EINLEITUNG
Das einzigartige und faszinierende Tagebuch von Iwan Michailowitsch Maiski, der von 1932 bis 1943 als sowjetischer Botschafter in London amtierte, ist unter den ganz wenigen Tagebüchern, die hohe Sowjetfunktionäre in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs führten, sicherlich das wichtigste.[1] Stalin gewöhnte es seinen Gefolgsleuten ab, Dinge zu Papier zu bringen, erlaubte nicht einmal das Anfertigen von Notizen bei Sitzungen im Kreml. Ein Tagebuch zu führen war «ein riskantes Unterfangen [in einer Zeit], da Leute in Todesangst Papiere und Archive verbrannten. Tagebücher waren besonders heikel und etwas, wonach die Polizei bei Razzien in den Wohnungen verdächtiger ‹Volksfeinde› gezielt suchte.»[2] Tatsächlich wurden auch die Tagebücher Maiskis schließlich vom Ministerium für Staatssicherheit zusammen mit seinem umfangreichen persönlichen Archiv beschlagnahmt, nachdem er im Februar 1953 (zwei Wochen vor Stalins Tod) unter dem Vorwurf der Spionage für Großbritannien verhaftet worden war.[3] Nach seiner Begnadigung 1955 führte Maiski einen langwierigen – letzten Endes vergeblichen – Kampf um die Rückgabe seines Archivs. Das Außenministerium lehnte seine Anträge und Bitten mit der Begründung ab, das Tagebuch enthalte «etliches amtliches Material». Man gewährte ihm lediglich ein Jahr lang eingeschränkten Zugriff auf das Tagebuch, als er seine Memoiren schrieb, jedoch keinen Zugang zu irgendwelchen anderen Unterlagen.[4] Sein Tagebuch blieb jahrzehntelang auch für die historische Forschung unzugänglich.
Glückliche Zufälle sind oft der Schlüssel zu wissenschaftlichen Entdeckungen. 1993 konnte ich unter der Ägide des israelischen und des sowjetischen Außenministeriums ein Forschungsprojekt starten, das seinen krönenden Abschluss in der gemeinsamen amtlichen Veröffentlichung von Dokumenten zu den israelisch-sowjetischen Beziehungen fand. Ich kann nur schwer in Worte fassen, welche Erregung mich überkam, als im Verlauf der Suche nach Belegen für die Mitwirkung Maiskis an dem Entschluss der Sowjets, den britischen Teilungsplan für Palästina von 1947 zu unterstützen,[5] der Archivar im russischen Außenministerium Maiskis voluminöses Tagebuch für das ereignisreiche Jahr 1941 zutage förderte. Bis dahin war noch nie ein persönliches Dokument von solcher thematischen Breite, solchem Wert und solchem Umfang, das neues Licht auf den Zweiten Weltkrieg und seine Entstehung werfen konnte, aus sowjetischen Archiven aufgetaucht. Schon beim ersten Durchblättern des Bandes bemerkte ich eine beeindruckende Unmittelbarkeit und Offenheit und war fasziniert von Maiskis analytischem Scharfsinn und seiner überragenden Prosa. Die Tagebücher umfassen mehr als 1800 Seiten – eine ebenso akribische wie offenherzige Chronik der Beobachtungen, Aktivitäten und Gespräche des quirligen sowjetischen Botschafters in London. Maiski tippte seine täglichen Eindrücke immer abends in die Maschine; es gibt aber auch handgeschriebene Einträge (die in der russischen Ausgabe bemerkenswerterweise fehlen); diese wurden oft in sicherer Entfernung von dem wachsamen «Auge Moskaus» in seinem Dienstzimmer in der Botschaft niedergeschrieben.
Das vollständige Tagebuch von Iwan Maiski veröffentlicht Yale University Press in drei reich mit Anmerkungen versehenen Bänden. Für die einbändige Ausgabe eine Auswahl zu treffen (sie enthält nur rund 25 Prozent des Tagebuchtextes und meiner Kommentare) war besonders schmerzhaft, weil die weggelassenen Passagen nicht weniger faszinierend und fesselnd sind als die beibehaltenen. Meine Grundregel war, den Wesensgehalt und den Fluss der Erzählung zu wahren. Auslassungen sind durch […] gekennzeichnet. Wo Maiski selbst Auslassungspunkte gesetzt hat, fehlen die eckigen Klammern. Maiski streute gelegentlich englische, französische oder deutsche Formulierungen ein. An Stellen, an denen dies bedeutungsvoll erscheint, wurden diese fremdsprachigen Elemente belassen und sind kursiviert. Wo Maiski ein Wort durch Unterstreichen hervorgehoben hat, wurde dies beibehalten.
