Hinführung
Über diesem Buch steht eine Grundwahrheit, die Hermann Hesse seinen weisen Siddhartha so ausdrücken lässt: »Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr. Nämlich so: eine Wahrheit lässt sich immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig ist. Einseitig ist alles, was mit Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb, alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit … Die Welt selbst aber, das Seiende um uns her und in uns innen, ist nie einseitig.«1
Ein Buch über die Tiefendimension des Jahreskreises
Menschen feiern gerne. In Ost und West, in Nord und Süd ist das allen Gesellschaften, Völkern, Kulturen und Generationen gemeinsam: Im Laufe des Jahreskreises gibt es eine große Fülle von Festen, auf die sich die allermeisten freuen und gerne mitfeiern, manche gehen auf sie mit gemischten Gefühlen zu. Dennoch sind sie ein Grundbestandteil unseres Lebens. Sie werden in die Jahresplanung mit hineingenommen, bestimmen zum Beispiel das Schuljahr, werden von Kindergärten gefeiert, in Seniorenkreisen und Altenheimen bedacht, und bestimmen die Urlaubsplanungen in Firmen, Betrieben und Behörden und weithin das Familienleben. Immer mehr Menschen suchen nach Riten und Ritualen, um die altüberkommenen Feste neu zu gestalten. Strömungen des so genannten New Age und viele neu entstehende Gruppen nehmen das auf. Esoterische Gemeinschaften und auch spirituelle Bewegungen oder gar Kulte greifen diese Offenheit der Menschen von heute auf. Wie spiegeln sich die alten Rituale in den neu entstehenden? Was wird dabei auf- und angenommen, was wird umgeformt und umgedeutet? Inwiefern könnten wir die altvertrauten Feste wieder beleben und neu fruchtbar werden lassen, um diesem Interesse entgegenzukommen?
Dieses Buch hat seit 1997 insgesamt 8 Auflagen erlebt2 und einen breiten Leser/innenkreis bewegt und bereichert. Heute nun liegt es in Ihren Händen, mit einem neuen Titel, in neuem Gewande, um – sorgsam neu bearbeitet und aktualisiert – noch einmal einer vielfältigen Leserschaft Impulse zu geben für ein erfüllendes und gelingendes Leben. Als ein Begleitbuch durchs Jahr zeigt es immer wieder neue Dimensionen auf, die uns stärken, aufbauen und weiterbringen.
Im Folgenden wird angeregt, Inhalte des Lebens und des Glaubens, wie sie von den Festen des Kirchenjahres im Jahreslauf repräsentiert werden, »ganzheitlich« erfahrbar und zugänglich zu machen. Es soll daher kein wissenschaftliches Buch sein im Sinne der Darstellung von akademischen Auseinandersetzungen, auch kein belehrendes Buch, sondern ein Buch, das eigenes entdeckendes Lernen ermöglicht. – Was heute zunehmend mehr zählt, ist der existenziell-existenziale Tiefen- und Praxisbezug. Immer wieder haben mir in meiner psychotherapeutischen Praxis, in der Seelsorge, bei Trainings, Vorträgen, Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen Menschen deutlich gemacht, dass so etwas fehlt: eine Hinführung zum Festkreis, zu seiner Tiefendimension, ein Materialbuch als Entdeckungshilfe, als Lebenshilfe für jede und jeden.
Denn in den Festen lebt etwas, was prägt, fest verwurzelt ist in der eigenen Seelentiefe, was nicht nur Lehre ist, nicht nur »Wort«. Tradition lebt hier in Farben, Formen, Bildern, Gerüchen und Geschmäckern, Gesängen und Musik, in Anschau-, Antast- und Mitmachbarem, im Tun und Sich-Beteiligen und Mit-Hineingenommensein in die Gemeinschaft, ob als Teilhaber/in oder Zuschauer/in eines Festes, einer Vorführung, eines Spieles oder einer Prozession, oder allein mit sich oder im kleinen, vertrauten Kreis.
Es könnte sein, dass wir hier auch in ökumenischer Weise voneinander zu lernen hätten: evangelische, katholische und orthodoxe Christen, vom Reichtum des in verschiedenen Gegenden von Menschen praktizierten Glaubens- und Erlebensgutes.
Das ist das Besondere am Jahreskreis: Er spricht alle an, wirkt sich auf jeden aus, wird von jedem erlebt – mehr oder weniger bewusst. Vielleicht kann ein vertieftes Erleben seiner verschiedenen Feste, Stadien und Etappen das erreichen, worum sich so viele mühen: Die Strömungen und Herausforderungen unserer Welt mit ihrem Suchen und Fragen nach Spiritualität und einer »neuen Zeit« anzunehmen, grundlegend anzuerkennen und zu verstehen und mit den ursprünglichen, lebendigen und lebensschaffenden Intentionen des christlichen Festkreises zu verbinden.
Und die multikulturelle Perspektive?
Mag sein, dass manche von Ihnen beim Lesen erwarten, eine integrative Zusammenschau von Festen und Feiern verschiedener Kulturen zu finden in ihrer Wirkung auf das Leben und die Kultur. Fakt ist: Viele Menschen heutzutage wissen gar nicht mehr, was Advent bedeutet, wozu das Drei-Königs- oder Epiphaniasfest gut sein soll – außer einem Feiertag in manchen (Bundes-)Ländern. Himmel- oder Auffahrt ist für manche nur der Vatertag – als Pendant zum Muttertag. An Pfingsten ist vielen nur wichtig, dass es dabei einen freien Montag gibt oder gar Ferien – wie bei Weihnachten und Ostern.
