1
Zwischen Trümmern und Twist
Winter 1946/47, Berlin-Neukölln, der Kalte Krieg ist angebrochen. Es herrscht noch immer Mangel, aber die Weichen sind dank Care-Paketen und unermüdlichem Fleiß auf Restaurierung gestellt. Der viele Schnee tut der Trümmerstadt gut, verdeckt er doch die noch frischen Narben der schlimmen Jahre und rückt die Gegenwart in ein freundlicheres Licht. Am 12. März 1947 mische ich mich ins Weltgeschehen ein – in ein recht beschauliches, kleines.
Meine Welt umfasst zunächst nur dreihundert Meter Mainzer Straße, zwischen Flughafen und Boddinstraße. Das Leben spielt sich je nach Alter und Geschlecht zwischen Arbeit, Haushalt, Schule und Spielplatz ab. Die Freuden des Daseins sind eher bescheidener Art. Für die Männer: Fußball, Skat und Kneipe. Für die Frauen: Familie, Stricken und Small-Talk mit der Nachbarin. Da viele Männer im Krieg gefallen sind, gibt es etliche Mütter, die ihre Sprösslinge unter schwierigsten Bedingungen durchbringen müssen. Viele Kinder leiden unter Kinderlähmung. Auch in unserem Haus wohnt ein Junge, Rudi Geist, den dieses böse Schicksal ereilt hat. Später wird er einer meiner besten Freunde, der durch absoluten Scharfsinn besticht, was mich sehr beeindruckt.
Bis 1949 sind meine Eltern und ich staatenlos, da mein Vater – ein Holländer – gezwungen wurde, während des Zweiten Weltkriegs für die deutsche Wehrmacht zu arbeiten. Dies und sein Nonkonformismus brachten ihm sechs Wochen Haft im Konzentrationslager Oranienburg ein. Nach dem Krieg bekam er für seine »Kollaboration« mit den Deutschen von der holländischen Regierung die Quittung. Durch das Absitzen einer einjährigen Haftstrafe gab man ihm die Chance, die holländische Staatsangehörigkeit »zurückzugewinnen«. 1953 nahm er die deutsche an.
Gerrit Meijer sen., mein 1919 geborener Vater, ist ein bisschen verrückt und springt schon mal im Sonntagsanzug für einen Kasten Bier in den Landwehrkanal. Auf jede Art von Ungerechtigkeit reagiert er allergisch und holt auch mal aus, selbst wenn es gar nicht seine Person betrifft. Seine Devise lautet »leben und leben lassen«. Wenn er in Stimmung ist, spielt er Mundharmonika. Und das sehr gut. Aber leider sagt ihm das Trinken noch mehr zu.
Meine Mutter Gertrud, geboren 1908, war in erster Ehe mit einem durchgeknallten Schneider verheiratet, der schon Anfang der 30er Jahre durch silberne Schuhe und extravagante Kleidung auffiel. Dieser Ehe entstammt mein 1930 geborener Bruder Lothar. Er hat so gar nichts von seinem Erzeuger, ist schüchtern und hat nie etwas mit Mädchen zu tun. Sein extrem junges Aussehen führt dazu, dass er, auf der Straße rauchend, noch mit zwanzig Jahren manchmal von Polizisten nach seinem Ausweis gefragt wird.
Meist zu Weihnachten spielt meine Mutter Klavier. Der eigentliche musikalische Crack in unserer Familie ist aber ohne Zweifel Onkel Walter. Violine, Klavier und Akkordeon beherrscht er gleichermaßen gut. Klassik ist seine Domäne. Musik ist also von Anfang an in diversen Spielarten in meiner Familie präsent.
Die Abende gehören dem Radio. Sehr beliebt sind die Schlager der Woche und die Krimiserie Es geschah in Berlin. Der Insulaner aber, eine kabarettistische Sendung, ist der absolute Straßenfeger. Gerade in der Zeit nach der Blockade, frei nach dem Motto »Westberlin bleibt amerikanisch«. Die Halbstarken wandeln im Stadtjargon das Wort »amerikanisch« in »kanisch« ab. Somit ist ein »kaner« zwar nicht gleich ein Amerikaner, aber ein cooler Typ, der dem des »Amis« – für uns höchste Stufe des Menschseins – ziemlich nahekommt.
Zu den populären Schlagern jener Zeit gehört das bemerkenswert infantile Tschiou, Tschiou, ein Lied, das sogar ich als Dreijähriger beherrsche und mit Inbrunst in der U-Bahn zum Besten gebe, zum Vergnügen der Fahrgäste und meiner Eltern.
Gerrit Meijer junior und senior, 1952
1953 tritt zum ersten Mal der sogenannte Ernst des Lebens, den ich nie verstanden habe und den ich auch nie verstehen werde, in Form der Einschulung an mich heran. Bei dieser Gelegenheit lerne ich nicht nur meinen richtigen Vornamen kennen – bisher rief man mich nur »Gerti« –, sondern mir werden auch noch meine fast bis zu den Schultern hängenden Locken auf allgemein gültiges Schulmaß gestutzt.
