märchens hinsichtlich seiner Bedeutung und Beziehung zur Psychotherapie sowie seiner Funktionalisierung als therapeutisches Hilfsmittel setzen einige literaturwissenschaftliche Gedanken über seinen Inhalt, seine Form und Herkunft voraus. Fungiert insbesondere die Struktur- und Stilanalyse als fundamentales ‘Handwerkszeug’ des Märchentherapeuten, so sind insbesondere, um auch im anschließenden Kapitel die Berührungspunkte des Märchens mit der Psyche und der Bewußtseinsentwicklung der kindlichen Patienten analysieren zu können, Erkundungen über die Wesensmerkmale sowie über das tiefenspychologische Verständnis dieser Gattung einzuholen, wobei der Schwerpunkt dieses Essays auf den für den therapeutischen Nutzen wesentlichen Aspekten liegt.
Das Wort ‘Märchen’ stammt aus dem Mittelhochdeutschen und stellt eine Verkleinerungsform zu dem Wort ‘die Märe’ (mhd.: diu mœre)[12] dar, dessen ursprünglicher Sinn ‘Kunde’ oder ‘Nachricht‘ bedeutete. Aufgrund der Verkleinerung erfuhr dieses Diminutivum eine Bedeutungsverschlechterung und wurde zur Bezeichnung von unwahren und erfundenen Geschichten (lügenmaere, tandmaere, u.a.)[13] gebraucht. Im Mittelalter setzte sich dann infolge der Exponierung des Widerspruchs zur Wirklichkeitserfahrung die allgemein geläufige Bedeutung ‘Erzählung’ für jene Versformen durch. Die im oberdeutschen Sprachraum überwiegende Form ‘Märlein’ wurde dann seit dem 18. Jhd. allmählich durch das ‘Märchen’ abgelöst.[14] Zur gleichen Zeit setzte auch die von JOHANN GOTTFRIED HERDER (*1744 †1803) sowie anderen Trägern des ‘Sturm und Drang’ angezettelte Gegenbewegung ein, die nun in der Volksdichtung eine „Quelle der wahren Poesie“[15] entdeckte; die französischen Feenmärchen und die Geschichten aus ‘Tausenundeiner Nacht’ machten diese Gattung ebenso berühmt. Im 19. Jhd. hielt die steigende Popularität insbesondere durch die Sammlung der GEBRÜDER GRIMM[16], JACOB LUDWIG KARL (*1785 †1863) und WILHELM (*1786 †1859), sowie LUDWIG BECHSTEINs (*1801 †1860)[17] weiterhin an. Durch die weltweite Verbreitung der GRIMMschen Märchen erfolgte ihre Etablierung zur Kennzeichnung der Erzählgattung ‘Volksmärchen’ und dann später ‘Kunstmärchen’. Eine der bekanntesten Märchendefinitionen, die des Literaturwissenschaftlers ANDRÉ JOLLES, prägt den Begriff ‘Gattung GRIMM:
Ein Märchen ist eine Erzählung oder eine Geschichte in der Art, wie sie die Gebrüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen zusammengestellt haben. (...) Man pflegt ein literarisches Gebilde dann als Märchen anzuerkennen, wenn es -allgemein ausgedrückt- mehr oder weniger übereinstimmt mit dem, was in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen zu finden ist.[18]
Somit verstehen wir unter ‘Märchen’ im wissenschaftlichen Sinne seit HERDER und den GEBRÜDERn GRIMM eine der Unterhaltung dienende, mit dichterischer Phantasie entworfene und „eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte“[19] phantastischer Begebenheiten.
Als Volksdichtung steht das Märchen auf Grund seines starken Stilwillens neben Sage, Legende, Mythus, Fabel, Parabel, Schwank und Anekdote. Sind in anderen Kulturkreisen diese Erzählungen meist dichter miteinander verwoben, so bilden die ‘eigentlichen Märchen’ eine selbständige Kategorie. Ihre Untergattungen zeigen ein breitgefächertes Spektrum, das von Mythen-, Tier-, Zauber- bis Schwank- und Novellenmärchen reicht.[20]
Märchen gibt es quer durch alle Kulturen hindurch; so beeinflußten sich die Geschichten der alten Ägypter, Juden, Griechen, Römer, Inder und Araber und prägten auch die europäischen Märchen. Eindeutige Befunde über die Existenz von Märchen in vorgeschichtlicher Zeit liegen allerdings nicht vor, so daß sich die Herkunft des Märchens im Dunkeln der Vorgeschichte verliert. Finden sich schon in der altgriechischen sowie römischen Literatur Spuren von Märchen und wird auch häufig Indien als ihr Ursprungsland und Ausgangspunkt ihrer mündlichen Überlieferung angesehen[21], so verlegt ALBERT WESSELSKI[22] die Entstehung der Märchengattung in das Spätmittelalter.
