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E-Book

Nonna stirbt

Die Geschichte einer Lebenswende

AutorFreddy Derwahl
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451809095
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Diese Geschichte erzählt den letzten Lebensabschnitt einer schönen, starken Frau: Nonna. Ihr an Alzheimer erkrankter Mann hat sich vor einen Zug gestürzt. Nach dem Freitod zieht sich Nonna allein in die Provence zurück. Ein Briefkontakt mit dem Freund ihres Sohnes hilft ihr, diese Zeit zu bestehen. Mehr noch, die Verbindung der reifen Frau mit dem jungen Mann gerät zu einer Gratwanderung zwischen Freundschaft und Liebe. Dann aber erkrankt Nonna unheilbar an Krebs. Doch ist es kein Scheideweg. Das, was die beiden verbindet, und sie selbst nicht auszusprechen wagen, erweist sich als große Kraft. Ohne das Sterben zu verharmlosen, leuchtet im angekündigten Abschied das Eigentliche ihrer Verbindung und das Ziel einer langen religiösen Suche.

Freddy Derwahl, geb. 1946, belgischer Journalist und Filmemacher, PEN-Mitglied, Sachbuch- und Romanautor. Er schrieb das Doppelporträt von Joseph Ratzinger und Hans Küng ('Der mit dem Alpha kam und der mit dem Fahrrad kam'). Freddy Derwahl lebt in Eupen.