Zeitweise sind wir neunundvierzig Kinder in der Klasse. Unsere Klassenlehrerin macht eines Tages dadurch Furore, dass sie keinen Büstenhalter trägt, was unter unseren Müttern dauerhaft für Gesprächsstoff sorgt. Nur wenige Jahre zuvor hatte der offen zur Schau gestellte Busen von Hildegard Knef im Film Die Sünderin zu einer landesweiten Kontroverse geführt. Später setzt Marion Michael mit dem Film Liane, das Mädchen aus dem Urwald noch einen drauf. Bei uns Vorpubertären avanciert der Streifen zu Liane, das Mädchen mit dem Urwald. Wir wissen ja schließlich Bescheid, ficken und so. Dieses von Vermutungen und Gerüchten umwitterte Abenteuer habe ich bereits hinter mir. In einem dunklen Hausflur in der Hermannstraße präsentierten mein Kumpel Klaus und ich uns gegenseitig und ganz schnell die »Schniepel«. Danach setzte große Ernüchterung ein. Das sollte es nun sein? Deshalb musste man achtzehn Jahre alt sein, um in einem »Sittenfilm« Einlass zu bekommen? Dann doch lieber Comics und Groschenromane. Ein Privileg, das mir sehr zupass kommt, ist die Tatsache, dass mein Vater als Fernfahrer jede Menge Schokolade von A nach B befördert. Das führt dazu, dass Schokolade bei uns zu Hause wie Brot gegessen wird. Manchmal für jeden von uns drei Tafeln am Tag.
Für uns Kinder ist Berlin ein einziger Abenteuerspielplatz. Neukölln ist zwar nicht so zerstört wie andere Stadtteile, aber einzelne Ruinen finden sich auch in unserer Umgebung. In diesen Hinterlassenschaften des Krieges bestehen wir in unserer Fantasie so manche Abenteuer. Unter den Trümmern lässt sich noch das ein oder andere Exponat der Zeit des Nationalsozialismus finden. Mein Freund Talcher aber hat sich auf etwas ganz anderes spezialisiert: Er ist ein Experte im Auffinden der größten Kellerasseln, die das Geröll hergibt. Gesammelt in Flaschen schleppt er das Getier zum Entsetzen seiner Großmutter stets nach Hause.
Wenn wir uns nicht zwischen den Trümmern aufhalten, durchstreifen wir den Jahnpark. Dabei erfahre ich die neuesten Geschichten aus den Utopia-Heften. Zwingelberg am Zickenplatz, eigentlich Hohenstaufenplatz, verscherbelt nicht nur Science-Fiction-Hefte, Comics und Groschenromane, sondern auch Bückware wie nationalsozialistische Literatur – Waffen-SS im Einsatz, Der Heldenkampf um Narvik und Ähnliches –, Sittenromane und pornografische Fotos. Der Austausch zwischen Kunde und Ladenbesitzer läuft in konspirativer Form ab: Hinter vorgehaltener Hand erkundigt sich der Interessent nach neuer Ware. Im Falle der Pornofotos reicht Zwingelberg dem Geifernden einen Umschlag mit der aktuellen Sendung. Hat der Kunde seine Auswahl getroffen, muss er pro Foto fünfzig Pfennig abdrücken. Für das schwule Publikum hält Zwingelberg Körperkulturmagazine parat – Die Insel und Der Weg, die ganz offiziell gehandelt werden.
Ewig in Erinnerung bleibt mir der Winter 1954/55 – acht Wochen lang tagsüber minus fünfzehn und nachts minus fünfundzwanzig Grad. Die jahreszeitbedingten Spiele finden trotzdem statt. Morgens sind die Wohnungen völlig ausgekühlt. Nur die wenigsten haben eine Zentralheizung. Da heißt es jeden Tag nach dem Aufstehen erst mal ein bis zwei Stunden die Zähne zusammenbeißen, bis die Hütte warm ist.
Durch das neuerdings in den Haushalten aufkommende Taschengeld können sich die Teenager allerlei modische Accessoires leisten. Als da wären: Petticoats, Hula-Hoop-Reifen und Schallplatten. Mein Bruder, inzwischen Bauarbeiter, schafft sich eine Musiktruhe an. Außer dem Plattenspieler bietet diese auch genügend Platz, um fünfzig Schellackplatten geordnet unterzubringen. In null Komma nichts ist das Ding voll, so dass nach 1956 quasi keine Schallplatten mehr dazukommen. Der letzte Neuzugang ist eine Bill-Haley-Scheibe, wodurch der Bestand an Hörbarem auf vier Platten (1 x Glenn Miller, 1 x Lionel Hampton und 2 x Bill Haley) erweitert wird.
Sonntagnachmittag ist ohne Wenn und Aber Kinozeit! Die Jugendvorstellung beginnt um dreizehn Uhr dreißig, Eintritt: fünfzig Pfennig. Im Falle eines 3D-Filmes siebzig Pfennig. Was wir zu sehen bekommen, sind meist amerikanische Schundfilme, die im Cowboy-, Science-Fiction-, Kriegs- und Rittermilieu spielen. Erscheint der Held auf der Leinwand, geraten wir Kinder in Ekstase und brüllen: »Der Jute kommt, der Jute!« Bei den ersten Rock’n’Roll-Filmen gelten Regeln, die von den Halbstarken aufgestellt wurden. Bei Außer Rand und Band / Rock Around the Clock mit Bill Haley wird aus lauter Begeisterung das ein oder andere Kino zerlegt. Ich selbst erlebe eine relativ harmlose Vorstellung. Lediglich getreten und geschubst – immer uff die Kleenen –, finde ich einen Platz und wundere mich über das Yeeaaaaaahh-Gebrülle des sechzehn- bis zwanzigjährigen Publikums. Den ersten Elvis-Presley-Film Pulverdampf und heiße Lieder / Love Me Tender sehe ich zusammen mit meiner Mutter. Niemand rastet aus, da die musikalischen Einlagen völlig konventionell sind. Der zweite Film, Gold aus heißer Kehle / Loving You, haut da schon mehr rein. Als Presley eine Saite reißt, wird es offenkundig: Er ist der Härteste. Er sieht am besten aus. Er ist der »King«.
Das Statussymbol der Halbstarken jener Jahre ist das Moped: Kreidler oder Zündapp. Die...