Mit Beginn der Neuzeit lassen sich die Quellen glücklicherweise eindeutiger erschließen. Brachte im 16. Jhd der Neapolitaner GIAMBATTISTA BASILE (*1575 †1632)[23] mit seiner publizierten Sammlung von fünfzig Volksmärchen, dem ‘Pentamerone’, die schriftliche Aufzeichnung und Verbreitung der Märchen ‘in Gang’, so machte sich im 17. Jhd. dieser Einfluß des italienischen Barocks auch auf das deutsche Märchen bemerkbar. In Frankreich veröffentlichte 1696/97 CHARLES PERRAULT (*1628 †1703)[24] acht Erzählungen.
Erschien im 18. Jhd. zwar eine ganze Flut von gedichteten Feenmärchen und orientalischen Märchen, so verhalfen nach der Aufklärung vor allem JOHANN KARL AUGUST MUSÄUS (*1735 †1787)[25] und auch JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (*1749 †1832)[26] dem Märchen wieder zu Ansehen.
Angeregt durch die Sammeltätigkeiten von CLEMENS BRENTANO (*1778 †1842)[27] und ACHIM VON ARNIM (*1781 †1831)[28], widmeten sich seit 1807 dann die Brüder GRIMM der systematischen Erfassung von Märchen. Zum erstenmal erschienen 1812 ihre ‘Kinder- und Hausmärchen’[29], die auch in ihrer Wirkung in den Folgejahren alle anderen Registrierungen deutscher Märchen überragten. Dachten die GEBRÜDER GRIMM zu Beginn ihrer Sammeltätigkeiten zwar noch nicht an ein kindliches Publikum, so wurden ihre Märchen trotzdem im Zuge der idyllischen Verniedlichung in die Kinderstuben abgedrängt.
Im Gegensatz zu den ‘Kinder- und Hausmärchen’ der Brüder GRIMM, die ihre Themen auf eine sehr phantasievolle und naive Art behandelten, entstand das feingeistige Kunstmärchen des 19. Jhd. Die wunderbaren Geschichten des Dänen HANS CHRISTIAN ANDERSEN (*1805 †1875)[30] und der deutschen Romantiker, wie z.B. LUDWIG TIECK (*1773 †1853)[31], deren Lektüre sich aber eher für ältere Kinder und Erwachsene eignet, gehören dazu.
Gemeinsam ist allen, daß mit der schriftlichen Fixierung des Märchens die Tradition der mündlichen Überlieferung, der ein Eingriff in das ‘lebendige Märchen’ derart, daß es im Inhalt den gesellschaftlichen Problemen und spekulativen Weltdeutungen seiner Zuhörer angepaßt werden konnte, stets möglich war, immer mehr in den Hintergrund tritt.
Während im 19. Jhd. die Frage nach dem Ursprung und der Sinndeutung im Vordergrund stand, zentrieren sich die Märchenforschungen im 20. Jhd. in verstärktem Maße um eine tiefenpsychologische Betrachtungsweise von Wesen und Eigenart des Märchens als eine besondere Ausdrucksform menschlichen Selbstverständnisses.
So widmete sich Anfang dieses Jahrhunderts auch die Psychologie den Volksmärchen: CARL GUSTAV JUNG (*1875 †1961)[32] und BRUNO BETTELHEIM (*1903 †1990)[33], ein Chicagoer Psychoanalytiker, um nur zwei bedeutende Wissenschaftler zu nennen, die sich in der Praxis mit verhaltensgestörten Kindern beschäftigten, interpretierten Märchen für therapeutische Zwecke. BETTELHEIM war davon überzeugt, daß Kinder Märchen in ihrer Entwicklung brauchen, um einen Sinn in ihrem Leben finden zu können. Auch die Psychoanalyse SIGMUND FREUDs (*1856 †1939)[34], als eine mögliche psychotherapeutische Behandlungsform, hat sich der Märchen in Form der ‘Amplifikation’ zur Traumwelt des Menschen angenommen. Seinen Beobachtungen verdanken wir u.a. die Entdeckung der symbolträchtigen Natur des Märchens.
Nach der Auffassung von JUNG[35] entstammen die Märchen den inneren Urbildern der Seele. Würden diese in Worte gestalteten seelischen Bilder aneinandergereiht, ergäben sich seltsame, wunderbare Geschichten: Märchen. Ebenso wie Mythos oder Legende könnten Märchen als ein Spiegel der archaischen Anteile der menschlichen Seele aufgefaßt werden, und diese durch jahrhundertelange Überlieferung entstandene Form sei von vielen Menschen aufgenommen und weitergegeben worden.[36] Das Volksmärchen als kollektiv wirksame Kulturform berichte mehr als nur individuelles Geschehen. Stamme dieses archetypische Volksgut, vom Kunstmärchen abgesehen, ja auch nicht aus der Phantasiewelt eines einzelnen Menschen, sondern gehöre zu den geistigen Bildungen eines Kulturraumes, an dem wahrscheinlich unendlich viele Menschen mitgewirkt haben, so daß auch einer geographisch eindeutig lokalisierbaren Entstehung somit zu widersprechen...