Das Verfahren, das durchlaufen werden musste, um die Tagebücher deklassifiziert zu bekommen und sie in Russland veröffentlichen zu können (die rechtliche Voraussetzung für jedwede Veröffentlichung solcher Dokumente im Westen), war langwierig und mühselig. Die editorische Arbeit an der russischen Ausgabe teilten sich das Institut für Allgemeine Geschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung seines Direktors Alexander Oganowitsch Tschubarian und Vitali Jurewitsch Afiani, Direktor der Archive der Russischen Akademie der Wissenschaften, in denen Maiskis umfangreiches persönliches Archiv verwahrt wird. Ich bin beiden für ihre Kooperation zu großem Dank verpflichtet, muss allerdings sagen, dass das Ergebnis ihrer kompetenten Redaktionsarbeit nach wie vor eine gewisse amtliche Strenge atmet und in der Tendenz die etablierte russische Deutung der geschichtlichen Vorgänge aufrechterhält, die in den Zweiten Weltkrieg mündeten.
Die Kommentare und Anmerkungen in dem vorliegenden Band entsprechen nicht denen der russischen Ausgabe. Ursprünglich war ich versucht, meine editorischen Eingriffe auf das absolute Minimum zu beschränken und Maiski seine Geschichte selbst erzählen zu lassen. Dann jedoch wurde klar, dass angesichts der repressiven Bedingungen, unter denen Maiski sein Tagebuch führte, detaillierte Erläuterungen zum jeweiligen Kontext unerlässlich waren: Namentlich als die Zeiten rauer wurden und der Sturm an den Toren seiner Botschaft rüttelte, sah er sich gezwungen, viele Lücken in seiner ansonsten reichhaltigen und informativen Darstellung zu lassen. In der Sorge, das Tagebuch könne beschlagnahmt und der Nachwelt vorenthalten werden, bewahrte Maiski drei Exemplare davon auf. Die Kommentare beschränken sich daher keineswegs auf das bewährte Muster, dem Leser grundlegende Hilfswerkzeuge an die Hand zu geben. Darüber hinaus stelle ich den Tagebucheinträgen ausgewählte Teile der umfangreichen Korrespondenz aus Maiskis Privatarchiv (das ich in Moskau ausfindig machte) sowie aus seinem Telegrammverkehr mit dem russischen Außenministerium gegenüber, ferner seine Memoiren, die er nach seiner Verhaftung als Rechtfertigungsschrift abfasste, und eine Vielzahl anderer archivalischer Quellen. Ich hatte das Privileg, Zugang zu Maiskis persönlichen Fotoalben zu haben; einige der Bilder (von denen sich die meisten auf im Tagebuch geschilderte Vorgänge beziehen) sind hier abgedruckt. Oft übermitteln sie eine Botschaft, die tausend Wörter nicht formulieren könnten. Mein Dank gilt Dr. Alexej D. Voskressenski, einem Großneffen und Erben Maiskis, für seine Erlaubnis, Maiskis unglaublich persönlichen und zuweilen intimen Blick mit den Lesern zu teilen.
Eine Beispielseite aus dem Tagebuch – Aufzeichnungen über ein Treffen mit Anthony Eden, 10. Juni 1941
Das Tagebuch Iwan Maiskis ist kein typisches Sowjettagebuch, kein Instrument der «Selbstvervollkommnung», wie das Regime es als Mittel der politischen Schulung und Umerziehung propagierte. Es ist ein persönliches Tagebuch, das die sowjetischen Behörden seiner Zeit als «im Wesentlichen bürgerlich» abqualifiziert hätten, weil es vorwiegend um das eigene Ich kreist und nicht eine Übung in Selbstkritik ist mit dem Ziel, ein guter Kommunist zu werden. Es ist ein Zeugnis der beherrschenden Rolle, die persönliche Freundschaften, Konflikte und Rivalitäten in der frühsowjetischen Politik spielten – sie überlagerten alle Kontroversen über Politik und Ideologie. Es bestätigt, dass man die sowjetische Gesellschaft und Politik ohne den menschlichen Faktor nicht adäquat beschreiben kann. Maiski lässt keinen Zweifel an seinen kommunistischen Überzeugungen, versenkt sich aber zugleich voll und ganz in die Tradition des Tagebuchschreibens, wie von der westlichen Intelligenz praktiziert. Sein Tagebuch ist voller kluger Beobachtungen des politischen und gesellschaftlichen Geschehens in England, und es ist gewürzt mit Anekdoten und Klatsch. Im Einklang mit Churchill betont und rühmt überraschenderweise auch Maiski die Rolle «großer Männer» in der Geschichte. Er erkennt außerdem die Einzigartigkeit von Ereignissen an, anstatt sich der marxistischen Interpretation zu verschreiben, die den Einzelnen nur als untergeordnete Figur eines größeren sozialen Tableaus sieht. Weit davon entfernt, «den...