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Mein Vater
Februar 1991, die goldene Hochzeit meiner Eltern steht bevor, und ich mache mich daran, etwas Charakteristisches über die beiden aufs Papier zu bringen, das wir auf der Feier als Geschwister, Nichten und Neffen vortragen wollen. Doch diese Aufgabe gestaltet sich äußerst schwierig. Warum? Über meinen Vater könnte ich ein ganzes Buch voller Anekdoten verfassen, zu meiner Mutter fällt mir kaum etwas ein. Das typische Bild meiner Eltern. Im Vergleich zu meiner Mutter ist mein Vater so etwas wie ein schillernder Paradiesvogel – kontaktfreudig, lustig, unterhaltend, er fällt einfach auf.
Was seinen Beruf betrifft, könnte man ihn als fahrenden Bäcker oder als backenden Fahrer bezeichnen. Vor dem Krieg hat er Bäcker und Konditor gelernt. Später ist er als Kraftfahrer bei der Zulieferfirma Bomoro in Ronsdorf angestellt, backt aber in seiner Freizeit immer noch mit großer Leidenschaft. Doch er hat noch ein weiteres großes Interesse. Unsere Wohnung liegt über dem Gemeindesaal der Freien evangelischen Gemeinde, einer Freikirche mit überschaubarer Mitgliederzahl. Meine Eltern gehören nicht nur zu dieser Gemeinde, sondern erfüllen nebenbei auch den Posten als Hausmeisterehepaar.
Vor allen Dingen aber engagiert sich mein Vater als Leiter der Sonntagsschule (Kindergottesdienst) und führt regelmäßige Kinderfreizeiten in De Helle, einem Freizeitheim auf der Insel Schouwen-Duiveland in den Niederlanden durch. Davon ist unser Familienleben geprägt. Überhaupt sind Familie und Gemeinde aufs Engste miteinander verknüpft.
Eines Morgens, ich bin bereits erwachsen, erwache ich aus einem seltsamen Traum. Ich lag auf einem Tisch, um mich herum waren einige Menschen versammelt. Nur eine Frau konnte ich identifizieren. Es war Waltraud, die Schwägerin meines Bruders Peter. Sie sagte zu den Herumstehenden: »Es ist einfach so. Sie ist nun mal sein absoluter Liebling.« Im Traum wusste ich: Mit »sein« ist mein Vater gemeint. Ihre Bemerkung erfüllte mich einerseits mit Stolz und einem wunderbaren Glücksgefühl und andererseits mit Angst und Ekel. Als ich wach werde, sind diese Gefühle noch präsent. Ich frage mich allerdings, warum ich im Traum auf dem Tisch lag. Da wird mir bewusst: Ich war ein Baby.
Diese widersprüchlichen Gefühle im Blick auf meinen Vater durchziehen mein ganzes Leben. Sie entsprechen der Realität. Auch mein Vater hat in dieser Zerrissenheit gelebt, dessen bin ich mir heute sicher.
Als Kind bin ich fest davon überzeugt, den besten Vater der Welt zu haben. Er lacht gern und viel und macht Späße mit mir. Spaziergänge mit ihm entpuppen sich als wahre Abenteuerreisen. Wir wandern durch die Wälder, mein Vater sucht nach einer Abkürzung. Nicht selten müssen wir anschließend über Zäune klettern oder durchs Unterholz robben. Sind wir zu Fuß oder mit dem Auto unterwegs, lässt er es sich nicht nehmen, noch hier oder dort vorbeizuschauen. Er hat es nie eilig, kann sich ganz und gar im Hier und Jetzt verlieren. Ja, er hat sich bis ins hohe Alter etwas Kindliches bewahrt. Das habe ich immer an ihm geliebt. Er unternimmt gerne Ausflüge, am liebsten spontan und ungeplant. Seine Reiselust zeigt sich auch in der Gestaltung meiner Kindergeburtstage. Oft machen wir an diesem Tag einen Ausflug mit dem VW-Bus. Hierzu lade ich meine Freundinnen ein. Meistens weiß ich selbst vorher nicht, wohin es geht. Doch wir lieben diese Unternehmungen. Denn langweilig wird es mit meinem Vater nie. In der Adventszeit versteht er es, eine vorweihnachtliche Spannung aufzubauen, die sich bis zu unserer Bescherung am ersten Weihnachtstag immer mehr steigert. Einmal schenkt er mir ein wunderschönes, selbst geschreinertes Puppenhaus.
Als ich etwas größer bin, darf ich mit ihm in »seinem Lastkraftwagen« fahren. Was für ein erhabenes Gefühl, hoch oben im Lkw zu sitzen und sich wie eine Königin der Straße zu fühlen. Zu dieser Zeit steht ein Kraftfahrer noch nicht wie heute unter einem immensen Stress. So findet mein Vater immer noch Zeit, irgendwelche Umwege in Form kleiner Nebenstraßen zu erkunden, um dann in irgendeiner Gaststätte einzukehren. Mit einem »ausgewachsenen« Lkw ist das kein leichtes Unterfangen und manches Mal so gerade noch erlaubt. Ich liebe diese unkalkulierbaren Fahrten. Kommen wir dann zurück und fahren in die Garagenhalle der Firma Bomoro ein, sehe ich sie, alle in Reih und Glied geparkt, die großen Ungetüme. Sie sehen so gewaltig aus, und ich bin hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Angst. Noch heute überkommt mich ein eigenartiges Gefühl, wenn ich auf einem Rastplatz halte und die parkenden Trucks vor mir sehe.