Und heutzutage kennen zwar viele Halloween und seine Bräuche, aber dass dahinter früher das Reformations- und das Allerheiligenfest standen, ursprünglich ja sogar ein keltischer Feiertag, ist vielen unbekannt. Und statt des Martins- oder Lichterfestes am 10. November feiern manche Kindertageseinrichtungen heute sogar ein »Sonnen-, Mond- und Sternenfest« …, um nur einige Beispiele zu nennen.
Man könnte zwar bei Festen und Feiern neben der abendländisch-christlichen Kultur tatsächlich auch noch die Fülle von Traditionen anderer Religionen und Völker einbeziehen, die heute mit und bei uns leben: jüdische, islamische, buddhistische oder hinduistische Feste, Gedenktage und Bräuche. Mir geht es aber in diesem Buch entscheidend darum, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, etwas davon erfahren und erspüren, was die traditionellen Feste im deutschsprachigen Raum, die das Jahr durchziehen und auch strukturieren, für Ihr konkretes Leben bedeuten. Dass Sie auf dem Weg durch dieses Buch erleben: Das sind nicht nur Chiffren und alte, abgelegte Worthülsen, sondern das ist Hilfe zur Lebensbewältigung, Begleitung für gelingendes Leben, Ermöglichung einer Vertiefung, eines neuen Verständnisses und Lebens- und Praxisvollzuges.
Was Ihnen früher vielleicht nur vage bekannt war, wozu wir im Jahreslauf ab und zu innehalten, Pause machen, den Normalablauf unterbrechen, Fest- und Feiertage genießen: Was das bedeutet, wozu es gut ist, inwiefern es heilsam ist: das will dieses Buch eröffnen und vermitteln. So können Sie die Schätze unserer eigenen Kultur wieder erkennen, neu entdecken, verstehen und heben. Damit wir nicht etwa Angst vor dem Fremden haben oder das Fremde ablehnen müssen aus Unkenntnis der eigenen Werte …
»Bedienungsanleitung«
Dieses Buch soll demnach verschiedenen Zielen, Erwartungen und Zwecken dienen: Als Adressaten stelle ich mir einerseits Menschen vor, die mit den christlichen Festen oder den Festen im Jahreskreis gar nichts (mehr) verbinden können, die diesen Inhalten fernstehen; andererseits jene, die im Altgewohnten, obwohl sie es kennen, nach lebendigen Erfahrungen suchen, die den ganzen Menschen ansprechen. Menschen also, die bewusst im Schatz des christlichen Kulturkreises suchen.
Und für all jene, denen die christlichen Feste und Traditionen unserer Kultur bisher nur wenig zu sagen haben und eher fremd sind, kann es – so hat es die Erfahrung der letzten 20 Jahre mit dem Buch und seiner Wirkung gezeigt – ganz neue Zugänge schaffen, Perspektiven eröffnen, heilsame Dimensionen erschließen und fürs Leben hilfreiche Weisheiten und Erfahrungen vermitteln. Ganz konkret, lebensnah und praxisorientiert begleitet es Sie hin zu größerer Tiefe, Lebensfreude und einer wirksamen Bewusstseinserweiterung und neuen Balance.
Wenn Sie das Buch als Entdeckungs- und Arbeitsbuch für sich selber verwenden, so ist es sicher ratsam, es nicht auf einmal zu lesen, sondern »portionenweise«. Sie könnten auch den Weg eines Jahres ganz bewusst damit verfolgen, die jeweiligen Abschnitte, die der Jahreszeit entsprechen, intensiver er- und durchleben, sich von den Gedanken und Impulsen zu eigenen Ideen und Erfahrungen anregen lassen. Das Buch will Zugänge eröffnen zu neuen Lebens-, Erfahrungs- und Wirklichkeitsräumen. Das Geschriebene erhebt keineswegs den Anspruch, dass »es so sei« – nur so, und nicht anders –, sondern möchte einladen, sich den Wirklichkeiten zu stellen, die mit den Festen gemeint und ausgedrückt werden. Denn die Wirklichkeit und die Wahrheit sind ja immer noch viel größer als das, was mir mit Worten, Gedanken und Interpretationen auszudrücken möglich ist. Und diese Gedanken sollen nicht Ihrer eigenen Begegnung mit dem »ganz Anderen« im Wege stehen, der oder das hinter dem Gemeinten steht und in den Festen und auch sonst in unserem Leben wirkt.
Manche der angebotenen Überlegungen, Impulse und Rituale zur Vertiefung sind zunächst notwendigerweise sehr persönlich auf Einzelne bezogen, ganz individualisierend. Denn auch jedes Weitergeben braucht erst die eigene Erfahrung, Berührtheit und Betroffenheit. »In Dir muss brennen, was Du in anderen entzünden willst«, sagte Augustinus. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung für die sinnvolle Verwendung für andere. Denn solche meditativ-inneren Zugänge können gut ins Gespräch hinein...