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Leseprobe
1. Kapitel
Ihr Garten
Ihr Garten war eine Insel. Abgeschirmt von Mauern aus Bruchstein lag sie mitten in der Unterstadt von Eupen. Ein hohes, meist geschlossenes Tor führte zur Straße, doch brach kaum Verkehrslärm herein. Wer nicht wusste, was sich dort befand, vermutete eine Residenz diskreter Bourgeoisie. Ein Patrizierhaus von Textilindustriellen mit der Jahreszahl 1729 erhob sich über die Dächer, drei breite Etagen, im Giebel das Familienwappen. Da war etwas Geheimnisvolles, Begehrenswertes, ich habe es auch immer so empfunden. Versteckt dahinter ein Schattenreich unter den Kronen mächtiger Bäume. Ahorn, Rotbuchen, Linden und Zypressen; eine Trauerweide hatte der letzte Herbststurm umgerissen. So brach mehr Licht ein, es fiel auf die von ihr liebevoll gepflegten Rosenbeete, Vorzugsfarbe Florentiner Rot, sanfte Übergänge ins Dunkle. Stundenlang schnitt und zupfte sie darin, doch Farn und wilden Margeriten ihre kleine Freiheit lassend. Das war ihr Anspruch, der Garten sollte ganz ihre Handschrift tragen. Sie nannte ihn »zarte Wildnis« und lächelte dabei. Ich habe dieses Lächeln sofort sehr geliebt. Es schloss alles ein. 
Der Garten ging über zwei Ebenen. An den oberen Grenzen standen die Kiefern und Fichten so breit, dass er an einen Park erinnerte. Vielversprechend, verlockend, als könne man hindurch und hinaus wandern. Neben den Blausteintreppen, die auf die höheren Bereiche führten, hatte sie Ginster, Mohn und Lilien gepflanzt. Die Malven gewährten freies Geleit. Blühten sie auf, war gewiss, dass endlich der Sommer gekommen war, ihre Zeit. Dann begann über den Moospfaden das Licht zu tanzen, abwechselnd helles und dunkles Grün. Die Spinngewebe wie Silberfäden, die Blumen mit diskret zaubernder Macht. Viel lockere Harmonie, sensible Handanlegung, viel Zufall und ihm doch nicht alles überlassend.
Die Rasen wurden nie ganz gemäht. Immer blieb da und dort ein Teil unberührt, wo bald schon Löwenzahn, Butterblumen und Wiesenschaum aus dem Boden schossen. Das war ihre Art der Kompromisse, sie wollte keine englische Gartenkultur, keine puritanischen Quadrate. Das kniehohe Gras erinnerte sie an ihre bayerische Kindheit, an ein ländliches Reich mit Weiden, die bis an die Ufer des Chiemsees reichten, an Obstbäume, Geruch von Heu und Feldprozessionen. Es geschah ohne eine Spur Wehmut, in strahlender Gelassenheit. Ich habe immer bewundert, mit welcher Unbekümmertheit sie durch die Jahreszeiten ihres Lebens schritt. Das kleine Mädchen, das sie einmal war, lächelt auf den Fotos schon früh mit einem Hauch fraulichen Charmes; älter werdend staunte sie manchmal wie ein von Freude überraschtes Kind. Sah man sie zwischen den Stauden mit bloßen Händen die Erde verteilen, geschah es zugleich konzentriert und verspielt. Auch das war sie: dunkelgrüne Schürze und ein Strohhut mit breiter Krempe, bäuerlich und doch immer sehr Frau.
Das mit dem Gemüse hat sie Max überlassen. War er ihr Freund, ihr Geliebter, ihr Partner? Beide haben das jahrelang verschwiegen, kam das Gespräch darauf, flachsten sie vergnügt und nannten sich »Brüderchen und Schwesterchen«. Der Begriff »Josefsehe« war unpassend; während er schmunzelnd abwinkte, protestierte sie sogleich im Namen der Sinnlichkeit. Als keusche Susanna war sie tatsächlich nicht vorstellbar. Ihre Verwandten aus erster Ehe nannten sie verächtlich »das Weib«. Wenn Max jedoch oben am Rande der Nadelhölzer zwischen Bohnen und Möhren das Unkraut jäte, ließ sie ihn schaffen, als sei er ihr Gärtnergehilfe. Für Salat, Zwiebeln, Knoblauch oder Kräuter hegte sie noch mediterrane Sympathie, aber Porree und alle Kohlarten hielt sie für »schreckliches Wintergemüse«. Sollte er sich ruhig seine Bio-Illusionen bewahren, sie verband mit Gartenkunst nichts anderes als eine Spielart der Absichtslosigkeit. So stellte sie sich den Garten Eden vor: alles sollte wachsen, aber auch wuchern, es bahnte sich seinen Weg in eine selige Unordnung. Keine Frucht, die in diesem Paradies verboten war.
