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Das Flüchtlingskind in Gottes Hand

Die Aktualität der Weihnachtsbotschaft

AutorRobert Vorholt, Thomas Söding
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl126 Seiten
ISBN9783843608114
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
So schön das Weihnachtsfest ist - die Geschichte ist ein Skandal. Wie kann es sein, dass eine hochschwangere Frau sich auf eine lange Reise machen muss? Wie kann es sein, dass ein König kleine Kinder ermorden lässt, um seine Macht zu sichern? Wie kann es sein, dass er eine Familie mit einem Säugling in die Flucht treibt? Dieser Skandal spielt sich auch heute tausendfach ab. Das Weihnachtsevangelium ist politischer denn je. Dieses Buch zeigt, in welchen historischen und theologischen Dimensionen die Weihnachtsgeschichte von Anfang an erzählt worden ist. Und es verdeutlicht anschaulich, worin ihre Frohe Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes besteht.

Dr. Thomas Söding, geb. 1956, ist Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Berater der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Dr. Robert Vorholt, geb. 1970, ist Professor für Neues Testament an der Universität Luzern.

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Leseprobe

Ein Flüchtlingskind als Gottessohn? – die theologische Debatte


Thomas Söding

Weihnachten ist das populärste Fest im christlichen Kalender. Aber es ist auch ein Fest, das viele Fragen aufwirft. „Geboren von der Jungfrau Maria“, heißt es mit dem Weihnachtsevangelium im Glaubensbekenntnis. Aber die Zustimmungsquoten zu diesem Artikel des Credo sind nicht sonderlich hoch. „Zu Betlehem geboren“, wird mit dem großen Dichter und Theologen Friedrich Spee gerne gesungen. Aber dass die Weihnachtsgeschichte eine Legende sei und Jesus in Wirklichkeit aus ­Nazaret stamme, wird wieder und wieder in Magazinen verbreitet.

Beide Problemanzeigen werfen Glaubensfragen auf. Es macht keinen Sinn, sie so zu diskutieren, als ob das Neue Testament, wenn es von der Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria erzählt, nicht den Glauben an den lebendigen Gott voraussetzte, der seinen Verheißungen treu bleibt. Sie sind mit Betlehem verbunden, der Stadt Davids (Mi 5,1 f.; Mt 2,1–12). Gott ist „kein Ding unmöglich“ (Lk 1,37; Gen 18,14), auch nicht die Entstehung eines Menschen durch den Heiligen Geist, ohne die männliche Zeugungskraft, an der in der Antike alles zu hängen scheint (weil man von der Verschmelzung von Samen und Eizelle nichts wusste). Die Evolution bringt keinen Messias hervor. Wenn die Weihnachtsbotschaft: „Heute ist euch der Retter geboren“, keine Illusion ist, sondern Wahrheit, kann derjenige, der für diese Gute Nachricht seinen Namen gibt, nur Gottes Sohn sein, von Anfang an. Das ist die Glaubensüberzeugung der Weihnachtsgeschichte. Und wenn diese Botschaft kein spontaner Einfall Gottes ist, der ein paar Menschen mitgeteilt wird, sondern Ausdruck seiner Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, auf die viele Menschen ihr Leben bauen, dann kann die große Liebesgeschichte, die von Jesus erzählt wird, nicht irgendwo beginnen, sondern nur in Betlehem, nämlich genau dort, wo der junge David von der Herde weggerufen und zum König von Israel gesalbt wurde – lange, bevor er den Thron bestiegen hat.

Die beiden Fragen nach der Jungfrau Maria und der Geburt Jesu in Betlehem sind wichtig. Aber sie müssen mit der konkreten Geschichte vermittelt werden, die von Matthäus und Lukas erzählt wird. Dann entstehen neue Fragen. Wenn der Sohn Gottes auf die Welt gekommen ist: Müsste das nicht in einem Palast geschehen sein? In einer der großen Metropolen? Stünde nicht zu erwarten, dass die Geburt der Beginn einer glänzenden Karriere wäre, die zu den großen Schauplätzen der Kultur und Wissenschaft, der Politik und Zeitgeschichte führen würde? Weshalb muss ein Jude der Retter der Welt sein? Weshalb spielt sich seine Geburt in Betlehem ab, weit entfernt von den Zentren der Macht? Weshalb wird Jesus „draußen vor der Tür“ geboren? Kann es sein, dass Gottes Sohn in einer Krippe liegt? Weshalb muss seine Familie mit ihm nach Ägypten fliehen? An diesen offenen Stellen zeigt sich das ganze Drama Jesu: der Geschichte eines Flüchtlingskindes, die sich als Gottesgeschichte mit allen Menschen entpuppt.

Jesus, der Ägypter


Die Herausforderung der Weihnachtsgeschichte ist früh erkannt worden. Für das junge Christentum ist typisch, dass sich christliche Theologen mit harter Kritik jüdischer, aber auch heidnischer Beobachter am Christentum auseinandersetzen. Sie mussten lernen, den Glauben dem Zweifel auszusetzen und die Wahrheit der Gottesbotschaft gegen philosophische und theologische Einwände zu verteidigen.

Zu den bekanntesten der kritischen Dialoge gehört ein Disput, den der große, wenngleich unglückliche Kirchenvater Origenes – er wirkte im ägyptischen Alexandria, der damaligen Kulturhauptstadt der Welt – mit Celsus geführt hat, einem Philosophen, auch aus Alexandria. Der kannte das Christentum recht gut, lehnte es aber in einer ganzen Serie von Schriften ab. Leider sind seine Originalbeiträge nicht erhalten geblieben, sondern nur die Wiedergaben durch den Theologen. Dennoch ist die Schrift des Origenes eine Fundgrube.