Ja, ich bin Papis Mädchen. Wenn wir beispielsweise seinen Arbeitskollegen begegnen, stellt er mich voller Stolz als seine Tochter vor. Mir ist es eher peinlich, denn ich bin extrem schüchtern. Diese Schüchternheit ist nun wiederum meinem Vater peinlich. So gibt er mir immer wieder klare Verhaltensmaßregeln auf den Weg. Ich solle doch bitte die Kollegen anschauen, wenn ich sie begrüße, mit einem festen Händedruck und nicht so lasch und vor allem nicht so piepsig sprechen. Mein Vater liebt mich, ist stolz auf mich und schämt sich gleichzeitig für mich.
Einmal schämt er sich so sehr, dass er mich wütend nach Hause zerrt. Diese Geschichte habe ich so oft von ihm gehört, dass ich nicht einmal weiß, ob ich mich wirklich an das Ereignis erinnere oder ob es nur die Erzählungen sind. Ich muss noch sehr klein gewesen sein. In Ronsdorf gibt es am Stadtrand ein Feuerwerk. Mein Vater hält mich auf dem Arm. Das Geballere geht los und nimmt, begleitet von den »Ooohs« und »Aaahs« der Zuschauenden, seinen Lauf. Doch anstatt die bunte Farbenpracht zu bewundern, schreie ich, von panischer Angst erfüllt, wie am Spieß. Mein Vater schämt sich vor den Leuten. Er gibt sich alle Mühe, doch ich lasse mich nicht beruhigen. So verlässt er wutentbrannt mit mir den Platz. Seinen Erzählungen nach hat er mich nicht geschlagen, aber vor allen Umstehenden angeschrien und wohl sehr grob angefasst.
Ich weiß nicht, wie viele Male er sich später für sein Verhalten entschuldigt. Jedes Mal, wenn er dies tut, hat er Tränen in den Augen. Mir ist es unangenehm, dass er diese Ereignisse immer wieder aufwärmt, die doch für mich eher belanglos sind. Da gibt es weitaus Schlimmeres, was er mir angetan hat. Und vielleicht ist ja auch für ihn diese Geschichte in Wahrheit eine vordergründige Reue für eine größere Schuld, die ihn quält.
Schon in meiner Kindheit, aber erst recht während meiner Pubertät, lerne ich: Mein Vater liebt mich vor allem dann, wenn ich fröhlich bin. Mit meinen depressiven Phasen, unter denen ich schon als Kind leide, kann er nicht umgehen. Und besonders in meiner Pubertät wird unsere Beziehung zunehmend schwierig. Nicht selten sagt er mir, wenn er nicht weiterweiß: »Du bist ein komisches Mädchen.« Andererseits ist er immer gleich zur Stelle, wenn es »brennt«. Ja, er würde um die halbe Welt fahren, um mich von irgendwo abzuholen, da bin ich mir sicher, mir Zuflucht geben, ganz gleich, was auch immer ich auf dem Kerbholz hätte.
Eine Szene ist mir noch deutlich vor Augen: Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Gemeinsam mit meinem Vater, meinem Bruder Diethelm und meinem Cousin Hans-Hermann, »Hansel« genannt, sitze ich am Abendbrottisch. Meine Tischmanieren lassen in dieser Zeit wohl zu wünschen übrig. Jedenfalls zeigt sich mein Bruder Diethelm von meiner Art zu essen ziemlich genervt und gibt es mir deutlich zu verstehen. Ich reagiere sauer auf diese brüderliche Ermahnung: »Lass mich in Ruhe«, entgegne ich schnippisch. Darauf ergreift nun Hansel das Wort und stellt sich meinem Bruder zur Seite. »Ja, Ille, ich beobachte dich jetzt auch schon eine Weile und muss zugeben, Diethelm hat recht.« In diesem Augenblick springt mein Vater für mich in die Bresche: »Lasst mir mein Mädchen in Ruhe!«, herrscht er sie an.
Auch hier begegnet mir wieder dieses zwiespältige Gefühl: Einerseits bin ich stolz, dass er mich verteidigt. Andererseits empfinde ich vor allem bei dem Begriff »mein Mädchen« eine gewisse Scham, ja sogar Ekel. Es ist mir unangenehm, in dieser Art vorgeführt zu werden.
Vor einigen Jahren traf ich eine ehemalige Freundin wieder. Lange hatten wir uns mehr oder weniger aus den Augen verloren. Wie es so ist, sprechen wir über »alte Zeiten« und kommen dabei auch auf meine Geburtstagsfahrten und auf unsere Erlebnisse in der Sonntagsschule zu sprechen: »Dein Vater hat mir Jesus ins Herz gemalt«, erzählt sie mir. Ja, das kann ich nachvollziehen. Damals tut er es durch Geschichten, die er beispielsweise in der Sonntagsschule erzählt, aber vor allen Dingen durch den geradezu kindlichen Glauben, den er lebt. Jesus ist so real in seinem und in unserem Familienleben, dass es keinen Moment in meiner Kindheit gibt, in der ich nicht von seiner Gegenwart überzeugt bin. Ich bin quasi mit ihm groß geworden. Jesus, mein großer unsichtbarer Freund, der zu mir hält, mich nicht enttäuscht, allerdings traurig wird, wenn ich ihn enttäusche und mich nicht so verhalte, wie er es möchte. Trotzdem vergibt er mir und bleibt treu an meiner Seite. Er ist wirklich mein fester Halt. Gott als Vater oder Schöpfer spielt eher eine untergeordnete Rolle. Vom Heiligen Geist ist so gut wie gar nicht die Rede, zumindest nicht in meiner Erinnerung. Dieser Jesus fungiert im Leben meines Vaters aber auch manches Mal wie eine Schmerztablette oder wie ein Pflaster. Gibt es Schwierigkeiten, beispielsweise Spannungen, Meinungsverschiedenheiten, Trauer und so weiter, ist mein Vater immer...