Wie bei allem, was sie tat oder geschehen ließ, waltete in der Arglosigkeit eine etwas philosophische Neigung. Nicht im Sinne rationaler Theorien, viel eher als schöpferische Signale, die sie subtil witterte und in vollen Zügen genoss. Dazu kannte sie Zitate von Plato bis Heidegger, die sie seit ihrer Zeit als Primanerin bei den Ehrwürdigen Schwestern auf der Fraueninsel in ein blassblaues Notizbuch eingetragen hatte. Sehr sparsam ging sie damit um, keine Bildungsnachweise, auch keine Lebenshilfe. Meist Zufälle, manchmal Fügungen. Ciceros Weisheit, ein Gärtchen und eine Bibliothek bedeuteten vollkommenes Glück, war mit einem Rotstift unterstrichen. Über den späten Sommer kannte sie Rilke-Gedichte. Ernst Jüngers Gartenliebe war ansteckend. Sie suchte diese Worte nicht, sie fielen ihr zu. Davon gab es inzwischen zwei Dutzend Hefte, voll gespickt mit Perlen aus allen Jahrhunderten der Geistesgeschichte, die sie als »poetische Aufklärung« sammelte. Gemeint war eine sonderbare Mischung aus Melancholie und Sachlichkeit. Das blieb immer sehr wichtig: Poesie als ganz kurz gelungener Durchblick auf die Schönheit. Kleine Stundenbücher, die nichts beweisen, sondern nur andeuten sollten. Alles wollte sie nicht wissen.
Es hat eine Zeit gegeben, da haben wir über den magischen Begriff »Schönheit« gestritten. Die tieferen Schichten des Schönen sollten ebenso darin enthalten sein wie ihr spannendes Vorspiel und das weit darüber hinaus Führende. Bis zu den Ursprüngen der Romantik waren es manchmal nur noch einige Schritte, doch beim Abdriften ins metaphysische Raunen witterte sie die Gefahr, das schlichte Schöne zu zelebrieren und hüllte sich in Schweigen. Sie suchte den »nicht-geographischen Ort der Schönheit«. Erst sehr spät, kurioserweise in einem Wartezimmer vor ihrem ersten Klinikaufenthalt, schlug sie vor, uns doch, für den Inbegriff von Schönheit, auf »Herrlichkeit« zu einigen, das Wort verspreche »noch mehr Teilnahme«.
Ohne Sonne konnte sie nicht leben. Erst im Mai, »nach den Eisheiligen«, kehrte sie in die kleine ostbelgische Grenzstadt zurück. Die triste Jahreszeit, die für sie spätestens in der zweiten Oktoberhälfte begann, hatte sie mit Max in ihrem Winterquartier in der Provence verbracht. Licht war alles. Dazu bedurfte es nur noch einer Spur Einsamkeit. Sie schafften es lässig, zu zweit allein zu sein. Der Touristenrummel in den Gässchen von St. Paul-de-Vence war ihnen ebenso zuwider wie das Gedränge auf unseren Weihnachtsmärkten. So pendelten sie in den toten Jahreszeiten zwischen den Seealpen und den Wäldern der Ardennen hin und her. Es geschah wie auf Pilgerfahrten, ohne jede Eile, etwas kontemplativ und in der Vorfreude auf eine neue Saison. Auch das hat sie später eingesehen, dass es vielleicht ein Fehler war, sich von der Sonne nicht trennen und den Sommer nicht aufgeben zu wollen. Sie bedauerte, versucht zu haben, den ewigen Kreislauf mit ihrer schwachen Hand anzuhalten. Schon sehr krank, hielt sie sogar das Sterben für »Mitarbeit an der Schöpfung«. Der geliebte Garten führe in eine geheimnisvolle Tiefe.
Das Wort »Heimat« hat sie nie benutzt, heimwärts zu fahren war ihr fremd. Den Begriff zu verinnerlichen kam ihr nicht in den Sinn, keine Innerlichkeit verwurzelten Lebens. Landesgrenzen nahm sie nicht wahr. Der Wechsel von der deutschen in die französische Sprache geschah zwischen Max und ihr fließend. Es galt auch für die Bücher. Sie vertiefte sich in Briefe von Hermann Hesse an seine dritte Ehefrau Ninon. Es war, als gewähre ihr der Meister intime Einblicke, wie einer heimlichen Geliebten. Noch lieber wäre sie seine »Nebenfrau« gewesen, es sei weniger fragil als Fast-Ehefrau, sie suche weder schnelle Abenteuer noch Eroberungen, sondern »Erfüllung«. Max las stundenlang Simenon-Romane, »lauter Lustmorde«, grinste er. Im volkstümlichen Lütticher Viertel jenseits der Maas führte er sie zu den Tatorten und sagte, wie nach einer Entdeckung: »An dieser Kirchentüre erhängte sich Joseph Kleine. Drüben wartete eine farbige Prostituierte. Dort oben nahmen sie Drogen.« Aber, ob Provence oder belgische Provinz, zuhause waren sie nur bei sich selbst: ein weites Land.
Unübersehbar jedoch, dass Südfrankreich ihre Zuneigung galt. Ihr Häuschen in Lourmarin zu verlassen, fiel ihr jedes Jahr schwerer. Der Rückkehr dorthin fieberte sie nach den ersten Herbststürmen entgegen. Langres, das Tor zur Bourgogne, war nicht nur Wetter-und Wasserscheide, ab hier witterte sie schon den Süden. Die Namen der Weinorte Meursault oder Chardonnay hatten einen verlockenden Klang. Zwischen Beaune und Cluny schlängelte sich »die Straße der romanischen Kirchen«. Massiv und bucklig standen sie inmitten der kleinen Friedhöfe. Sie schwärmte im Halbdunkel von der plötzlichen Kühle, dem abgenutzten Glockenstrang und den ausgetretenen Steinen. Ringsum in den Dörfern war bereits eine andere Architektur, der Sonne zugewandt, flachere Dächer, rote Ziegel, Hochterrassen mit getrockneten Blumen und Gerät für den Kräutergarten.
Abseits von der Autobahn steuerten sie den Landgasthof von Cormatin an, das Tagesmenu 16 Francs, ein Viertel Roter inklusive. Max begann mit der beleibten Wirtin über die Gewürzmischung für Perlhuhn in Macon-Soße zu...
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