Im Dialog mit Celsus muss der Theologe auch dem Vorwurf begegnen, Jesus sei ein halber Ägypter gewesen (contra Celsum I 28.38.66).1 Der griechische Philosoph scheint in seinem Buch zustimmend eine jüdische Stimme referiert zu haben, die eine doppelte Anklage erhebt. Die eine Anschuldigung trifft den Erwachsenen: Jesus sei ein Armutsflüchtling gewesen, der sich am Nil als Tagelöhner habe durchschlagen müssen und sich nur mit Zaubereien über Wasser habe halten können, mit denen er später vergeblich in Israel Eindruck hätte schinden wollen (c. Cels. I 28.38; vgl. I 68). Die andere Kritik betrifft das Kind; sie ist formuliert, als ob Jesus selbst angeredet worden wäre:

Warum musstest du auch noch als kleines Kind nach Ägypten gebracht werden, damit du nicht getötet würdest? Ein Gott durfte doch wegen des Todes billigerweise keine Furcht haben (c. Cels. I 66).

Die Flucht nach Ägypten beweise, dass weder Jesus über göttliches Wissen verfügt noch Gott seine schützende Hand über die Familie gehalten hat, um drohendes Unheil abzuwenden; beides wäre aber unbedingt zu erwarten gewesen, wenn es sich tatsächlich um Messias gehandelt hätte, der in Lebensgefahr geraten ist. Wäre Jesus Gott, hätte er keine Furcht zu haben brauchen; es hätte ihm von vornherein nichts passieren können – und das hätte ihm klar sein müssen.

Origenes prüft die kritischen Punkte, die Celsus markiert, unter historischen und theologischen Gesichtspunkten – so, wie dies zu seiner Zeit Stand der Wissenschaft war. Er nennt die Geschichte, dass Jesus in Ägypten Zaubertricks erlernt habe, eine Erdichtung (c. Cels. I 38). Aber er bezweifelt so wenig wie Celsus, dass Jesus als Kind und als junger Mann nach Ägypten emigrieren musste. Die erste Flucht ist durch das Matthäus­evangelium gedeckt (Mt 2,13–15), die zweite scheint eine mündliche Überlieferung gewesen zu sein.

Theologisch macht Origenes gegen die Verdächtigung des Armutsemigranten die jesuanische Logik (Mk 10,31; Mt 19,30 par Lk 13,30; Mt 20,16; Mk 9,35 par Mk 10,44) geltend, dass die Letzten die Ersten, die Ersten aber die Letzten sein werden (c. Cels. I 29). Er geht aus der Defensive in die Offensive, wenn er zeigt, dass es nur diese Umkehrung aller Verhältnisse ist, die Hoffnung auf Erlösung machen kann (c. Cels. I 30), weil ja nicht weniger als die Auferstehung von den Toten verheißen ist.

Gegen den Einwand, es sei unmöglich, dass Gott sein Kind vernachlässigt habe, macht Origenes den christologischen Grundsatz geltend, dass Jesus wahrer Mensch geworden sei. Deshalb habe Gott ihn auf menschliche Weise davor bewahrt, vor der Zeit zu sterben, indem er Josef eine Traumvision habe zuteilwerden lassen, sodass seine Erzieher Fürsorge walten lassen konnten, an der es auch nicht gefehlt habe:

Er musste sich der Leitung seiner Erzieher überlassen, die der Weisung eines göttlichen Engels folgten (c. Cels. I 66).

Auf diese Weise verbindet sich die matthäische Weihnachtsgeschichte bei Origenes mit einer Christologie des wahren Menschseins Jesu. Ohne die Betonung, dass Gottes Sohn Mensch geworden und gewesen ist, könnte das Evangelium nicht die Gute Nachricht aller Menschen sein, die auf der Flucht sind. Origenes unterläuft die ebenso jüdische wie philosophische Kritik an Jesu fragwürdiger Ägypten-Biografie, indem er das Menschsein und das Gottsein Jesu nicht als Gegensatz, sondern als Einheit begreift, die sich in den politischen und sozialen Krisen der Zeit bewährt. Das hat auch eine ethische Dimension. Einerseits: Die Familie soll durch politische Katastrophen, wie sie Despoten auslösen, nicht auseinandergerissen werden. Andererseits: Die moralische Kultur einer Gesellschaft zeigt sich an ihrem Umgang mit Flüchtlingen wie in einem Brennglas. Die Weihnachtsgeschichte ist weit mehr als Ethik. Aber sie hat eine Moral, die von großer Reichweite ist, heute aktueller denn je.

Jesus ist Jude, wie Origenes festhält. Sein Judesein ist kein historischer Zufall, sondern Ausdruck einer theologischen Notwendigkeit, die in der Verheißungstreue Gottes selbst besteht. Er ist aber als Jude nicht an die Grenzen Israels gefesselt; er ist auch Ägypter. Denn auf dem Weg der
Demut macht er die Verheißung wahr, dass Gott alle Völker segnet.

Ägypten ist die große Nachbarin Israels: faszinierend und despotisch, verführerisch und verlockend, gefährlich und grandios. An Ägypten entscheidet sich in der Weihnachtsgeschichte, wie die Verwurzelung des Gotteswortes in Israel mit dem missionarischen Aufbruch in die Welt zusammengeht. Nach Origenes ist Jesus als Jude Ägypter geworden und als Ägypter Jude...

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